• Titelbild
• Editorial
• das erste: Die beste Sonntagsbeschäftigung
• Sophia Kennedy
• Flying Wheels Skateworkshop: Frauen- und Mädchen-Empowerment
• »The Great Connewitz Swindle« oder wie der Mythos nach Connewitz kam
• interview: »Die Fettnäpfchen sind uns egal. Nur wenn man die Dinge diskutiert, kommt man zum Kern.«
• review-corner buch: Historischer Materialismus der Computerspiele
• review-corner event: „Allein unter Briten“ – Lesung mit Tuvia Tenenbom
• position: »Das ist kein Antisemitismus...« – Warum #FreeGazaFromHamas immer noch heißen muss, auch die deutsch-iranischen Wirtschaftsbeziehungen zu kritisieren
• doku: Redebeitrag des Bündnis gegen Antisemitismus
• doku: Antisemitismus im Postkolonialismus
• doku: Gedichte von Hilde Domin
• »Antizionismus ist Antisemitismus, und die Welt kann diese Tatsache nicht ignorieren«
Der Theatermacher und Autor Tuvia Tenenbom, geboren 1957 bei Tel Aviv und seit Jahrzehnten in New York zu Hause, gilt als unbestechlicher und präziser Beobachter seiner Zeit. Als Chronist der amerikanischen, deutschen, britischen, arabischen, aber auch jüdischen Marotten wurde er sogar schon mit Michael Moore oder Borat verglichen. Der Vergleich der amerikanischen Feministin Phyllis Chesler ist deutlich schmeichelhafter, denn sie stellt Tenenbom in eine Reihe mit dem französischen Journalisten Albert Londres, der im Jahre 1929 durch Europa und ins britische Mandatsgebiet Palästina reiste, um die zerstreuten, aber auch angekommenen Juden zu befragen. Im Februar 2020 erschien nach Allein unter Deutschen, Allein unter Juden, Allein unter Flüchtlingen und Allein unter Amerikanern nunmehr der fünfte Band der renommierten Suhrkamp-Reihe. Tenenbom bezeichnete seine fünf Bücher mal als Lonely Planets der Seelen der jeweiligen Nationen, die er bereiste.
Ursprünglich wollte sich unser Gast im Auftrag des Suhrkamp-Verlages auf den Weg machen, um mehr über sein geliebtes, britisches Theater sowie den Brexit zu lernen. Da das Reisen das beste Mittel ist, um etwas über Land, Leute und deren Gesinnung zu erfahren, verbrachte Tenenbom 2018/19 ein halbes Jahr in Großbritannien. Angefangen in Irland, wo er auf Kobolde, tote Katzen und Ratten sowie einen Geist traf, führte ihn die Reise über Schottland und Wales mitten ins Herz der Insel. Er nächtigte sowohl in Winston Churchills, als auch in Hillary Clintons Betten, rief den Heiligen Krieg gegen das schottische Nationalgericht aus und wurde sogar der 7001. Beter in der East Londoner Moschee.
Auf seiner Reise durchquerte Tenenbom Millionenstädte und die Einöde. Neben Politikern, Yeshiva-Schülern, Wissenschaftlern, Taxifahrern, Pub-Gängern, Geistlichen, Schönheitsköniginnen, koscheren Pizzabäckern und Straßenmusikern traf er auch auf eine deutsche Touristin, die lieber mit Vögeln, als mit Menschen verkehrte. Als studiertem Statistiker lag ihm das Zufallsmoment besonders am Herzen, da nur so die Stimmung der Briten auf repräsentative Weise dokumentiert werden kann. Die Brexit-Stimmung dominierte zwar die deutsche Berichterstattung, doch entgegen aller Erwartungen war dies unter Briten nicht immer das bestimmende Thema. Sogar sein zaghafter Versuch, wenigstens von den schottischen Vögeln etwas über den Brexit zu erfahren, wurde im Keim erstickt.
Auch wollte der Autor so viele Theaterstücke wie möglich besuchen, da er das britische Theater als Weltklasse in Erinnerung hatte. In der Ratgeberliteratur heißt es so schön: »Glück findet man nicht, indem man es sucht, sondern indem man zulässt, dass es einen findet!« In ähnlicher Weise verhält es sich mit Tenenbom und dem Antisemitismus. Anstatt sich um den Brexit, Arbeitslosigkeit, die zu hohen Mieten oder Lebenshaltungskosten, meinetwegen den unehrlichen Profi-Fußball in der Premier League zu echauffieren, verkünden erstaunlich viele seiner Interviewpartner ihre inbrünstige Solidarität mit Palästina. Mal schlecht kaschiert, mal ganz unverblümt, begegnet dem Leser der Judenhass und die Obsession mit Israel auf allen Stationen der Reise.
Wenn Tenenbom fragt, was sein Gegenüber am liebsten an der Welt verändern würde, fällt die Wahl allzu häufig auf Israel. Erschwerend hinzu kommt, dass er kaum einen Juden trifft, der bereit ist, offen über die Erfahrungen mit dem allgegenwärtigen Antisemitismus in der britischen Gesellschaft zu sprechen. Durch seine unverwechselbare Art, auf sein Gegenüber vertrauenswürdig und ungefährlich zu wirken, vermittelt er ihnen das Gefühl, sich öffnen und ungehemmt sprechen zu können. In jedem Moment ist den Interviewten klar, dass sie gerade aufgenommen oder gefilmt werden. Dennoch nehmen sie kein Blatt vor den Mund. Tenenbom schreckt weder vor konflikthaften Gesprächspartnern noch vor heiklen Themen zurück. Dies bringt ihm nicht selten Kritik ein, wie die hitzigen Diskussionen über seinen letzten Besuch im Conne Island sowie die zwischenzeitliche Ausladung aufgrund einer Lesung bei dem neurechten Verleger Götz Kubitschek zeigten.
Der Autor wehrt sich dagegen, sein Gegenüber zu bekehren und bohrt an den richtigen Stellen nach, um gekonnt zu entlarven, was sich hinter der Fassade verbirgt: der Hass auf Juden und eine fast schon peinliche Ignoranz gegenüber den Problemen vor der eigenen Tür. Durch seinen sarkastischen Humor hilft er dem teils ratlosen Leser, mit den verstörenden Einblicken in die britische Seele umzugehen. Anders wäre die Lektüre womöglich schwer zu ertragen.
Tuvia Tenenbom: Allein unter Briten. Suhrkamp Verlag, Berlin. 501 Seiten. 16,95 Euro.
Alexandra Bandl