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Aktuelles Heft

INHALT #260

Titelbild
Alle Jahre wieder
• das erste: Die Transformation des Faschismusbegriffs im 20. Jahrhundert
Fatoni
Kummer
Second Encounter
Schmutzki
Altın Gün
• position: Unteilbare Gutbürger im Dienst fürs Kapital
• doku: Nicht nur »schwarzer Block«
• doku: Jean Améry
• das letzte: Terrifying low-tech-Terrorism

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Kummer

Hier ist der Name Programm. Dass Einen »verweichlichte Befindlichkeitsscheiße« in einem »Welthass-Selbsthass-Mix« erwartet, macht Kraftklub-Sänger Felix Kummer gleich im Opener seines ersten Solo-Albums Kiox klar.
Pünktlich zum Auftakt des familienfreundlichen #wirsindmehr-Nachfolgeevents Kosmos Chemnitz, das zugleich als Warm-up-Veranstaltung für das hauseigene Kosmonaut-Festival diente, veröffentlichte er Anfang Juli die erste Single-Auskopplung seines neuen Albums, dessen Titel 9010 auf eine Postleitzahl der früheren Karl-Marx-Stadt verweist. Das Lied handelt von seinen Gefühlen beim unerwarteten Wiedersehen eines Neonazi-Peinigers aus Jugendtagen. Angesichts dessen miserabler persönlicher und sozialer Lage und dem Verrat der ehemaligen Kameraden weicht sein Bedürfnis nach Häme und Rache einem Anklang von Mitleid.
Zeitgleich veröffentlichte Spiegel Online auch ein Interview mit dem Rapper, in welchem dieser zur Situation in seiner Heimatstadt nach den neonazistischen Jagdszenen und Aufmärschen im Zuge des tödlichen Messerangriffs auf den Deutsch-Kubaner Daniel H. am Rande des Stadtfestes im vergangenen Spätsommer befragt wurde. Im Gespräch plädiert Kummer für ein Ende des Zuhörens gegenüber den vielbemühten besorgten Bürgern: »jetzt wurden die Unerhörten drei Jahre lang in jeder Talkshow angehört. Und daher ist es jetzt an der Zeit, Verantwortung zu übernehmen: Wenn du jetzt noch AfD wählst, dann stärkst du ganz bewusst rechtsradikale Strukturen. Das ist keine Professoren-Partei mehr, das sind keine intellektuellen Euro-Kritiker mehr, da sind stramme Faschos in dieser Partei.« Angesichts der Wahlerfolge trotz oder gerade wegen bekanntermaßen rechtsradikalen Spitzenkandidaten auf Landesebene wie Andreas Kalbitz und Björn Höcke mag dieser Appell ans bürgerliche Gewissen etwas hilflos wirken, doch hinzukommt: er trifft die Sache nicht so recht.
Eine Studie, in der gerade die ebenfalls vielbemühten Professoren in der AfD befragt wurden, kam dem Soziologen Nils C. Kumkar zufolge nämlich bereits 2014 zum Ergebnis, »dass der wirtschaftsliberale Diskurs der Partei in vielerlei Hinsicht eine Artikulationsform des ›Rechtspopulismus‹ und nicht dessen Gegensatz sei. Die relative Krisenfestigkeit der bundesdeutschen Volkswirtschaft biete die Möglichkeit, sich den anderen europäischen Nationen nicht nur wirtschaftlich, sondern auch moralisch überlegen zu fühlen.« Die Autor/innen der Studie, David Bebnowski und Julika Förster, sprachen in diesem Zusammenhang von einem »Wettbewerbspopulismus«.
Die Durchsetzung dieser nationalen Überlegenheit gegen die gesellschaftlich Ausgegrenzten übernehmen im Innern üblicherweise neonazistische Banden, deren Mitglieder, wie der eingangs erwähnte Peiniger aus Kummers Jugend, nicht selten selbst zum ›sozialen Bodensatz‹ der Gesellschaft gehören.
»Na ja, wenn ich früher von denen durch die Stadt gejagt wurde, kam ich natürlich nicht auf den Gedanken, mich zu fragen, was deren Motivation ist und dass da sicher auch einiges im Argen liegt. Das habe ich erst jetzt, Jahre später, reflektiert«, erklärte der Musiker Spiegel Online. »Da denkst du dann schon manchmal: Oh Mann, du armes Schwein! Aber der Song soll nicht als Verständnis missverstanden werden«, stellte er zugleich klar. »Verständnis bringt gar nichts. Wo ich herkomme, gibt es eine ganze Menge Leute, die diese Opfergeschichte vor sich hertragen. Klar, die Wende ist damals anders verlaufen als erhofft, und die Treuhand hat die Betriebe abgewickelt. Aber das ist noch lange kein Grund, jetzt die Faschisten in den Landtag zu wählen.«
Mit diesem Statement hat der Kraftklub-Sänger, immerhin recht erfolgreicher Vorkämpfer einer selbstironisch-selbstbewussten Identität der ostdeutschen Jugend als nationalem Underdog jenseits der Fußball-Fanszene, mehr verstanden als beispielsweise die um eine selbstbewusste ›es war nicht alles schlecht‹-Identität der Ostdeutschen bemühten Kümmerer von Aufbruch Ost. Einen Zusammenhang mit der Treuhand, allerdings ganz anderer Art, hat das Ganze dann aber doch. Denn AfD-Gründer Bernd Lucke war 1990 wissenschaftlicher Referent beim Sachverständigenrat zur Einführung der Sozialen Marktwirtschaft in der DDR und gelangte, jeder national-sozialen Befindlichkeit fremd, in seiner Untersuchung der Privatisierungspolitik im Beitrittsgebiet ganz wettbewerbspopulistisch zu dem Schluss, dass durch die Treuhandanstalt, um »ein höheres Investitionsvolumen und größere Beschäftigung für Ostdeutschland zu sichern«, »zugesagte Investitionen [...] in einzelnen Branchengruppen zu möglicherweise weit mehr als 100% effektiv vom Staat finanziert worden [sind … und a]uch die für Arbeitsplatzzusagen aufgewandten Mittel [...] das volkswirtschaftlich sinnvolle Maß u. U. deutlich überschritten« hätten. Kurz: Volkswirtschaftlich gesehen war der Anschluss der DDR ein Minusgeschäft für den westdeutschen Staat (nicht sein hier unberücksichtigtes Kapital!). Dabei hatte der Sozialdemokrat und Wegbereiter der AfD, Thilo Sarrazin, als Leiter der Arbeitsgruppe »Innerdeutsche Beziehungen« im Bundesfinanzministerium bereits einen »offensiven Lösungsweg« zur Währungsunion erarbeitet. Zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West, Stichwort Dienstleistungsgesellschaft, empfahl er 1989/90 »Freisetzungen«, also Entlassungen, von 35-40% der Industriearbeiter in der DDR (das entsprach ca. 1,4 Mio. Beschäftigten), um den »in der Bundesrepublik übliche[n] Anteil der Industriebeschäftigten an der Wohnbevölkerung« zu erreichen. Lucke hielt das volkswirtschaftlich betrachtet für noch zu wenig. Dem Wähler/innenpotenzial der AfD in Ostdeutschland hat es nicht geschadet, sondern einen fruchtbaren Boden bereitet. Mit der Abhängigkeit von westdeutschen Transfergeldern haben sich die Ostdeutschen nach einigen verlorenen sozialen Kämpfen über die Jahre arrangiert, so lange sie sich diese im europäischen Vergleich noch als nationales Vorrecht gutschreiben konnten. Der Anspruch »Wir zuerst!« dient weiterhin als ideologische Klammer bei der politischen Formierung von Nationalliberalen wie -sozialisten. Jenen, die heute mit »Herr im Haus«-Mentalität unter dem Slogan Wende 2.0 für eine völkische Fortsetzung mit der AfD eintreten, wird Kummer an diesem Abend mit dem Song Alle Jahre wieder den Spiegel vorhalten.

[shadab]

13.12.2019
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