• Titelbild
• Editorial
• Vortrag und Lesung: Angry Workers
• Buchvorstellung: Dirk Braunstein / Christoph Hesse - Schiffbruch beim Spagat: Wirres aus Geist und Gesellschaft 1
• Buchvorstellung: Vladimir Ze'ev Jabotinsky - Die jüdische Kriegsfront
• Buchvorstellung mit Protagonist:innen und Redaktion: Auf dem Klo habe ich noch nie einen Schwan gesehen – Erinnerungen aus 30 Jahren Conne Island
• »Herumtreiberinnen« von Bettina Wilpert
• doku: Kritische Theorie, Psychoanalyse und die Geschlechterbeziehung
• doku: Die Tyrannei der unstrukturierten Gruppen
• das letzte: Ein brauner Schatten über Connewitz
Ein Beitrag zu Organisationsdebatten der feministischen Bewegung aus den USA in den 70er-Jahren. Die selben Fragen stellen sich heute noch und gerade autonome Gruppen sollten sich den Text zu Gemüte führen...
In den Jahren, in denen die Frauenbefreiungsbewegung Form angenommen hat, wurde mit großem Nachdruck die sogenannte führungslose, unstrukturierte Gruppe als die wesentliche - wenn nicht einzige - Organisationsform der Bewegung herausgestellt. Diese Vorstellung ergab sich als natürliche Reaktion gegen die überorganisierte Gesellschaft, in der wir uns fanden, gegen die unvermeidliche Kontrolle, die damit anderen über unser Leben gegeben war und gegen den fortwährenden Elitismus der Linken und ähnlicher Gruppen, die vermeintlich gegen diese Überorganisiertheit kämpften. Die Vorstellung der Strukturlosigkeit hat jedoch von einer heilsamen Abwehr solcher Tendenzen selbst zu einer Dogmatisierung geführt. So wenig diese Vorstellung überprüft worden ist, so häufig wurde davon gesprochen, und sie ist zu einem wesentlichen und unbezweifelten Bestandteil der Ideologie von ›women's liberation‹ geworden. Als die Bewegung noch am Anfang ihrer Entwicklung stand, machte das nicht viel aus. Sie definierte schon früh ihr Hauptziel und ihre wesentliche Methode der Bewusstseinsbildung (consciousness raising) und die ›unstrukturierte‹ Gruppe war ein hervorragendes Mittel zu diesem Zweck. Die Lockerheit und Zwanglosigkeit in ihr ermutigte zur Beteiligung an der Diskussion und die solidarische Atmosphäre verhalf zu persönlicher Einsicht und einem Selbstverständnis. Wenn bei diesen Gruppen niemals mehr als ein Selbstverständnis der einzelnen herauskam, dann machte das nicht viel aus, denn ihr Zweck ging im Grunde genommen nicht darüber hinaus.
Die grundlegenden Probleme erschienen erst dann, als einzelne Gruppen die Vorzüge des consciousness-raising erschöpft hatten und sich entschieden, etwas spezifischeres zu tun. An diesem Punkt kamen sie gewöhnlich ins Schwimmen, denn die meisten Gruppen waren nicht gewillt, mit ihren Zwecken auch ihre Struktur zu ändern. Die Frauen hatten die Idee der ›Strukturlosigkeit‹ völlig angenommen, ohne sich aber über die Grenzen ihres Nutzens im klaren zu sein. Aus dem blinden Glauben, dass alles andere nichts als unterdrückend sein könnte, wollten die Leute die unstrukturierte Gruppe und die informelle Zusammenkunft für Zwecke zu nutzen versuchen, für die sie sich nicht eigneten. Wenn eine Bewegung über die elementaren Entwicklungsstufen hinauswächst, dann wird sie sich von einigen Vorurteilen über Organisation und Struktur befreien müssen. Weder das eine noch das andere ist seinem Wesen nach schlecht. Sie können oft missbraucht werden, aber sie deshalb von der Hand zu weisen, bedeutet, dass wir uns selbst die für eine weitere Entwicklung erforderlichen Werkzeuge versagen. Wir müssen kapieren, warum ›Strukturlosigkeit‹ nicht funktioniert.
Formelle und informelle Strukturen
Im Gegensatz zu dem, was wir glauben mögen, gibt es so etwas wie eine strukturlose Gruppe überhaupt nicht. Jede Gruppe von Leuten, welcher Art auch immer, die für eine Zeitspanne und zu einem Zweck zusammenkommt, wird sich unvermeidlich in irgendeiner Weise strukturieren. Die Struktur mag flexibel sein; sie mag sich mit der Zeit verändern; sie mag Pflichten, Macht und Mittel gleich oder ungleich unter den Mitgliedern der Gruppe verteilen. Aber sie wird ohne Berücksichtigung der Fähigkeiten, Persönlichkeit oder Absichten der beteiligten Leute ihre Form erhalten. Die einfache Tatsache, dass wir Individuen mit verschiedenen Talenten, Voraussetzungen und Hintergründen sind, macht das unvermeidlich. Nur wenn wir uns weigerten, uns überhaupt auf irgendeiner Basis zu einander zu verhalten oder zu interagieren - und das widerspricht der Natur einer menschlichen Gruppe könnten wir annäherungsweise Strukturlosigkeit erreichen.
Das Streben nach einer strukturlosen Gruppe ist also ebenso nützlich und ebenso trügerisch, wie das nach einem ›objektiven‹ Zeitungsbericht, nach ›wertfreier‹ Sozialwissenschaft oder einer ›wertfreien‹ Ökonomie. Eine ›Laissez-Faire‹-Gruppe ist ungefähr so realistisch wie eine ›Laissez-Faire‹-Gesellschaft; die Idee wird zu einem Nebelschleier, hinter dem die Starken oder Glücklichen ungefragt ihre Vorherrschaft über andere etablieren. Diese Vorherrschaft kann mit großer Leichtigkeit errichtet werden, denn die Idee der „Strukturlosigkeit‹ verhindert nur die Bildung einer formalen Struktur, nicht die einer informellen. In ähnlicher Weise hinderte die ›Laissez-Faire‹-Philosophie die ökonomisch Mächtigen keineswegs daran, Löhne, Preise und Distribution der Güter zu kontrollieren. Sie hinderte bloß die Regierung daran. Ebenso wird die Strukturlosigkeit zu einem Mittel, Macht auszuüben; und sie wird in der Frauenbewegung gewöhnlich am stärksten von denen verteidigt, die die Mächtigsten sind (ob sie sich nun ihrer Macht bewusst sind oder nicht). Solange die Struktur einer Gruppe informell ist, kennen nur einige wenige die Regeln, nach denen Entscheidungen gefällt werden, und das Bewusstsein von Macht ist beschränkt auf diejenigen, die die Regeln kennen. Diejenigen, die die Regeln nicht kennen und für die Initiation nicht auserwählt sind, müssen verwirrt zurückbleiben oder unter der Wahnvorstellung leiden, dass irgendetwas geschieht, von dem sie irgendwie nichts wissen.
Für jeden, der zu einer Gruppe gehört und an ihren Aktivitäten teilhat, muss die Struktur explizit sein, nicht implizit. Die Regeln, nach denen Entscheidungen gefällt werden, müssen offen und für jedermann anwendbar sein - und das geht nur, wenn sie formalisiert sind. Damit ist nicht gesagt, dass die Formalisierung der Struktur einer Gruppe die informelle Struktur zerstört. Gewöhnlich tut sie's nicht. Aber sie nimmt der informellen Struktur ein Stück ihrer vorherrschenden Kontrolle und schafft einige Mittel zu ihrer Bekämpfung, wenn die beteiligten Leute sich nicht wenigstens den Bedürfnissen und Zielen der gesamten Gruppe gegenüber verantwortlich verhalten. ›Strukturlosigkeit‹ ist nicht organisierbar. Wir können nicht beschließen, eine strukturierte oder eine unstrukturierte Gruppe zu haben, sondern nur, ob wir eine formal strukturierte wollen. Daher werde ich dieses Wort nicht länger benutzen, außer um die Idee, die es repräsentiert, zu bezeichnen. Unstrukturiert wird sich auf solche Gruppen beziehen, die sich nicht bewusst eine bestimmte Struktur gegeben haben. Strukturiert bezieht sich auf die, die das gemacht haben. Eine strukturierte Gruppe hat immer eine formale Struktur und mag ebenso eine informelle oder verdeckte haben. Diese informelle Struktur ist es, die - insbesondere in unstrukturierten Gruppen - die Basis für Eliten schafft.
Die Natur des Elitismus
›Elitist‹ ist vielleicht das am meisten missbrauchte Wort in der Frauenbefreiungsbewegung. Es wird ebenso häufig und aus denselben Gründen benützt wie ›pinko‹ (Roter, Kommunist) in den fünfziger Jahren. Selten wird es korrekt angewandt. Innerhalb der Bewegung wird es gewöhnlich auf Individuen bezogen, obwohl die persönlichen Eigenschaften und Aktivitäten derer, auf die es gemünzt wird, beträchtlich verschieden sein mögen. Ein Individuum, als Individuum, kann niemals Elitist sein, weil einzig angemessen die Anwendung des Begriffes auf Gruppen ist. Irgendein Individuum, egal wie populär diese Person sein mag, kann nie eine Elite sein. Genaugenommen ist eine Elite eine kleine Gruppe von Leuten, die über eine größere Gruppe, von der sie ein Teil ist, Macht ausübt - gewöhnlich ohne direkte Verantwortlichkeit gegenüber dieser größeren Gruppe und oftmals ohne deren Wissen oder Zustimmung. Eine Person wird Elitist, indem sie Teil einer solchen Gruppe ist oder sich für deren Herrschaft einsetzt - ob dieses Individuum nun bekannt ist oder völlig unbekannt. Berühmt- oder Berüchtigtsein definiert nicht einen Elitisten. Die gefährlichsten Eliten werden gewöhnlich von Leuten gebildet, die für eine größere Öffentlichkeit völlig unbekannt sind. Intelligente Elitisten sind meist gewitzt genug, zu vermeiden, dass man sie gut kennt bzw. dass sie bekannt werden. Wenn man sie kennt, achtet man auf sie, und die Maske über ihrer Macht sitzt nicht mehr fest.
Dass Eliten informell sind, heißt nicht, sie seien unsichtbar. Bei jedem Treffen einer kleinen Gruppe kann dir jeder, der ein scharfes Auge und gespitzte Ohren hat, sagen, wer wen beeinflusst. Mitglieder einer Gruppe von Freunden werden mehr aufeinander Bezug nehmen als auf andere Leute. Sie hören aufmerksamer zu und unterbrechen weniger; sie wiederholen gegenseitig ihre Kernpunkte und geben freundlich nach; sie ignorieren oder bekämpfen die ›outs‹ (Außenstehenden), deren Billigung für eine Entscheidung nicht notwendig ist. Aber es ist notwendig für die ›outs‹, auf gutem Fuß mit den ›ins‹ zu stehen. Natürlich sind die Grenzen nicht so scharf, wie ich sie gezogen habe. Es gibt Nuancen von Interaktion, keine vorgefertigten Drehbücher. Aber sie sind dennoch erkennbar, und sie haben ihre Wirkung. Wenn du einmal rausgekriegt hast, mit wem man sich absprechen (wen man abchecken) muss, bevor eine Entscheidung fällt, und wessen Billigung deren Annahme besiegelt, dann weißt du, wer den Laden schmeißt. Eliten sind keine konspirative Gruppen. Nur sehr selten kommt eine kleine Gruppe von Leuten zusammen und versucht bewusst, eine größere Gruppe für ihre eigenen Ziele zu übernehmen. Eliten sind nicht mehr und nicht weniger als Gruppen von Freunden, die zufällig an derselben politischen Arbeit teilnehmen. Sie würden an ihrer Freundschaft vermutlich festhalten, auch wenn sie nicht an politischer Arbeit teilnähmen; und sie würden vermutlich an politischer Arbeit teilnehmen, auch wenn sie nicht an ihrer Freundschaft festhielten. Es ist das Zusammentreffen dieser zwei Phänomene, welche in einer Gruppe Eliten hervorbringt und es so schwer macht, sie zu beseitigen.
Diese Gruppen von Freunden funktionieren als Kommunikationsnetz außerhalb aller regulären, von der Gruppe eingerichteten Kanäle. Wo es solche Kanäle überhaupt nicht gibt, funktionieren sie als das einzige Kommunikationsnetz. Weil sie Freunde sind, weil sie gewöhnlich dieselben Wertvorstellungen und Ansichten teilen, weil sie gemeinschaftlich miteinander reden und einander konsultieren, wenn gemeinsame Entscheidungen anstehen, deswegen haben Leute, die zu diesem Netz gehören, mehr Macht in der Gruppe, als die anderen. Und es ist selten, dass eine Gruppe nicht durch Freunde, die es in ihr gibt, ein informelles Kommunikationsnetz errichtet. Einige Gruppen mögen aufgrund ihrer Größe mehr als ein solches Kommunikationsnetz haben. Die Netze können sich sogar überschneiden. Wenn‘s nur ein solches Netz gibt, stellt es die Elite einer ansonsten unstrukturierten Gruppe dar, ob die an ihm Beteiligten Elitäre sein wollen oder nicht. Wenn es das einzige Netz in einer strukturierten Gruppe ist, kann's eine Elite sein oder auch nicht, - das hängt ab von seiner Zusammensetzung und von der Art der formellen Struktur. Wenn es zwei oder mehr solcher Netze von Freunden gibt, können sie um die Macht in der Gruppe konkurrieren und auf diese Weise Fraktionen bilden - oder die einen können bewusst aus der Konkurrenz aussteigen und so die anderen als Elite zurücklassen. In einer strukturierten Gruppe konkurrieren gewöhnlich zwei oder mehr solcher Freundeskreise um die formelle Macht. Das ist häufig die gesündeste Situation, weil die anderen Mitglieder so in der Position des Schiedsrichters zwischen zwei Konkurrenten um die Macht sind und dadurch Forderungen an diejenigen stellen können, denen sie zeitweilig Gefolgschaft leisten.
Die unvermeidlich elitäre und exklusive Natur informeller Kommunikationsnetze von Freunden ist weder ein neues Phänomen, das die Frauenbewegung charakterisiert, noch ein Phänomen, das den Frauen neu ist. Solche informellen Beziehungen haben durch Jahrhunderte hindurch Frauen von der aktiven Teilnahme an integrierten Gruppen abgehalten, deren Teil sie waren. In jedem Beruf oder jeder Organisation haben diese Netze die Mentalität der ›geschlossenen Gesellschaft‹ und die Verbindung der ›alten Schule‹ geschaffen, die in wirksamer Weise Frauen als Gruppe (und individuell einige Männer) am gleichberechtigten Zugang zu den Quellen der Macht oder der sozialen Anerkennung gehindert haben. Die vergangene Frauenbewegung hat viel von ihrer Energie darauf gerichtet, die Entscheidungsstrukturen und Wahlmechanismen zu formalisieren, so dass der Ausschluss der Frauen direkt angegriffen werden konnte. Wie wir wohl wissen, haben diese Anstrengungen die informellen Männer-Verbindungsnetze nicht an der Diskriminierung der Frauen gehindert - aber sie haben sie immerhin erschwert. Da die Gruppen unserer Bewegung keine konkreten Entscheidungen darüber gefällt haben, wer die Macht in ihnen ausüben soll, werden im ganzen Land eine Menge verschiedener Kriterien angewandt. Die meisten Kriterien bewegen sich auf der Linie der traditionellen weiblichen Charakteristika. Zum Beispiel war in den frühen Zeiten der Bewegung gewöhnlich die Ehe eine Vorbedingung für die Zugehörigkeit zu einer informellen Elite. Denn entsprechend der traditionellen Erziehung unterhielten in erster Linie verheiratete Frauen Beziehungen zueinander und betrachteten allein lebende Frauen als zu bedrohlich, um mit ihnen feste Freundschaft zu schließen. In vielen Städten wurde dieses Kriterium noch dahingehend verfeinert, dass nur solche Frauen einbezogen wurden, die mit Männern aus der Neuen Linken verheiratet waren. Hinter diesem Schema steckt jedoch noch mehr als bloße Tradition, denn die Männer der Neuen Linken hatten Zugang zu Ressourcen, die von der Bewegung benötigt wurden – z.B. Adressenlisten, Druckmaschinen, Kontakte, Informationen - und Frauen waren gewohnt, das, was sie brauchten, eher vermittelt durch Männer zu bekommen als unabhängig.
Mit der Zeit veränderte sich die Bewegung, und die Ehe wurde ein weniger allgemeines Kriterium für effektive Mitbestimmung, aber alle informellen Eliten schaffen Normen, aufgrund derer nur Frauen mit bestimmtem Material oder persönlichen Charakteristika sich anschließen dürfen. Häufig gehört dazu: Herkunft aus der Mittelschicht (trotz aller Rhetorik über Beziehung zur Arbeiterklasse); verheiratet sein; nicht verheiratet sein, aber in einer festen Beziehung leben; lesbisch sein oder es wenigstens vorgeben; Alter zwischen 20 und 30 Jahren; Hochschulbildung oder wenigstens Hochschulerfahrung; ›dufte‹ sein; nicht zu ›dufte‹ sein; der politischen Linie oder Identifikation nach ›radikal‹ sein; Kinder haben oder wenigstens mögen; keine Kinder haben; bestimmte ›weibliche‹ Eigenschaften haben, wie z.B. ›hübsch‹ sein; sich richtig kleiden (ob nun in traditionellem, oder gerade antitraditionellem Stil); etc. Ebenso gibt es einige Charakteristika, die jemand fast immer als ›Abweichler‹ etikettieren, zu dem man keine Beziehung haben sollte. Dazu gehören: zu alt sein; ganztags arbeiten, insbesondere wenn man sich nicht auf eine ›Karriere‹ festgelegt hat; nicht ›hübsch‹ sein; und zugestandenermaßen allein zu sein (d.h. weder aktiv heterosexuell noch homosexuell).
Ich könnte noch andere Kriterien aufzählen, aber sie bewegen sich alle auf derselben Linie. Die Charakteristika, die Vorbedingung für die Zugehörigkeit zu einer informellen Elite der Bewegung und zur Ausübung von Macht sind, betreffen deine Herkunft, Persönlichkeit oder deine Zeiteintellung. Sie enthalten nicht deine Kompetenz, dein Engagement für den Feminismus, deine Talente oder das, was du möglicherweise zu der Bewegung beitragen könntest. Die ersten sind Kriterien, nach denen man gewöhnlich Freunde auswählt. Die letzteren sind die, nach denen sich eine Bewegung richten sollte, die politisch effektiv sein will. Die Kriterien für die Zugehörigkeit mögen von Gruppe zu Gruppe variieren, aber die Mittel, die du anwenden musst - wenn du solchen Kriterien begegnest -, um in die informelle Elite aufgenommen zu werden, sind ziemlich oft dieselben. Der einzige wesentliche Unterschied ergibt sich daraus, ob jemand von Anfang an in einer Gruppe ist, oder erst später zu ihr stößt. Wenn man von Anfang an dabei ist, ist es wichtig, so viele persönliche Freunde wie möglich zu haben, die mit hineinkommen. Wenn keiner irgendeinen anderen besonders gut kennt, dann muss man bewusst mit einer ausgewählten Zahl von Leuten Freundschaft schließen und den informellen Interaktionsrahmen bauen, der für die Schaffung einer informellen Struktur entscheidend ist. Wenn er einmal da ist, reproduziert dieser Rahmen sich selbst, und eine der erfolgreichsten Taktiken, ihn zu erhalten, ist die fortlaufende Rekrutierung von Leuten, die ›dazu passen‹. Man schließt sich einer solchen Elite auf demselben Wege an, wie man Aufnahme in eine Frauen-Verbindung findet. Haben sie dich als möglichen Neuling erkannt, dann stürzen sich die Mitglieder der informellen Struktur auf dich und lassen dich entweder fallen oder weihen dich ein. Wenn die Frauen-Verbindung politisch nicht bewusst genug ist, um aktiv den Prozess zu steuern, dann kann er vom Außenseiter ebenso in Gang gesetzt werden, wie der Beitritt zu einem Privatklub. Such' dir einen Bürgen, d.h. schnapp' dir ein Mitglied, das drinnen gut angesehen zu sein scheint und kultiviere aktiv die Freundschaft zu dieser Person. Zu guter Letzt wird sie dich mit Freuden in den inneren Zirkel einführen. Alle diese Prozeduren kosten Zeit. Wenn daher jemand ganztags arbeitet oder eine vergleichbare Verpflichtung hat, ist es ihr unmöglich hineinzukommen, einfach weil sie nicht genug Stunden übrig hat, um all die Meetings zu besuchen und die persönlichen Beziehungen zu pflegen, die nötig sind für eine Stimme bei den Entscheidungen. Aus diesem Grund sind formale Strukturen eine Wohltat für Leute, die viel Arbeit am Hals haben. Ein bewusst eingerichteter Modus, nach dem Entscheidungen gefällt werden, garantiert, dass jeder bis zu einem gewissen Ausmaß mitbestimmt.
Obwohl diese Untersuchung der Prozesse, durch die sich Eliten in kleinen Gruppen herausbilden, aus einer kritischen Perspektive geschah, habe ich sie nicht in der Überzeugung gemacht, dass diese informellen Strukturen unvermeidlich schlecht seien - nur eben unvermeidlich. Alle Gruppen bringen als Ergebnis der Interaktion unter den Mitgliedern informelle Strukturen hervor. Solche informellen Strukturen können durchaus nützliche Dinge zustande bringen. Aber nur unstrukturierte Gruppen werden vollständig von ihnen beherrscht. Wenn informelle Eliten mit dem Mythos von ›Strukturlosigkeit‹ verbunden sind, gibt es keinen möglichen Versuch mehr, deren Machtausübung zu begrenzen; sie wird ihrer Laune überlassen.
Das hat zwei möglicherweise negative Konsequenzen, deren wir uns bewusst sein sollten. Die erste ist, dass die informellen Entscheidungsstrukturen ähnlich werden wie in einer Frauen-Verbindung - in der Leute anderen zuhören, weil sie sie mögen und nicht, weil sie wichtige Sachen sagen. Solange die Bewegung auch keine bedeutenden Sachen macht, spielt das keine Rolle. Aber wenn ihre Entwicklung nicht auf dieser Vorstufe stehen bleiben soll, muss sie diesen Trend ändern. Die zweite ist, dass die informellen Strukturen keine Verpflichtung haben, sich der Gruppe als ganzer gegenüber zu verantworten. Ihre Macht ist ihnen nicht gegeben worden und kann ihnen daher auch nicht genommen werden. Ihr Einfluss beruht nicht auf dem, was sie für die Gruppe tun; daher können sie von dieser auch nicht direkt beeinflusst werden. Das bedeutet nicht notwendig, dass informelle Strukturen verantwortungslos handeln. Diejenigen, die sich bemühen, ihren Einfluss aufrechtzuerhalten, versuchen in der Regel, verantwortungsbewusst zu sein. Nur kann die Gruppe diese Verantwortlichkeit eben nicht erzwingen; sie ist abhängig vom Interesse der Elite.
Das ›Star‹-System
Die Idee der ›Strukturlosigkeit‹ hat das ›Star‹-System hervorgebracht. Wir leben in einer Gesellschaft, die von einer politischen Gruppe erwartet, dass sie Entscheidungen trifft und Leute dazu auswählt, diese Entscheidungen der gesamten Öffentlichkeit gegenüber zu artikulieren. Presse und Öffentlichkeit verstehen es nicht, einer einzelnen Frau als Frau Gehör zu schenken, sie wollen wissen, was die Gruppe vertritt. Es gibt nur drei Techniken der Meinungsbildung für eine Massengruppe: die Wahl oder das Referendum (Volksbefragung); die öffentliche Umfrage und die Wahl von Gruppensprechern auf einer dazu geeigneten Versammlung. Die Frauenbefreiungsbewegung hat keines dieser Mittel angewandt, um mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Weder die Bewegung als ganze noch die meisten der zahlreichen Gruppen in ihr haben eine Methode, um der Öffentlichkeit ihre Position zu verschiedenen Problemen darzustellen. Aber die Öffentlichkeit ist gewohnt, nach Repräsentanten zu suchen.
Während die Bewegung bewusst keine Sprecher gewählt hat, hat sie doch viele Frauen hochgespült, die aus verschiedenen Gründen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich konzentrieren. Diese Frauen repräsentieren weder eine spezielle Gruppe noch eine etablierte Meinung; das wissen sie und sagen es gewöhnlich auch. Aber weil es weder offizielle Sprecher noch irgendein entscheidungsbildendes Gremium gibt, an das die Presse sich halten kann, wenn sie die Ansicht der Bewegung über einen Gegenstand wissen will, werden diese Frauen als Sprecher wahrgenommen. Durch ein Versäumnis geraten daher Frauen, die die Öffentlichkeit kennt, in die Rolle von Sprechern für die Bewegung - ob sie es wollen oder nicht, ob es der Bewegung passt oder nicht. Das ist eine Hauptquelle für den Hass, den man häufig auf die zu ›Stars‹ gestempelten Frauen hat. Weil die Frauen der Bewegung sie nicht zur Vertretung ihrer Ansichten gewählt haben, nimmt man es ihnen übel, wenn die Presse einfach davon ausgeht, dass sie für die ganze Bewegung sprechen. Aber solange die Bewegung sich nicht ihre eigenen Sprecher wählt, werden solche Frauen von Presse und Öffentlichkeit in eine solche Rolle gedrängt, unabhängig davon, ob sie es selber wünschen.
Das hat eine Reihe von negativen Folgen für die Bewegung ebenso wie für die zu ›Stars‹ gemachten Frauen. Zunächst kann die Bewegung sie nicht absetzen, weil sie sie ja gar nicht in die Rolle der Sprecher eingesetzt hat. Die Presse hat das getan, und nur sie hat die Wahl, nicht mehr auf sie zu hören. Die Presse wird fortfahren, sich nach ›Stars‹ als Sprecherinnen umzuschauen, und zwar solange, wie es für sie keine offizielle Alternative gibt, ein autorisiertes Statement von der Bewegung zu bekommen. Und die Bewegung hat keine Kontrolle über die Auswahl ihrer Repräsentanten gegenüber der Öffentlichkeit, solange sie meint, überhaupt keine Repräsentanten haben zu sollen. Zweitens werden Frauen, die in diese Position geraten sind, häufig von ihren Schwestern heftig attackiert. Das bringt der Bewegung überhaupt nichts und ist quälend und zerstörerisch für die betroffenen Individuen. Das Resultat solcher Angriffe ist dann bloß, dass eine solche Frau - oft bitter enttäuscht - die Bewegung ganz verlässt oder dass sie aufhört, sich ihren ›Schwestern‹ gegenüber verantwortlich zu fühlen. Sie mag, vage, an einer gewissen Loyalität gegenüber der Bewegung festhalten, aber sie setzt sich dem Druck der anderen Frauen nicht mehr aus. Man kann sich Leuten, die die Quelle solcher Quälereien sind, nicht verantwortlich fühlen, ohne Masochist zu sein - und diese Frauen sind gewöhnlich zu stark, um sich dieser Art von persönlichem Druck zu beugen. So ermutigt die heftige Reaktion auf das ›Star‹-System im Effekt genau die Art von individualistischer Unverantwortlichkeit, die die Bewegung verdammt. Indem sie von einer Schwester als ›Star‹ Sühne verlangt, verliert die Bewegung jegliche Kontrolle, die sie über diese Person gehabt haben mag. Und diese wird dann frei für all die individualistischen Sünden, deren sie angeklagt war.
Politische Impotenz
Unstrukturierte Gruppen mögen mit großem Erfolg Frauen dazu bringen, über ihr Leben zu sprechen; wenn's daran geht, was zu tun, sind sie nicht besonders gut. In dem Moment, in dem die Leute es leid sind, ›bloß zu quatschen‹, und irgendwas tun wollen, kommen die Gruppen ›ins Schwimmen‹ - es sei denn, sie ändern ihren Charakter. Da die größere Bewegung in den meisten Städten ebenso unstrukturiert ist wie individuelle Zufallsgruppierungen, ist sie nicht viel effektiver als einzelne Gruppen für bestimmte Aufgaben. Die informelle Struktur ist selten genügend verbunden oder in Berührung mit der Bevölkerung, um effektiv zu agieren. So erzeugt die Bewegung viel action und wenige Ergebnisse. Unglücklicherweise sind die Konsequenzen all dieser Aktionen nicht so harmlos wie die Resultate, und das Opfer der ganzen Sache ist die Bewegung selbst. Einige Gruppen haben angefangen, sich auf lokale Aktionsprojekte zu konzentrieren und auf kleiner Flamme zu kochen, weil sie nicht viele Leute mit einbeziehen konnten. Aber diese Form beschränkt die Aktivität der Bewegung auf die lokale Ebene; regional oder national kann man so nicht vorgehen. Zudem müssen sich diese Gruppen, um gut zu funktionieren, gewöhnlich beschränken auf jenen informellen Freundeskreis, der den Laden in erster Linie schmeißt. Das schließt viele Frauen von der Teilnahme aus. Solange der einzige Weg zur Teilnahme an der Bewegung über die Mitgliedschaft in einer kleinen Gruppe führt, sind die ungeselligen Frauen entschieden im Nachteil. Solange Freundeskreise die wesentlichen Zentren für organisatorische Aktivitäten sind, wird Elitismus institutionalisiert.
Für Gruppen, die kein lokales Projekt finden, für das sie sich entscheiden können, wird das reine Zusammensein zum Selbstzweck. Hat eine Gruppe keine spezifische Aufgabe (und consciousness raising ist eine Aufgabe), dann lenken die Mitglieder ihre Energie darauf, andere in der Gruppe zu kontrollieren Das geschieht nicht so sehr aus einem böswilligen Bedürfnis, andere zu manipulieren (manchmal freilich doch), als aus dem Mangel an etwas Besserem, für das sie ihre Talente einsetzen könnten. Fähige Leute mit (verfügbarer) Zeit und dem Gefühl, ihr Zusammenkommen rechtfertigen zu sollen, vertun ihre Kräfte mit persönlicher Kontrolle und verbringen ihre Zeit damit, die Persönlichkeit der anderen Gruppenmitglieder zu kritisieren. Interne Kämpfe und persönliche Machtspielereien regieren die Stunde. Wenn eine Gruppe dagegen mit einer Aufgabe beschäftigt ist, lernen die Leute mit den anderen so auszukommen, wie sie sind und persönliche Antipathien dem größeren Ziel unterzuordnen. Dem Drang, jede Person so zu bilden, wie sie unserer Vorstellung nach sein sollte, sind dann Grenzen gesetzt.
Consciousness-raising hinterlässt die Leute an Ende, ohne dass sie wissen, wohin sie gehen können und das Fehlen einer Struktur macht ihnen den Weg dahin unmöglich. Die Frauen in der Bewegung wenden sich entweder sich selbst und ihren Schwestern zu oder suchen andere Alternativen für Aktionen. Und es gibt nur wenige. Einige Frauen machen einfach ›ihren eigenen Kram‹. Das kann zu einer beträchtlichen individuellen Kreativität führen, die zum großen Teil der Bewegung nützlich ist, aber es ist keine gangbare Alternative für die meisten Frauen und fördert gewiss nicht den Geist einer kooperativen Gruppenanstrengung. Andere Frauen lassen sich ganz aus der Bewegung hinaustreiben, weil sie kein individuelles Projekt entwickeln wollen und keinen Weg gefunden haben, Gruppenprojekte, die sie interessant finden, zu entdecken, ihnen beizutreten oder sie zu initiieren. Viele schwenken zu anderen politischen Organisationen über, die ihnen die Art von strukturierter und wirksamer Aktivität erlauben, die, sie in der Frauenbewegung vergebens gesucht hatten. Die politischen Organisationen, die die Frauenbefreiung nur als eine von vielen Zielen sehen, denen Frauen ihre Zeit widmen sollten, finden so in unserer Bewegung ein weites Rekrutierungsfeld für neue Mitglieder. Diese Organisationen haben ›Infiltration‹ gar nicht nötig (obwohl's die auch gibt). Das Verlangen nach sinnvoller politischer Aktivität, das in den Frauen durch die Teilnahme an der Frauenbefreiungsbewegung erzeugt wurde, reicht aus, sie auf den Anschluss bei anderen Organisationen scharf zu machen, wenn die Bewegung selbst den Ausdruck ihrer neuen Vorstellungen und Energien verhindert. Diese Frauen, die sich anderen politischen Organisationen anschließen und zugleich in der Frauenbefreiungsbewegung drin bleiben, oder zur Frauenbewegung stoßen, ohne die anderen politischen Organisationen zu verlassen, bilden wiederum das Gerüst für neue informelle Strukturen. Diese Freundeskreise basieren eher auf der gemeinsamen nicht-feministischen Politik als auf den oben angesprochenen Charakteristika, aber die Vorgehensweise ist fast dieselbe. Weil diese Frauen gemeinsame Wertvorstellungen, Ideen und politische Organisationen haben, werden sie informelle, ungeplante, ungewählte und nicht verantwortliche Eliten - ob's ihre Absicht war oder nicht.
Diese informellen Eliten werden von den alten informellen Eliten, die sich vorher in anderen Gruppen der Bewegung entwickelt hatten, nicht selten als Bedrohung empfunden. Und das mit Recht. Solche politisch orientierten Verbindungsnetze sind nur selten bereit, reine ›Schwesternschaft‹ zu sein, so wie viele der alten es waren, und sie wollen ebenso für ihre politischen wie für ihre feministischen Vorstellungen Anhänger gewinnen. Das ist nur natürlich, aber die Implikationen, die die Sache mit sich bringt, sind in der Frauenbewegung niemals angemessen diskutiert worden. Die alten Eliten haben kaum die Absicht, solche Meinungsverschiedenheiten offen auszutragen, weil das die Natur der informellen Struktur ans Licht brächte. Viele dieser informellen Eliten haben sich hinter dem Banner des ›Anti-Elitismus‹ und der ›Strukturlosigkeit‹ verborgen. Um der Konkurrenz einer anderen informellen Struktur wirksam zu begegnen, müssten sie ›öffentlich‹ werden, und diese Möglichkeit ist belastet mit vielen gefährlichen Implikationen. Um ihre eigene Macht zu erhalten, ist es daher leichter, den Ausschluss von Mitgliedern anderer informeller Strukturen zu rationalisieren mit Mitteln wie der Jagd auf ›Rote‹, ›Reformisten‹, ›Lesbierinnen‹ oder ›Dogmatiker‹. Die einzige andere Alternative ist die, der Gruppe eine solche formelle Struktur zu geben, dass das ursprüngliche Machtverhältnis institutionalisiert wird. Das ist nicht immer möglich Aber wenn die informellen Eliten gut strukturiert sind und in der Vergangenheit ein beträchtliches Maß an Macht ausgeübt haben ist es zu schaffen. Diese Gruppen haben eine Geschichte, sie sind in der Vergangenheit politisch effektiv gewesen, und die Festigkeit der informellen Struktur hat sich als adäquater Ersatz für eine formale Struktur erwiesen. Wenn sie nun eine Struktur bekommen, ändert sich ihre Handlungsweise nicht sonderlich, obwohl die Institutionalisierung der Machtstruktur formellen Herausforderungen Raum gibt. Gerade solche Gruppen, die eine Struktur am nötigsten haben, sind häufig am wenigsten dazu imstande, sich eine zu schaffen. Ihre informellen Strukturen sind nicht allzu gut geformt, und die Anhänglichkeit an die Ideologie der ›Strukturlosigkeit‹ lässt sie zögern, ihre Taktik zu verändern. Je unstrukturierter eine Gruppe ist, je weniger informelle Strukturen sie hat und je mehr sie der Ideologie der ›Strukturlosigkeit‹ verhaftet sind, desto verwundbarer ist sie für die Übernahme von einer Gruppe von politischen Genossen.
Weil die Bewegung im großen genauso unstrukturiert ist wie die meisten der sie konstituierenden Gruppen, ist sie auch in ähnlicher Weise empfänglich für indirekte Beeinflussung. Aber dieses Phänomen äußert sich hier anders. Auf der lokalen Ebene können die meisten Gruppen autonom operieren; aber die einzigen Gruppen, die eine nationale Aktivität organisieren können, sind national organisierte Gruppen. Daher sind es oftmals die strukturierten feministischen Organisationen, die die Richtung nationaler Aktivitäten der Feministinnen festsetzen und diese Richtung bestimmt sich aus den Prioritäten der entsprechenden Organisationen. Solche Gruppen wie NOW, WEAL und einige linksradikale Frauengruppen sind einfach die einzigen Organisationen, die in der Lage sind, eine nationale Kampagne auf die Beine zu stellen. Die große Menge der unstrukturierten Frauenbefreiungsgruppen kann sich für oder gegen eine Unterstützung der nationalen Kampagnen entscheiden, aber sie nicht selbst organisieren. So stellen dann ihre Mitglieder die Truppen unter der Führung der strukturierten Organisationen. Die eingestandenermaßen unstrukturierten Gruppen haben keine Möglichkeit, die riesigen Hilfsmittel der Bewegung in Anspruch zu nehmen, um deren vorrangige Ziele zu unterstützen. Sie haben noch nicht einmal die Möglichkeit, darüber zu entscheiden, welches die vorrangigen Ziele sein sollen.
Je unstrukturierter eine Bewegung ist, um so weniger Kontrolle hat sie über die Richtung, in die sie sich entwickelt.und die politischen Aktionen, an denen sie beteiligt ist. Das heißt nicht, dass sich ihre Ideen nicht verbreiten. Bei einer gewissen Bereitschaft der Massenmedien und entsprechenden sozialen Bedingungen werden die Ideen immer noch weit verbreitet werden. Aber Verbreitung von Ideen heißt nicht, dass sie auch verwirklicht werden; es bedeutet lediglich, dass darüber gesprochen wird. Soweit sie sich individuell anwenden lassen, mag auch danach gehandelt werden; das wird aber nicht der Fall sein, soweit ihre Verwirklichung eine koordinierte politische Macht erfordert.
So lange sich die Frauenbefreiungsbewegung einer Organisationsform widmet, die kleine, unaktive Diskussionsgruppen unter Freunden bevorzugt, werden die größten Probleme der Strukturlosigkeit nicht spürbar. Aber dieser Organisationsstil hat seine Grenzen; er ist politisch uneffektiv exklusiv und diskriminiert jene Frauen, die nicht zu einem solchen Freundeskreis gehören oder auch nicht einbezogen werden können. Diejenigen, die nicht in die Form passen, die schon besteht (aufgrund ihrer Klassen- oder racezugehörigkeit, ihres Berufs, ihres Eltern- oder Ehestatus, ihrer Persönlichkeit usw.), werden unvermeidlich entmutigt, zu versuchen, an der Bewegung teilzunehmen. Diejenigen, denen die jetzige Organisationsform angemessen ist, werden das Interesse entwickeln, die Dinge so aufrechtzuerhalten, wie sie sind. Das Interesse der informellen Gruppe an ihrer Aufrechterhaltung wird durch die existierende informelle Struktur unterstützt und die Bewegung hat keine Möglichkeit, darüber zu bestimmen, wer in ihr die Macht ausüben wird. Wenn die Bewegung damit fortfährt, nicht bewusst diejenigen auszuwählen, die Macht ausüben, dann wird sie damit nicht die Macht abschaffen. Alles was sie tut, ist, auf das Recht zu verzichten, von denjenigen, die Macht und Einfluss haben, zu verlangen, dass sie sich dafür verantworten. Wenn die Bewegung damit fortfährt, die Macht so zerstreut wie möglich zu halten, weil sie weiß, dass sie keine Verantwortlichkeit von denen verlangen kann, die Macht haben, dann verhindert sie zwar, dass irgendeine Gruppe oder Person vollständig dominiert. Aber gleichzeitig erreicht sie damit, dass die Bewegung so ineffektiv wie möglich ist. Es kann und muss ein Mittelweg zwischen Herrschaft und Wirkungslosigkeit gefunden werden.
Diese Probleme gehen mir gerade jetzt im Kopf herum, weil sich das Wesen der Bewegung notwendig ändert. Consciousness-raising beginnt als Hauptfunktion der Frauenbefreiungsbewegung obsolet zu werden. Dank ausführlicher Veröffentlichungen in der Presse in den letzten zwei Jahren, dank zahlreicher ›overground‹-Bücher und weit verbreiteter Artikel ist „women's lib‹ zu einem alltäglichen Begriff geworden. Leute, die in keinem expliziten Zusammenhang mit irgendeiner Gruppe der Bewegung stehen, diskutieren deren Ergebnisse und bilden informelle Gruppen. Die Bewegung muss zu neuen Aufgaben weiter schreiten. Sie muss jetzt ihre Prioritäten festsetzen, ihre Ziele artikulieren und diese koordiniert verfolgen. Um das zu schaffen, muss sie sich organisieren - lokal, regional und national.
Prinzipien demokratischer Strukturen
Sobald sich die Bewegung nicht länger beharrlich an der Ideologie der ›Strukturlosigkeit‹ festklammert, ist sie frei, solche Organisationsformen zu entwickeln, die ihr am ehesten ein gesundes Funktionieren erlauben. D.h. nicht, dass wir in das andere Extrem fallen und blind die traditionellen Organisationsformen imitieren sollten. Aber genausowenig sollten wir sie alle blind zurückweisen. Einige der traditionellen Organisationstechniken werden sich als nützlich erweisen, wenn auch (nicht) als perfekt; einige werden uns Klarheit darüber verschaffen, was wir tun oder lassen sollten, um bestimmte Ziele mit einem minimalen Aufwand für die einzelnen Mitglieder der Bewegung zu erreichen. Vor allem werden wir mit verschiedenen Strukturen experimentieren müssen, um eine Vielzahl von Techniken zu entwickeln, die für verschiedene Situationen zu gebrauchen sind. Das Los-System ist eine solche Technik, die aus der Bewegung hervorgegangen ist. Es ist nicht in allen Situationen anwendbar, manchmal aber durchaus zu gebrauchen. Weitere Ideen zur Strukturierung sind nötig. Aber bevor wir vernünftig weiter experimentieren können, müssen wir uns darüber klar werden, dass nicht eine Struktur an sich, sondern nur ihre Verfestigung schlecht ist. Ohne zu vergessen, dass wir uns in einem ständigen trial and error (Versuch und Irrtum) Prozess befinden, können wir einige Prinzipien festhalten, die für eine demokratische Struktur wesentlich und zugleich politisch effektiv sind:
1. Delegation von spezifischer Autorität an spezifische Individuen für spezifische Aufgaben durch demokratische Verfahren. Wenn Leuten Ämter oder Aufgaben nur aufgrund von Drückebergerei der anderen zufallen, dann heißt das, dass sie nicht zuverlässig erledigt werden. Wenn Leute dagegen für eine bestimmte Aufgabe gewählt werden, am besten nachdem sie dafür Interesse oder die Bereitwilligkeit geäußert haben, dann haben sie damit eine Verpflichtung übernommen, die sie nicht so leicht ignorieren können.
2. Von denjenigen, an die Autorität delegiert worden ist, ist Verantwortlichkeit gegenüber denen, die sie gewählt haben, zu verlangen. Auf diese Weise hat die Gruppe Kontrolle über Leute in Führungspositionen. So mögen einzelne Macht ausüben, aber die Gruppe hat letztlich darüber zu bestimmen, wie die Macht ausgeübt wird.
3. Streuung von Autorität unter so viele Leute, wie vernünftigerweise möglich ist. Dies verhindert eine Monopolisierung der Macht und zwingt diejenigen, die Führungspositionen einnehmen, viele andere Mitglieder zu konsultieren. Außerdem wird dadurch Vielen Gelegenheit gegeben, für spezifische Aufgaben die Verantwortung zu übernehmen und dadurch verschiedene Fähigkeiten zu erlernen.
4. Rotation der Aufgabenverteilung. Bereiche, für die zu lange eine Person - formell oder informell - verantwortlich ist, werden bald als das ›Eigentum‹ des Verantwortlichen angesehen und nicht so leicht aufgegeben bzw. von der Gruppe kontrolliert. Wechseln umgekehrt die Verantwortlichen für die verschiedenen Aufgaben zu häufig, dann hat der Einzelne nicht die Zeit, seinen Bereich gut kennenzulernen und bekommt nie das befriedigende Gefühl, eine gute Arbeit zu machen.
5. Zuteilung der Aufgaben nach rationalen Kriterien. Jemand für eine Position auszuwählen, weil er in der Gruppe beliebt ist, oder anderen unangenehme Arbeit aufzutragen, weil sie unbeliebt sind, hilft auf lange Sicht weder der Gruppe noch dem einzelnen. Fähigkeit, Interesse und Verantwortlichkeit sollten das Wichtigste bei einer solchen Auswahl sein. Den Leuten sollte zwar Gelegenheit gegeben werden, sich die Fertigkeiten anzueignen, die ihnen fehlen, aber das geht besser durch eine Art ›Lehre‹, als durch die Methode ›friss oder stirb‹. Eine Verantwortung zu tragen, der man nicht gewachsen ist, demoralisiert nur. Umgekehrt ermutigt es einen nicht, seine Fähigkeiten zu entwickeln, wenn man zu einer Arbeit nicht zugelassen wird, die man gut erledigen könnte.
6. Informationsverbreitung an alle so oft wie möglich. Information ist Macht. Zugang zu Information erhöht die Macht. Wenn neue Ideen und Informationen über ein informelles Netz verbreitet werden, das außerhalb des formalen Gruppenzusammenhanges besteht, dann geschieht damit bereits eine Meinungsbildung, an der die Gruppe nicht teilhat. Je mehr alle durchblicken, wie die Sachen laufen, um so besser lässt sich politisch effektiv arbeiten.
7. Gleicher Zugang zu den Hilfsmitteln, die von der Gruppe benötigt werden. Das ist nicht immer vollständig durchführbar, sollte aber angestrebt werden. Ein Gruppenmitglied, das monopolistisch über ein erforderliches Hilfsmittel verfügt wie eine Vervielfältigungsmaschine, die dem Ehemann gehört, oder Dunkelkammer), kann den Gebrauch dieses Hilfsmittels ungebührlich stark beeinflussen. Fähigkeiten und Wissen sind gleichfalls Hilfsmittel. Die Fähigkeiten eines Mitglieds sind nur dann angemessen verfügbar, wenn es bereit ist, den anderen das beizubringen, was es kann.
Jo Freeman