• Titelbild
• Alle Jahre wieder
• das erste: Die Transformation des Faschismusbegriffs im 20. Jahrhundert
• Fatoni
• Kummer
• Second Encounter
• Schmutzki
• Altın Gün
• position: Unteilbare Gutbürger im Dienst fürs Kapital
• doku: Nicht nur »schwarzer Block«
• doku: Jean Améry
• das letzte: Terrifying low-tech-Terrorism
Dass Pop nicht erst seit gestern ein globales Phänomen ist, gehört zu den Erkenntnissen, die viele Musikbegeisterte den Algorithmen und Wochenplaylisten der populären Streamingdienste zu verdanken haben. Wer sich dort häufiger herumtreibt, bekommt gern mal obskure japanische Ambient-Platten aus den 70ern empfohlen, Disco-Funk aus der Sowjetunion oder äthiopischen Soul-Jazz. Mittlerweile existieren unzählige Labels, die seit langem vergriffene Funk-, Soul- oder Psych-Platten aller Kontinente auf Vinyl wiederveröffentlichen. Nicht wenige einstmals vergessene KünstlerInnen können dank algorithmischem Kuratoriums und Schallplatten-Hype wieder auf Tour gehen und an alte Erfolge anknüpfen. Die Sprache der Popmusik auf den Playlisten dieser Welt ist längst nicht mehr nur Englisch (wenn sie es je wirklich war), sondern ebenso Portugiesisch, Zulu, et cetera. Genregrenzen spielen höchstens noch in arg konservativen Szenen wie Oi! oder Death Metal eine Rolle. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich der technisch vermittelte Eklektizismus der HörerInnen auch in künstlerischen Ausdrucksformen niederschlägt. Neue Bands wie King Gizzard, Khruangbin oder Altin Gün verstehen sich darauf, aus Soundfetzen und folkloristischen Versatzstücken neue Pop-Entwürfe zu entwickeln, die weder nach Retromania noch nach Ethno-Meierei klingen.
Wie es der Zufall so will, werden uns Altin Gün im Februar mit einem Konzert im Eiskeller beehren. »Altin Gün« ist Türkisch und bedeutet übersetzt »goldener Tag«. Den werden wir sicher haben, denn was die Band auf Streams, Tonträgern und Konzerten darbietet, ist voller Wärme, Melancholie und Ekstase. Altin Gün aus Amsterdam bedienen sich großzügig am großen Pop-Baukasten der 60er und 70er Jahre. Spacige Orgeln, funky Basslines und die Klänge der Saz, dem traditionellen Saiteninstrument türkischer, kurdischer, aserbaidschanischer und armenischer Folklore, fügen sich ganz organisch zusammen. Inspiriert ist all dies von Klassikern des anatolischen Folk und Rock. Dessen HeldInnen, darunter Selda Bağcan, Erkin Koray und Neşet Ertaş, stehen nicht nur für die Prägung von »Anadolu rock« als Kunstform, sondern ebenso für eine gesellschaftliche Pluralisierung der Türkei in den 60er und 70er Jahren (die immer von intensiv ausgetragenen Konflikten geprägt war und seit einiger Zeit unter dem Beschuss von Recep Tayyip Erdoğan und seiner Partei AKP steht). Tendierten Altin Gün mit dem ersten Album On noch stärker zum Psychedelic Rock, so schielt die aktuelle Scheibe Gece ganz unverhohlen auf den Disco-Dancefloor.
Der unvergessene Martin Büsser kritisierte solche Herangehensweisen 1997 in seinem Review zu Stereolabs Dots & Loops noch als »Pasticheformen des Pop, eine Verquickung aus alten Popspielarten, die den Sammler & Hörer zum Bestandteil eines Quizes werden läßt.« Im Angesicht der allgegenwärtigen Verfügbarkeit von Kunst aus beinahe allen Ecken und Zeiten der Welt, hat das popkulturelle Bescheidwissen jedoch Reiz wie Schrecken verloren. Befreit von diesem Ballast können wir uns ganz darauf konzentrieren, das Schöne, Aufregende und Vielfältige globaler Popmusik zu ergründen. Altin Gün helfen uns dabei ein wenig.
[Christopher Sprelzner]