• Titelbild
• Editorial
• das erste: Die Wiederentdeckung des revolutionären Subjekts Arbeiterklasse als Ausdruck linksidentitärer Sehnsucht
• inside out: Jahresbericht 2019
• sport: Wenn Skateboarding zum Sport wird.
• leserInnenbrief: Bedenke was du trinkst, mein Kind
• position: Freie Zeit mit Corona
• doku: Konzerte in Zeiten von Corona: Livebranche am Abgrund
• doku: Corona und die Ernte
• doku: Corona und der kommende Aufschwung
• doku: Antisexistische Selbstjustiz: Der Richter bist du!
• das letzte: Alleinstellungsmerkmal Herkunft
Wenn ihr dieses Heft in euren desinfizierten Händen haltet, ist das Erscheinen des letzten fast ein halbes Jahr her. So vieles ist seitdem passiert, dass selbst (oder gerade?) die eifrigsten Twitterer die Übersicht verloren haben sollten. Mindestens ebenso lang ist die Liste dessen, was – vermutlich das Unwort dieses Jahres - »coronabedingt« nicht stattfand.
Dass in jenen kulturindustriellen Bereichen, in denen die Mitglieder dieser Gesellschaft für gewöhnlich ihrem Bedürfnis nach Zerstreuung nachgehen, momentan wenig passiert, hat inzwischen auch zum Freiland-Lagerkoller bei vielen, doch eher ›erlebnisorientierten‹ (im Sinne des gerechtfertigten Wunsches nach einer spaßigen Ablenkung vom drögen Arbeits- und Schulalltag) Jugendlichen geführt, wie sich in den vergangenen Wochen in Stuttgart und Frankfurt am Main zeigte.
Verwundert rieb man sich in den »Hochburgen des Linksextremismus« die Augen, dass sich dort ein Haufen unorganisierter Jugendlicher anschickte, den mühsam erkämpften Titel des Randale-Hotspots abspenstig zu machen. Dabei begingen die Youngster in Stuttgart auch nicht den idealistischen Fehler der Linksradikalen, bei Auseinandersetzungen mit der Polizei den ›eigenen‹ Kiez zu demolieren, sondern plünderten die sich in Privateigentum befindlichen Teile eines Stadtzentrums, das ihnen jenseits logistischer Bequemlichkeiten – es ist für die in die Viertel am Stadtrand Verdrängten mit etwa gleichem Aufwand zu erreichen – nicht viel zu bieten hat. Dafür sorgt die Schickeria der selbsternannten Kulturhauptstadt, indem sie den Zugang zu ihrer Konsumwelt preisgestaltend versperrt und die verbliebene Ödnis des öffentlichen Raums als allgemeines Gebot (›Gammeln unerwünscht‹) polizeilich durchsetzen lässt. Für diese Widerspiegelung des in einer Marktwirtschaft notwendigen Egoismus, wurden den an den Plünderungen Beteiligten von der bundesdeutschen Gesellschaft, die, nachdem große Teile des bürgerlichen Lebens staatlich verordnet stillgelegt worden waren, seit Wochen inflationär die nationale Solidarität gepredigt hatte, Unverständnis und Ablehnung entgegengebracht und mit »harten Strafen« (Saskia Esken) gedroht. Das unerwartet schlagfertige Vorgehen gegen wiederholte polizeiliche Gängelungen, im anlassgebenden Fall die Durchsuchung eines Teenagers wegen vermuteten Drogenbesitzes – einem Bagatelldelikt, für das liberaler regierte Bundesländer bei Eigenverbrauchsmengen ihren Staatsanwaltschaften die Einstellung der Ermittlungsverfahren zugestehen -, kam auch bei Linken nicht wirklich gut an. Trotz gemeinsamer Vorbehalte gegenüber der Polizei ließen sich die Ausschreitungen vor dem Hintergrund des Verstoßes gegen die grundlegend befürworteten, staatlich verfügten Kontaktbeschränkungen, der Verschiebung der medialen Aufmerksamkeit weg von Rassismus und rechten Netzwerken bei der Polizei hin zum mangelnden Respekt vorm uniformierten Gewaltmonopol und angesichts des verfolgten Eigen- anstatt eines idealistisch geheiligten Allgemeininteresses nicht einfach in Opfer (»Betroffene«) und Täter, ›gut‹ und ›böse‹, einordnen und erschwerten damit eine offene Parteinahme für die Randalierenden.
Während die studentisch geprägte Linke ihrer Stellung im gesellschaftlichen (Re-)Produktionsprozess entsprechend die Kreativität und Vielfalt der eigenen politischen Proteste als lebenslauftauglichen Erfolg feiert und sich die eher einem Jungprolet-Kult zugeneigten autonomen Straßenkämpfer klammheimlich daran erfreuen, auch ohne finanzielle Not immer mal etwas ›mitgehen‹ zu lassen oder in den Auseinandersetzungen mit der Polizei tugendhaften Stoff für die nächste Szenenkneipenlegende zu erarbeiten, kurz: ihre ›Kämpfe‹ gänzlich post-materialistisch auf einer symbolischen Ebene austrägt, nutzten die Halbstarken in Stuttgart die Gelegenheit der ausgesetzten öffentlichen Kontrolle, um sich persönlich etwas aus den Schaufenstern der Läden anzueignen.
Die in ihren politischen Forderungen auf die Durchsetzung von Rechten fokussierte deutsche Linke plagten angesichts dieses Vergehens am Eigentumsrecht politische Gewissensbisse. In einem Beitrag von Report Mainz schilderte am Schlossplatz Tage später ein Mädchen aus einer Gruppe weißhäutiger Punks, dass sie drei »Kanaken-Jungs« aus ihrer Klasse bei der Polizei angezeigt habe, nachdem diese mit ihren Plünderungen bei der Streetwear-Kette Snipes herum geprahlt hätten.
Zwar forderte keine linke Organisation oder Gruppe die Rückgabe gestohlener Waren, zum Anlass, die privateigentümliche Trennung der Menschen von den Mitteln zu ihrer Bedürfnisbefriedigung offen zu kritisieren (vgl. bspw. den Text von von Ernst Lohoff und Lothar Galow-Bergemann in diesem Heft), nahmen sie die Plünderungen allerdings auch nicht.
Zu ihrem Glück ist die deutsche Polizei immer noch die deutsche Polizei und half deshalb schnell dabei, diese Verlegenheit zu übergehen. »Die zunehmende Gewalt gegen unsere Polizeibeamten ist auch eine Folge der ständigen Anfeindungen der politischen Linken«, behauptete nicht nur Baden-Württembergs CDU-Generalsekretär Manuel Hagel. Auch der Landesvorsitzende der SPD-nahen Gewerkschaft der Polizei, Hans-Jürgen Kirstein, gab der ungelungenen, aber satirisch gemeinten taz-Kolumne von Hengameh Yaghoobifarah eine Mitschuld, so dass Deutschlandfunk-Redakteur Tobias Armbruster sich im Interview zu der Nachfrage genötigt sah, ob er tatsächlich glaube, dass »die Menschen, die da randaliert haben, diese Männer [...] diese Debatte genauso verfolgt« und »auch den taz-Artikel gelesen« haben?
Gefühlt vergeht seit einiger Zeit keine Woche, in der nicht ein neonazistisches Netzwerk innerhalb oder außerhalb der deutschen Repressionsbehörden auffliegt. Da diese Häufung von ›Einzelfällen‹ jenseits von linken Oppositionspolitiker/innen, Journalist/innen, zivilgesellschaftlichen Initiativen und eben der parallelgesellschaftlich eingerichteten ›Szene‹ nur ein Achselzucken hervorruft, zielen die durchsetzten »Sicherheitsbehörden« weiterhin auf die als Netzbeschmutzer empfundene Linke. Insofern scheint sich seit Tucholskys Feststellungen, dass hierzulande »derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher [gilt] als der, der den Schmutz macht«, nicht viel geändert zu haben. Dabei lässt sich der gesamtdeutsche Inlandsgeheimdienst auch von rechten Morden und weiteren Mordplänen nicht irritieren, sondern spekuliert stattdessen über eine mögliche Radikalisierung der Linken hin zu politischen Morden, was selbst die sonst um kein Verständnis verlegene Leipziger Volkszeitung mit dem Satz quittierte: »Was sich liest wie eine rechte Verschwörungstheorie, stammt tatsächlich aus einer Analyse des Bundesamtes für Verfassungsschutz«. Vielleicht findet in den Redaktionsstuben nach dem offensichtlichen PR-Desaster zu den Silvesterkrawallen am Connewitzer Kreuz und dem Auffliegen des kriminellen Vertriebsnetzwerks zur Hehlerei von Fahrrädern in der Sächsischen Polizei und im Besonderen der Polizeidirektion Leipzig (Stichwort: ›Clan-Kriminalität‹) doch noch ein Sinneswandel statt. Wir erwarten nichts, halten aber Vieles für nicht unmöglich.
In Leipzig bleiben die größten Gefahren für Leib und Leben auch in diesem Sommer das Fahrradfahren, das Entfernen von Neonazi-Propaganda in Stötteritz und die Beförderungserschleichung bei der LVB. Also passt auf euch auf!
Wir lesen uns,
eure Redaktion
P.S.: Wir freuen uns weiterhin auch über Zusendungen von Texten und freiwillige und unbezahlte Redaktionsmitarbeit. Meldet euch doch einfach unter newsflyer@conne-island.de
P.P.S.: Auch das Conne Island bleibt von pandemiebedingten Einnahmeausfällen nicht verschont. Falls ihr eurem Lieblingsladen also einen Gefallen tun wollt, schaut trotz mangelnder Veranstaltungsdichte doch wieder einmal vorbei und kauft 'nen Getränk oder sowas.