• Titelbild
• Editorial
• das erste: Die islamistische Rechte. Teil 1: Die Muslimbruderschaft und der legalistische Islamismus
• kulturreport: Die Stadt als Zelle – Gedanken zu graffiti writing und darüber hinaus
• interview: Kein Dancefloor ist ein Safe Space
• interview: Interview mit Hot Topic!
• position: Conne Elend: ein Nachgesang
• position: Der Ignorant bist Du!
• review-corner buch: Ignoriert die Befindlichkeiten der Männer!
• review-corner buch: Rezension: tapis-Magazin – Analyse zur islamistischen Rechten
• doku: What's Right?
• doku: Die hochtrabenden Fremdwörter
• das letzte: Je te présent: Françoise Cactus
»Aber der Mensch unserer Zeit, der aus innerem Drange die Wände mit erotischen Symbolen beschmiert, ist ein Verbrecher oder ein Degenerierter. Es ist selbstverständlich, daß dieser Drang Menschen mit solchen Degenerationserscheinungen in den Anstandsorten am heftigsten überfällt. Man kann die Kultur eines Landes an dem Grade messen, in dem die Abortwände beschmiert sind.«
Adolf Loos »Ornament und Verbrechen«
»(1) Wer rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer unbefugt das Erscheinungsbild einer fremden Sache nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert.
(3) Der Versuch ist strafbar.«
StGB §303
Nicht wenige Stadtviertel und jene, die als »alternativ« gelten im Besonderen, sehen von außen so aus wie die Klokabinen ihrer beliebtesten Treffpunkte von innen. Jede Oberfläche ist dicht beschrieben und besprüht. Symbole, Buchstaben und Worte bedecken jeden Zentimeter von der Kante, wo der gepflasterte Gehweg in das Fundament übergeht, bis dorthin, wo die ausgestreckte Hand gerade noch so hinreicht. Jeder Vorsprung oder Stromkasten wird besprüht und danach genutzt, um weiter hochzuklettern und weiter oben zu schreiben und da, wo keine Hand mehr hinreicht, enden die unbefugten Beschriftungen vorerst. Der Blick wandert weiter nach oben und nähert sich dem Dach. Entlang der getrockneten Tropfen der tiefschwarzen Teerfarbe strecken sich mit Farbrollen von der Dachkante gestrichene Buchstaben dem Abgrund entgegen. Die höchsten Dächer sind ebenso beschrieben wie die tiefsten Tunnel unter der Stadt; von den U- und S-Bahnen und Lieferwagen nicht zu schweigen.
Ob geschrieben, gesprüht, gekratzt oder gestrichen – es finden sich Symbole, Parolen, Namen von Personen, Fußballvereinen oder Musikgruppen und spätestens seit den 1960er Jahren immer mehr tags, die auf Sprüher*innen oder Gruppen von Sprüher*innen verweisen. Dieses in den US-amerikanischen Großstädten entstandene graffiti writing, dass Namen und Worte von Individuen und Kollektiven massenhaft und in einem spezifischen Stil irgendwo zwischen Höhlenmalerei, Kalligrafie, Werbetypografie der 1970er/-80er Jahre und Comic entwickelt und angebracht werden – entstanden nicht selten unter großem Risiko und Aufwand -, dominiert heute die Flächen der Stadt und ihrer Peripherie.
Auch wenn zuvor schon immer Wände beschrieben wurden, von den öffentlichen Toiletten im antiken Pompeji bis zu den Resten des Reichstagsgebäudes 1945, als siegreiche Rotarmist*innen ihre Namen oder Sprüche hinterließen, so ist das graffiti writing doch insofern besonders hervorzuheben, da es das spontane menschliche Bedürfnis, z. B. während des Stuhlganges eine kleine erotische Zeichnung anzufertigen, verlässt und erweitert (manchmal allerdings doch nur geringfügig). Aber so wie die meisten Toilettenkritzeleien unter dem Einfluss eines wenn auch oft flüchtigen Blickes auf die eigenen Genitalien oder Ausscheidungen erotisch konnotiert sind, so finden sich im graffiti writing selbst oft mehr Hinweise auf die gesellschaftlichen Umstände der Entstehung des Geschriebenen als vielleicht auf den ersten Blick vermutet.
Im eingangs zitierten Vortrag »Ornament und Verbrechen« von 1908 kritisiert der Architekt und Architekturtheoretiker Adolf Loos die Ornamentisierung in der Gestaltung von Bauwerken und Dingen. Für jemanden, für den selbst jedes gestalterische Schmuckelement an Fassaden und Gebrauchsgegenständen ein Verstoß gegen Geschmack, gute Sitten und gesunden Menschenverstand darstellte, wären die Ornamente und Formenmuster, mit denen Sprüher*innen heute die Städte überziehen, wahrscheinlich ein Graus. Denn egal mit wie viel Bedeutung Eingeweihte und Akteur*innen die tags, throw-ups und pieces auch aufladen – für die meisten anderen, die ihren Weg zu Schule, Arbeitsstelle, Arbeitsamt, Krankenhaus oder Friedhof täglich absolvieren müssen, bleiben die Graffiti ein nicht endendes Muster und Ornament, das Schallschutzwände, Hausfassaden und Zugtüren gleichermaßen wie ein Geflecht überzieht. Das sich dort, wo es auf Gleichgültigkeit oder Faszination trifft (linke Kulturzentren, sogenannte „sozial schwache" bis irgendwann „alternative" Wohnviertel, industrielle Randgebiete), exponentiell vermehrt und dort, wo man pflegt, hinter sauberen Fassaden schmutzigen Interessen nachzugehen (Malls, Bank- & Geschäftsgebäude, (Hoch-)Kulturinstitutionen und Villenviertel beispielsweise), nur unter konsequentem Einsatz von Streichfarbe, Schutzbeschichtungen oder spezialisierten Reinigungsfirmen und härteren Maßnahmen wie Überwachungskameras, privatem Sicherheitspersonal oder dem gezielten Anpflanzen von Klettergewächsen vor besonders gefährdeten Wandabschnitten mühsam eindämmen lässt.
Das Erscheinungsbild einer fremden Sache
Die Perversion und geistige Degeneration, die Adolf Loos denen vorwarf, welche Klokabinen beschrifteten (während er selbst zu Lebzeiten wiederholt des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen im Rahmen von Aktzeichnungssessions beschuldigt und überführt wurde), verbindet seine Kritik am Ornament mit den Argumenten der Graffitifeind*innen von heute – auch diese werden nicht müde, in den illegal gesprühten Bildern bzw. den Sachbeschädigungen besonders schädliche Neigungen zu erkennen, welche angeblich die Menschheit bedrohen.
Angesichts einer Welt, in der die Zerstörung von Klima, Menschen, Tieren und Landschaften aus Kapitalinteressen tagtäglich vollzogen wird, mag man sich vielleicht fragen, wie gefährlich ein in hellblau und giftgrün ausgefülltes bubble piece wirklich sein kann – aber hier kommt es weniger auf die Form oder den Inhalt eines illegalen Graffito an, sondern vielmehr auf die Umstände seiner Entstehung.
Abseits aller ästhetischer Theorie oder Kritik zeugt Graffiti nämlich vor allem juristisch von einem völlig anderen Konflikt als der Frage, ob ein bestimmtes Graffito nun style hat oder nicht. Während letzteres sowohl Bildungsbürger*innen oder die Niederungen der Kulturindustrie als auch besonders die Szene selbst seit Jahrzehnten in ewige Diskussionen mit den immergleichen Ausgängen verwickelt, sind Polizist*innen, Staatsanwält*innen, Hausbesitzer*innen und ihre regierenden Parteien der CDU/CSU (gemeinsam mit der SPD und den Grünen …) spätestens seit 2005 schon einen Schritt weiter. Der Erkenntnis folgend, dass Kunst etwas ist, das den eigenen Erkenntnishorizont deutlich überschreitet und die in mühevoller Handarbeit hergestellten, unverständlichen, bunten Muster sich gar nicht so sehr von dem, was den meisten Politiker*innen und Beamt*innen als künstlerische Erzeugnisse sonst so vorgesetzt wird, unterscheiden – interessieren sich die Expert*innen in Sachen Rechtsprechung und -beugung vor allem für das verfassungsgemäß garantierte Recht auf Privateigentum, seien es noch so groß oder noch so klein. Auf diesem Rechtsversprechen basiert unsere Gesellschaftsordnung und mag sie uns bei solch bedeutenden Dingen wie den Produktionsmitteln oder den Städten, in denen wir leben und in denen wir uns zu verdingen haben, bis wir irgendwann nicht mehr zu gebrauchen sind, oft abstrakt und fern erscheinen – so wird sie doch ganz deutlich und klar, folgt man den eindrücklichen Argumenten derjenigen, deren privater Besitz von Graffiti »bedroht« wird. »Was wäre, wenn ich das in deinem Zimmer oder auf deinem Rucksack machen würde?«, werden die Jugendlichen rhetorisch gefragt, wenn sie das erste Mal beim Sprühen erwischt werden. Damit will man bezwecken, dass sie ihre Zweifel ablegen, die unterbewusst jedem illegalen Sprühen innewohnen, nämlich, ob der Besitz an jedem Ding und jeder Sache wirklich gleichbedeutend ist. Ob also der Privatbesitz an einem Rucksack und an einer mehrere hundert Meter langen Mauer wirklich gleichgestellt werden kann. Rucksack und Mauer können – obwohl sie dem Anschein nach wenig gemein haben – zumindest juristisch gleichgestellt werden, und weil das Besprühen eben bis zur Änderung des entsprechenden Paragraphen 303 im StGB nur als Sachbeschädigung galt, wenn Struktur oder Funktion der Sache durch dieses tatsächlich eingeschränkt werden und das bei vielen Oberflächen erst durch die gewaltsame Entfernung der Graffiti mit Lösungsmittel oder Sandstrahler der Fall war –, manifestierte sich so also eine für das gesellschaftliche Verständnis von Privatbesitz problematische, gut sichtbare Rechtslücke in jedem einzelnen Graffito.
Nach dem Schließen dieser Lücke durch die bereits genannte Gesetzesänderung kann der Staat sich auf die strafrechtliche Verfolgung der begangenen Straftaten konzentrieren und seine Repräsentant*innen aus Politik, Wirtschaft und Kultur müssen sich nicht mehr zu ästhetischen Debatten herablassen, denen ja immer die Anstrengung beiwohnt, die von den Gesetzen der politischen Ökonomie geprägten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens mit irgendeinem ideologischen Anstrich verdecken zu müssen. Anstelle der debilen »Graffiti – Kunst oder Verbrechen?« – Talkrunden der 1990er bis frühen 2000er Jahre, schafft jetzt ein Gesetzestext da Klarheit, wo auch linksradikale Szeneaufkleber und T-Shirt-Sprüchlein in ihrer Verneinung bis heute gefährliche Falschaussagen verbreiten:
graffiti is a crime
Es lohnt sich hier nochmal zu betonen, dass diese Angriffe auf die gängige Vorstellung von Privateigentum das eigentlich Politische im graffiti writing sind und auch, wenn das Sprühen vielleicht aus anderem Antrieb erfolgt, lässt sich das Politische an so etwas heutzutage eigentlich Banalem wie graffiti writing viel mehr im massenhaft begangenen Rechtsbruch und dem sich Hinwegsetzen über Eigentumsgrenzen finden, als in den Inhalten der Graffiti selber. Dies trifft selbstverständlich nur auf die Teile der Welt zu, in denen so etwas wie »Meinungsfreiheit« existiert, man also meistens nicht für den Inhalt der Besprühung bestraft wird, sondern eher für das Besprühen einer fremden Sache an sich.
Sprüher*innen, die besonders betonen, graffiti writing wäre per se unpolitisch, drücken damit ihre Vorstellungen einer Welt aus, in der die zwischen den Menschen und Dingen herrschenden Zwänge und Beziehungen entpolitisiert und damit gewissermaßen naturalisiert werden. So sehr die kritische Distanz zum eigenen Tun zu begrüßen ist, diese im graffiti writing verbreitete Marginalisierung des eigenen Handelns geht meistens Hand in Hand mit der völlig überschätzten ästhetischen oder kulturellen Bedeutung des graffiti writing. Das wirklich Bemerkenswerte sind nicht die Anzahl an Pfeilen, die Leute seit vierzig Jahren in ihre Graffitischriftzüge integrieren oder wie irgendwelche Farbtöne in den Buchstaben ineinander übergehen, sondern eben die zahlreichen Überschreitungen und Rechtsbrüche an sich, welche einen andauernden Kampf zwischen einzelnen Subjekten und den sie umgebenden Regeln und Normen sichtbar machen.
Ebenso wird bestraft (…) wer vorübergehend verändert
Die Graffitigegner*innen, die sich meist mehr als Feinde denn als bewusst denkende Gegner konstituieren und besonders lautstark an der geistigen Gesundheit der Graffitisprüher*innen zweifeln, demonstrieren ihre eigene seelische Verfasstheit gerne mit umfangreichen Forderungen nach Strafe durch Zwangsarbeit (mit der Zahnbürste wegmachen), Verstümmelung (Daumen oder Zeigefinger abschneiden) oder gleich Vergewaltigung mit den Tatmitteln. Als lokales Beispiel sei hier an den Fall der Kneipe »Noch Besser Leben« auf der Karl-Heine-Straße im Leipziger Westen vor einigen Jahren erinnert: Nach dem vermehrten Auftreten von tags im Sanitärbereich der Bar hingen die Betreiber*innen ein großes Plakat ins Schaufenster, auf dem Sprüher*innen zur »größten Geißel der Menschheit« erklärt wurden, gleich nach »Josef Stalin und dem Verbrennungsmotor«, welchen man ihre »Stifte in den Arsch rammen würde«, würde man sie mal zu fassen zu kriegen. Die sexualisierten Gewaltphantasien solcher debilen Gastronom*innen zu entlarven, die bei Graffiti im Kneipenklo an stalinistischen Terror und Umweltzerstörung und nicht an das erweiterte Gästebuch der betrunkenen subkulturellen Kundschaft denken, gehört vielleicht zu den begrüßenswertesten Begleiterscheinungen in Sachen Sachbeschädigung. Doch nur, weil viele Graffitifeind*innen autoritäre und zwanghafte Charaktere mit ausgeprägten Gewaltvorstellungen sind, heißt das dann im Umkehrschluss, Graffitifreund*innen wären hauptsächlich libertäre, aufgeklärte Menschen, die kreativ und friedlich Konflikte lösen und in ihrer Subkultur gesellschaftliche Zwänge und Unfreiheiten aufzulösen oder zu überwinden versuchen? Die Antwort könnte anders lauten als diejenige, welche uns seit über dreißig Jahren aus Hiphop-Propagandafilmchen und den Mündern der geweihten Streetart-Priester*innen entgegenschallt.
getting up & goin down
Die Grundidee des graffiti writing entspricht einer ziemlich konkreten Verlagerung des alle gesellschaftlichen Bereiche bestimmenden Wettbewerbs in eine Subkultur, in der mit anderen Mitteln und neuen Akteuren die gleichen alten Konflikte ausgetragen werden. Man konkurriert miteinander um die vorhandenen Stellen, an denen Graffiti angebracht werden können, also entweder konkrete freie Oberflächen im Stadtraum oder die begrenzte Anzahl an Orten in einer Stadt, an denen Züge besprüht werden können.
Diese Stellen werden durch das einmalige Besprühen (Oberfläche im Stadtraum) oder das mehrfache Besprühen von Zügen an dieser Stelle beansprucht und dieser Anspruch muss dann gegen konkurrierende Akteure verteidigt werden. Gleichzeitig strebt jeder Akteur danach, möglichst viele oder möglichst anspruchsvolle oder möglichst viele anspruchsvolle Graffiti anzubringen. Wer dafür wie viel fame erhält, folgt dabei ebenso komplexen eigenen Gesetzen, wie die zahlreichen Phantasieregeln, mit denen die sogenannte Wirtschaft ihre mannigfaltigen Interessenkonflikte und inneren Widersprüche zu beherrschen versucht. Mit ihnen wird der Kampf um die Krone, also king an einem bestimmten Ort oder in einer bestimmten Teildisziplin von graffiti writing zu werden, geregelt und vermittelt. Es bedarf in diesem streng hierarchisch organisierten game neben unermüdlichem Einsatz und Risikobereitschaft durchaus größerer Talente in Diplomatie oder ersatzweise eines besonders aggressiven Auftretens, um sich im Wettbewerb der Sprüher*innen durchsetzen zu können und die sich daraus ergebenden zahlreichen Nebenkonflikte auszuhalten. Realistisch betrachtet droht aus den Konflikten mit anderen Sprüher*innen oder internen Szeneauseinandersetzungen mindestens genau so viel Stress wie aus der ständigen Verfolgung durch die Exekutive mit exzessivem Einsatz von Technik (Überwachungstechnik aller Art, Helikopter etc.) durch spezialisierte Beamt*innen, die von graffiti writing ebenso besessen sind, wie jene, welche sie verfolgen.
Angesichts dieser Einschränkungen machen die Zusammenschlüsse zu crews besonders Sinn. In crews werden Kompetenzen gebündelt, es wird arbeitsteilig vorgegangen und die Gruppe schützt sich vor Verfolgung. Bei Auseinandersetzungen mit anderen kann die Größe oder der Einfluss der Gruppe, welcher man angehört, entscheidend sein und damit auch die eigenen Möglichkeiten, innerhalb der Subkultur an Einfluss zu gelangen, entsprechend beeinflussen. Oft wird in den Hip-Hop- und Graffiti-Dokumentationen überbetont, wie der eine oder die andere Sprüher*in durch Graffiti vor einem Dasein als verarmte*r Kleinkriminelle*r gerettet wurde. Die Moral dieser Geschichte passt zu der schönen Vorstellung, dass Subkultur einen Ausweg aus Elend und Ghettoisierung bieten kann, verschweigt aber auch, wie viele eben durch die Faszination an graffiti writing erst beginnen, ihre eigenen kriminellen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu entwickeln und zu nutzen. Auch wenn heute beispielsweise der Diebstahl von Sprühdosen nicht mehr so zwingend dazugehört wie in den Anfangstagen des graffiti writing – so setzen manche heranwachsende und erwachsene Vollzeitsprüher*innen ihre kreativen Fähigkeiten logischerweise nicht ausschließlich für das Sprühen ein, sondern schaffen mit Eigentums- und Einbruchsdelikten, Betrug und/oder Betäubungsmittelhandel erst die materiellen Voraussetzungen, um sich weiter intensiv dem graffiti writing widmen zu können. Ebenso oft finden sich aber auch stark bürgerliche Lebensentwürfe und entsprechende berufliche Karrieren – hier arrangiert sich graffiti writing mit legaler Lohnarbeit und Familienplanung. Man weist dann gerne mit etwas Stolz darauf hin, »ganz normal seine Steuern zu zahlen«, während es mit (leerem) Kindersitz auf der Rücksitzbank des Familienkombi zum nächtlichen Sprühausflug geht. Graffiti writing als eigenständige Subkultur, die historisch gesehen nie so viel mit Hip-Hop zu tun hatte, wie oft behauptet wurde, ist und war eine äußerst heterogene Mischung verschiedenster Klassen und Milieus. Welche gemeinsame Erfahrung verbindet also diese, soziologisch gesehen, so vermeintlich unterschiedlichen Charaktere? Außer vielleicht, dass es sich bei ihnen (spoiler alert!) überdurchschnittlich oft um junge und nicht mehr so junge Männer handelt?
Die Stadt als Zelle
Stadtluft macht heutzutage nicht zwangsläufig frei, sondern vor allen Dingen recht zuverlässig krank. Wer es sich leisten kann, flieht vor dem Feinstaub und Lärm an die Stadtränder oder gleich aufs Land, wo sich der Dauerstress der Großstadt, die passende Immobilie vorausgesetzt, zumindest so lange vergessen lässt, bis eine*n irgendein menschliches Bedürfnis dazu zwingt, zum Arztbesuch, Geschäftstermin oder Einkauf in die nächste menschliche Siedlung zurückzukehren.
Nicht wenige können aber gar nicht fliehen und so sitzen sie in den Großstädten fest. Die betonierten Ströme der Stadtautobahnen und eisernen Schienennetze werden zu Gräben, die Wohn- und Geschäftsviertel voneinander abtrennen, die die Stadt zwar mit der Außenwelt verbinden, aber im Stadtraum selbst oft schwer zu überwindende Barrieren darstellen. Erholung versprechen (so sie denn vorhanden und frei zugänglich sind) die Grünanlagen, in denen nach gestalterischen Prinzipien des 19. Jahrhunderts eine kurze Ruhepause auf der überfüllten Liegewiese zwischen Kriegerdenkmal und Ententeich versprochen wird. Die gestresste Stadtbewohner*in kann hier Eis essend schlendern oder liegend und sitzend ein Sedativum nach Wahl genießen und wenn man dann so ein bisschen benebelt die Augen in der tief stehenden Feierabendsonne zukneift, erklingt das Rauschen der Autobahn für einen Moment wie die Brandung eines nahen Meeres.
Wer seine Zeit mit Arbeiten oder Einkaufen verbringen muss, erblickt auf den entsprechenden Wegen die vergoldeten Kuppeln der historischen Gebäude und wird vielleicht an all die großen (Un-)Taten erinnert, die im Namen von König, Kirche, Staat, Wissenschaft und Geschäft in nahen und fernen Ländern begangen worden sind. Am Horizont wiederum ragen gebirgsähnlich die Hochhaustürme der Vorstädte auf und mahnen jene, welche noch im Stadtzentrum wohnen, an den jederzeit möglichen sozialen Abstieg. Von den Türmen selbst aus gesehen ist das Zentrum mit seinen Versprechungen fern. Ihr Blick mag vielleicht frei sein, den in den Vororten Gefangenen aber steht es höchstens frei, die Vorhänge zu schließen oder sich gleich aus den Fenstern ihrer Appartements zu stürzen – sollten sie den Widerspruch zwischen ihrer Armut und dem zum Greifen nahen Reichtum hinter dem kalten Glas der Bildschirme nicht länger aushalten können.
Der ganze Weg zwischen den Hochhäusern am Stadtrand und den Hochhäusern im Zentrum ist vielleicht historisch gewachsen und in der einen Stadt mal von dieser Entwicklung geprägt, in der anderen von jener – aber sie alle sind dann doch auf eine deprimierende Weise gleich. Sie folgen den Bedürfnissen und Ansprüchen des kapitalistischen Normalbetriebs und nicht etwa denen ihrer Bewohner*innen. Da, wo sich unvermeidlich in einem sich ständig verändernden komplexen Gebilde wie Großstädten, kurz oder etwas länger Risse auftun und manche Bewohner*innen den zögerlichen Versuch beginnen, zu gestalten oder Nutzungen voranzutreiben, die nicht ausschließlich den Zwängen der herrschenden Verhältnisse entsprechen, also da, wo so etwas wie eine Idee eines lustvolleren Lebens kurz aufblitzt in der erdrückenden Dunkelheit der Stadtexistenz, da sind dann entsprechend die Bagger mit Polizeischutz auch nicht weit und die Verhältnisse werden wiederhergestellt, also das, was sie bedroht, meist abgerissen und unbrauchbar gemacht oder in eine Variante überführt, die mit den herrschenden Vorstellungen vereinbar ist. Ein in den Bebauungsplan passendes Nutzungskonzept mit abgesicherter Finanzierung vorausgesetzt.
Das Leben in der Stadt macht die gesellschaftlichen Widersprüche besonders deutlich: Man ist umgeben von hunderttausenden oder sogar Millionen anderer Menschen und kann sich doch so einsam fühlen, als wäre man der letzte Mensch auf der Welt. In der Stadt lernt man auch, das Elend der Süchtigen und Wohnungslosen zu akzeptieren. Oft verursachen die Bedingungen, unter denen die Ärmsten ihr Dasein zu fristen haben, entweder eine Art schamvolle Lähmung, oder man wertet sie ab, um den eigenen sozialen Status aufzuwerten. Auch hier manifestiert sich der Wettbewerbsdruck, unter welchem der Verkauf der eigenen Arbeitskraft und die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse stattfinden. Es ist die Hoffnung auf ein besseres Leben und die sich tief ins Bewusstsein eingefressene Lüge dieses aus eigener Kraft erreichen zu können. Die tägliche Gewalt der Unterdrückung lässt die Menschen zu Kämpfer*innen werden, die anstatt sich zusammenzutun und die Bedingungen ihrer Unterdrückung zu beseitigen und zu überwinden versuchen, ihre Lebenskraft und -zeit damit verbringen müssen, für das eigene Überleben und gegen die anderen zu kämpfen.
Diese neoliberale Ideologie, in der behauptet wird, dass gesellschaftliche Stellung und Aufstieg allein von der eigenen Willenskraft und Leistungsfähigkeit abhängen, in der Gesellschaft aufgesplittert wird in Einzelschicksale und der Wettbewerb jede noch so kleine Lebenssphäre erfasst, manifestiert sich auch in einer Subkultur wie graffiti writing deutlich. Während im Rap gerne darüber gesungen wird, wie man sich rücksichtlos gegen die Konkurrenz durchsetzt und mit Gewalt die eigenen Geschäftsinteressen durchsetzt um durch harte Arbeit endlich zu Wohlstand zu kommen, geht es bei graffiti writing um eine abstraktere Form von Erfolg, als endlich möglichst viel von diesem cash zu stacken. Das Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit kann überwunden werden, die fehlende Anerkennung und die als unzureichend empfundenen Möglichkeiten, sich auszudrücken, werden versprochen.
In Bezug auf den städtischen Raum werden die von einer kapitalistischen Stadtplanung und Herrschaftsarchitektur (von der vor Jahrhunderten begonnen baulichen Optimierung der europäischen Großstädte im Sinne der effektiveren Aufstandsbekämpfung bis zu den Waffenverbotszonen und Kontrollbereichen heutiger Zeit) Betroffenen, selbst zu handelnden Akteuren. Das visuelle Erscheinungsbild bleibt nicht länger der Werbung oder dem Farbkatalog der Hausbesitzer*innen (fifty shades of beige) überlassen, sondern wird ge- und zerstört. Auch wenn die einzelnen Bilder und Gestaltungen wieder umfangreichen formalen Regeln unterliegen mögen, so ist jede illegal angebrachte Markierung erstmal auch ein Hinweis auf die Dysfunktionalität von Stadt und Gesellschaft. So wie die Tätowierung der eigenen Haut als rituelle Verletzung unterbewusst den Wunsch ausdrückt, man möge von Schlimmeren verschont bleiben, drückt das Besprühen und Beschriften der Oberflächen eine aggressive Lebenslust aus, die unmittelbar in sich von der Existenz und der Entfremdung derer zeugt, die unermüdlich Nacht für Nacht diese anbringen.
Der Stadtraum wird von ihnen symbolisch erobert und die klare Aufteilung der Stadt mit ihren zahlreichen Betretungsver- und geboten erstmal aufgebrochen. Das Eindringen in Ebenen, die einem normalerweise vorenthalten sind, schließt nicht nur die zahlreichen Lücken in einer Stadt, die zwangsläufig entstehen, wenn man sie ausschließlich so benutzt wie vorgesehen. Es kann auch dazu dienen, im wahrsten Sinne der Worte, hinter die Fassaden zu blicken. Das schwarze Loch der Tunnelöffnung, das sonst erst relevant wird, wenn die Frontlichter des einfahrenden U-Bahnzuges darin auftauchen, ist jetzt das Tor zu einer anderen Welt. Die weit verzweigten Tunnelsysteme zu erkunden und vom Hinterhof bis zur letzten Autobahnbrücke und auf jedes erreichbare Dach zu gelangen, sind Begleiterscheinungen in einer durch graffiti writing beeinflussten Art, sich durch den Stadtraum zu bewegen. Diese Art, die vorgegebenen Wege zu verlassen und sich eigene zu suchen, ist schwer zu kritisieren, aber auch wenn sie oft mit dem Anbringen von Graffiti einhergeht, kann sie auch unabhängig von Graffiti betrieben werden und wird es auch. So lassen sich zum Beispiel auch im skateboarding und ähnlichen urbanen Sportarten und Subkulturen ähnliche Ansätze finden, anders und selbstbestimmter mit Stadt und Stadtraum umzugehen. Dieses »city hacking« ist also allgemein ein Ansatz, der eine neue Auseinandersetzung mit der Beschaffenheit der Städte und möglicher Benutzung schaffen kann. Das intensive Betreiben von graffiti writing führt bei den Akteuren zwangsläufig zu einer tiefgehenden Veränderung der Wahrnehmung. Wer beginnt, sich näher damit zu beschäftigen, dessen Blick weitet sich zu Beginn über das bisherige Sehen hinaus und erfasst Neues: bereits Geschriebenes und potentielle Oberflächen und Orte, auf denen noch geschrieben werden kann. Doch genauso kann die andauernde Beschäftigung mit dem Phänomen zu einer Verengung des Blickes führen, wenn also nicht oder nur noch wenig außerhalb davon wahrgenommen wird. Sowie viele Stadtbewohner*innen über Graffiti hinwegsehen, fällt es dem verengten Blick schwer, noch irgendetwas außerhalb von Graffiti visuell wahrzunehmen. Den Überblick über die sich ständig verändernden Beschriftungen zu behalten und unter Konkurrenz neue Orte und Oberflächen finden zu müssen, können also sowohl zu einem Reichtum an Erfahrungen wie auch zu einer neuen Armut an Eindrücken führen.
Das zwanghafte Beschreiben der eigenen Zelle mag für die (geistigen) Erbauer*innen der Gefängnisse als besonderer Beweis der Degeneration und schädlichen Neigung der Inhaftierten gelten. Das Schreiben und Beschreiben eines feindlichen Ortes, um die eigene Existenz sichtbar zu machen und sich den Ort anzueignen, sich gewissermaßen in den Ort einzuschreiben, ist aber wahrscheinlich eher ein kläglicher Versuch des Subjektes, die steingewordene Ohnmacht um es herum zu ertragen und das Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit zu kompensieren. Analog zu dieser Sichtweise stellt sich die Frage, ob die Beschriftungen der Stadtbewohner*innen wirklich von deren Freiheit zeugen, oder nicht vielmehr Ausdruck ihrer Unfreiheit im erweiterten Stadtgefängnis sind.
Im zweiten Teil dieses Textes wird der Blick nochmal genauer auf die Akteure des graffiti writing gerichtet. Auf Begriffe wie Namen, Arbeit, Effizienz, Risiko, Erfolg und ihre Bedeutung innerhalb der Subkultur. Auf das Geschlechterverhältnis in der Szene und die sich daraus ergebende Unterdrückung nicht-männlicher Personen. Auf die Rekonstruktion von Herrschaft in der Hierarchie einer Subkultur und auf die fragwürdige Neigung, das eigene Ich oder eine Repräsentation davon zur Marke zu machen und diese mit allen verfügbaren Mitteln aggressiv zu bewerben. Und natürlich auch auf die zum graffiti writing gehörende Industrie – denn wer über Scheiße spricht, darf von den Fliegen nicht schweigen.
Konrad T. Augenichts