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Aktuelles Heft

INHALT #266

Titelbild
Distanzierung
• das erste: Die islamistische Rechte. Teil 2: Türkische Massenbewegungen und Staatsislamismus
• inside out: Presserat spricht Missbilligung gegen Leipziger Volkszeitung Online aus
• interview: Interview mit CopWatch Leipzig zur Waffenverbotszone und zur Polizei
• review-corner buch: Frauenzwangsarbeit in Markkleeberg
• kulturreport: Frech frech frech.
• position: Das ewige Rauschen wird zum Dröhnen
• position: Mivtza Shlomo – Operation Salomon
• doku: Waffenarsenal in Nordsachsen
• das letzte: Gegendarstellung

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Frauenzwangsarbeit in Markkleeberg

Fährt man mit dem Rad zum Cospudener See durch den Auwald am Wildpark vorbei, fällt einem direkt ein in roter Farbe angesprühter Wolf ins Auge. Die Skulptur markiert den Ort, an dem zuletzt ein Wolf in der Nähe von Leipzig gesichtet wurde.

Nur einige hundert Meter weiter, auf der rechten Seite vor einem Firmengelände, befindet sich eine Mauer, an der eine unscheinbare Gedenktafel angebracht ist. Auf ihr sind Steine aufeinandergestapelt. Die Tafel ist das Einzige, was vor Ort noch an das Außenlager des KZ Buchenwald in Markkleeberg erinnert. Von August 1944 bis zum 13. April, nur einige wenige Tage vor der Besetzung Leipzigs durch amerikanische Soldaten, waren dort 1.300 jüdische Ungarinnen, eine von ihnen die Autorin des Buches, Zahava (Katalin) Szasz Stessel, und 250 französische politische Gefangene dort untergebracht war. Stessel, damals 14 Jahre alt, musste gemeinsam mit ihrer ein Jahr jüngeren Schwester Hava (Erzsike) als Kinder unter beabsichtigt katastrophal gehaltenen Bedingungen in den Junkers-Werken Zwangsarbeit für die Rüstungsindustrie leisten. Dabei wurde ihnen ausreichende Nahrung, geeignete Kleidung, Hygiene und jedweder Arbeitsschutz vorenthalten. Verletzungen und Krankheit konnten zur Selektion beim täglichen Appell führen und damit in den sicheren Tod.

Dabei war es ein Wunder, dass die aus einem kleinen Ort in Ungarn stammenden jungen Mädchen überhaupt in Leipzig ankamen. Einzig, dass die Geschwister behaupteten sie seien Zwillinge, führte dazu, dass sie zwar von ihren Eltern und ihrer Großmutter getrennt wurden, aber die erste Selektion in Auschwitz überlebten. Der Rest der Familie wurde dort ermordet. Das »Glück« zu überleben war allerdings der Beginn eines von schmerzhaften Erfahrungen geprägten Wegs. Die Schwestern überstanden die Selektion nur, weil sie für Experimente des SS-Arztes Josef Mengele ausgewählt wurden, bei denen sie bewusst Krankheiten ausgesetzt wurden. Der Fokus zu »überleben«, um nicht von der Schwester getrennt zu werden, zieht sich durch das gesamte Buch. Über das KZ Bergen-Belsen gelangen sie letztendlich nach Markkleeberg.

Schonungslos und bestimmt schildert Stessel die grausamen Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie den Lageralltag, denen sie und ihre Mitgefangen ausgesetzt waren. Sadismus, teils Willkür, und die Bestimmtheit jüdisches Leben vernichten zu wollen, prägen das Verhalten der Aufseherinnen und des Lagerkommandanten. Die Geschehnisse auf dem Appellplatz sind aus Markkleeberger Wohnhäusern stets einsehbar, auch auf dem Weg zur Arbeit begegnen sie Deutschen. Sehr detailreich wird das komplexe Verhältnis der Gefangenen und des SS-Lagerpersonals beschrieben, welches aus Abhängigkeit und gegenseitiger Ablehnung bestand. So ausgeprägt die Abneigung gegenüber den deutschen Täter_innen war, so sehr waren die Gefangenen doch von deren Wohlwollen abhängig. Der Austausch eines gewalttätigen Aufsehers oder die spontane Laune des Lagerkommandanten beim Appell bestimmten über Leben und Tod.

Beeindruckend ist auch die Klarheit, mit der das Unrecht benannt und die Solidarität unter den Gefangenen beschrieben wird. Das Buch enthält eine Vielzahl an Liedern und Gedichten, aber auch Strategien, mit denen sich die Gefangenen den Lageralltag erträglich machten und sich die Hoffnung auf das eigene Überleben und das ihrer Familie und Freunde erhielten. Zentral ist auch der Wunsch nach der Rückkehr in ihre Heimat und einer unbeschwerte Jugend. Durchhalten lässt sie dabei das Festhalten an der jüdischen Kultur als zivilisatorischem Gegenentwurf zur deutschen Barbarei.

Auf dem Todesmarsch, wenige Tage vor der ersehnten Befreiung der Stadt durch die Alliierten, führt ihr Weg von Leipzig über Taucha, Wurzen, Oschatz, Meißen, das ausgebombte Dresden, bis ins KZ Theresienstadt. Von der deutschen Zivilbevölkerung werden sie weiterhin angefeindet und angegriffen. Auch Luftangriffen der Alliierten sind sie ausgesetzt. Der Irrweg auf den letzten Metern des Zweiten Weltkriegs endet in Theresienstadt, die Schwestern verlieren in der Nähe von Dresden den Anschluss an den Tross und schlagen sich selbstständig durch.

Nach der Rückkehr nach Ungarn ist nichts mehr, wie es war. Die Familie ausgelöscht, das Haus genommen, auch gesundheitliche Schäden plagen die Geschwister noch Jahre nach Kriegsende. Für beide wird Israel zur Hoffnung und zum Sehnsuchtsort. Beide werden Zionistinnen, legen ihre alten Vornamen ab – sie nennen sich nun Hava und Zahava – und wandern nach Israel aus. Zwar trennen sich die Wege der Schwestern, doch das enge Band zwischen ihnen und ihren »Lagerschwestern« besteht durch die Erinnerung an die Zeit in Leipzig und das ihnen widerfahrene Unrecht fort.

Das Buch besticht durch eine genaue Recherche. So werden sowohl die Täter_innen und ihr weiterer Lebensweg benannt, die meist ohne Verurteilung davonkamen, als auch eine Liste aller inhaftierten Frauen im Anhang des Buches aufgeführt. Die historische Genauigkeit, die eine langjährige Recherche mit Interviews ehemaliger Gefangener voraussetzt, trifft auf eine detailreiche, authentische und ergreifende Beschreibung des historischen Unrechts aus den Augen zweier junger, jüdischer Mädchen.

Nicht nur wegen der unmittelbaren Nähe zu Leipzig ist das Buch für alle, die gestern, heute und morgen nicht vergeben und vergessen, eine sehr zu empfehlende Lektüre.

Zahava Szàsz Stessel: Schneeblumen. Überleben im KZ Buchenwald-Außenlager Markkleeberg, Hentrich & Hentrich Verlag, Leipzig 2021, 432 Seiten, 22,90 EUR, ISBN: 978-3-95565-445-0.

Iggis

20.06.2021
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