• Titelbild
• Alle Jahre wieder
• das erste: Die Transformation des Faschismusbegriffs im 20. Jahrhundert
• Fatoni
• Kummer
• Second Encounter
• Schmutzki
• Altın Gün
• position: Unteilbare Gutbürger im Dienst fürs Kapital
• doku: Nicht nur »schwarzer Block«
• doku: Jean Améry
• das letzte: Terrifying low-tech-Terrorism
Am 1. Oktober 2019, dem 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China hatte die Massenbewegung in Hongkong die Nase vorn: Viele (ausländische) Medien verbreiteten mehr Berichte und Fotos von den gewaltsamen Zusammenstößen und dem ersten Schuss mit scharfer Munition auf einen Protestierenden durch die Polizei in Hongkong als über die große Militärparade des KPCh-Regimes mit all ihren schillernden Waffensystemen in Beijing. Was als guter Tag für die Propaganda des Regimes gedacht war, wurde eher zu einem PR-Desaster.
Am 4. Oktober leitete die Regierung von Hongkong einen neue Phase der Auseinandersetzung ein. Auf Grundlage eines Notstandsgesetzes, das seit den Riots 1967 gegen die britische Kolonialmacht nicht mehr eingesetzt worden war, verbot sie die Vermummung bei Protesten, ein Versuch, die polizeilichen Eingreifmöglichkeiten zu stärken und die Bewegung zu schwächen. In den folgenden Tagen kam es zu wütenden Protesten gegen das Vermummungsverbot. Eine Abschwächung oder Entspannung der Konfrontation ist derzeit nicht abzusehen – und schon gar keine Lösung.
Eskalation der Gewalt
Nach vier Monaten, und trotz der gewaltsamen Zusammenstöße und der Zerstörung, wird die Bewegung weiter von einem großen Teil der Bevölkerung Hongkongs unterstützt. Der ursprüngliche Auslöser – das Auslieferungsgesetz – wurde Anfang September vollständig zurückgenommen, aber die Bewegung war bereits lange vorher weit ambitionierter geworden – in ihren Aktionen und Forderungen: Sie will die Entstehung eines Polizeistaats verhindern, den Einfluss des KPCh-Regimes in Hongkong beschränken und mehr demokratische Kontrolle über die Stadtregierung gewinnen. Immer noch nehmen Massen an den Straßenprotesten teil, oft auch wenn diese gleichzeitig in mehreren Stadtteilen stattfinden.
Die Regierung Hongkongs hat in letzter Zeit die meisten Demonstrationen verboten, sodass alle, die trotzdem auftauchen, ihre Verhaftung und juristische Verfolgung riskieren. Friedliche Versammlungen, ob erlaubt oder verboten, münden nun schneller als bisher in gewaltsamen Auseinandersetzungen, selbst bei Tageslicht. Zu den Protesten hinzugelangen und von dort wieder wegzukommen ist ebenfalls schwieriger geworden, weil die U-Bahn-Gesellschaft der Stadt, die MTR, regelmäßig Stationen in Protestregionen schließt. Sachbeschädigungen (die in letzter Zeit oft Brände einschließen) haben zugenommen, nicht nur in MTR-Stationen, sondern auch gegen Geschäfte und Unternehmen, deren Management die »Randalierer« kritisiert haben, gegen Firmen, die mit der Volksrepublik China verbunden sind, wie bestimmte Banken oder Reisebüros, gegen öffentliche Überwachungstechnik und gegen Regierungsgebäude.
Es gibt immer noch Zusammenstöße zwischen Protestierenden und Gruppen, die pro-Beijing sind, wobei in der Regel Leute beider Seiten am Rande von Demonstrationen angegriffen werden. Nicht zuletzt haben sich die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und der Polizei weiter verschärft. Während die Polizei weiterhin brutale Gewalt einsetzt in Form von Tränengas, Beanbag- und Gummigeschossen, Knüppelattacken und kürzlich auch gezieltem Schusswaffengebrauch, haben die Protestierenden in der ersten Reihe mit direkteren Angriffen auf Polizisten reagiert, zuweilen mit Molotow-Cocktails, Stangen oder anderen Waffen.
Diese Gewalteskalation stellt offensichtlich eine gefährliche Entwicklung dar – für alle Seiten. Den Protestierenden könnte eine noch schärfere Repression bevorstehen, wenn die Polizei Hongkongs weitere Notstandsbefugnisse erhält oder das KPCh-Regime mit Einheiten der Bewaffneten Volkspolizei oder der Volksbefreiungsarmee interveniert. Die Regierung Hongkongs und das KPCh-Regime könnten mit einer weiteren Eskalation der Situation die wirtschaftliche Rolle Hongkongs für das chinesische und das ausländische Kapital zerstören, und dass könnte auch Auslöser sein für noch ernsthaftere soziale und politische Spannungen in Hongkong und anderswo in der Region.
Verzerrte Perspektive
Brennende Barrikaden, der ›schwarze Block‹ und der Kampf gegen die Polizei in Hongkong ziehen Aufmerksamkeit auf sich – aber die gewalttätigen Zusammenstöße sich nur ein Gesicht der Bewegung. Der Fokus auf die Gewalt in Medienberichten aus Hongkong führt gar zu einer falschen Vorstellung von der Bewegung insgesamt. Ihre Massenbasis, die Entschlossenheit und Hartnäckigkeit der Protestierenden und die anhaltenden Unterstützung für gewalttätige Protestformen lassen sich nur verstehen, wenn wir uns die tieferen Wurzeln der Bewegung in der Gesellschaft Hongkongs und ihre täglichen Praktiken anschauen.
Die Protestbewegung Hongkong ist immer noch vielfältig und schließt unterschiedliche Gruppen, Interessen und Aktionsformen ein – die meisten davon übrigens ›friedlich‹. Zu den beteiligten sozialen Gruppen gehören Schüler*innen und Student*innen, Arbeiter*innen (darunter viele Dienstleitungsarbeiter*innen und Angestellte, zum Beispiel aus dem Finanzsektor), Lehrer*innen und andere öffentliche Angestellte, Rentner*innen und andere. Diese Gruppen setzen eine Reihe von Aktionsformen ein, Protestdemonstrationen und Kundgebungen, Straßenblockaden, gemeinsamer Gesang in Einkaufszentren, Versammlungen am Arbeitsplatz, das Rufen von Parolen der Bewegung aus dem Fenster zuhause zu einer bestimmten Zeit am Abend usw. Arbeiter*innen aus dem Gesundheitssektor fallen auf, weil sie für die Protestierenden Erste Hilfe leisten, aber auch in Krankenhäusern Proteste organisiert haben.
In einem Interview hat kürzlich eine anarchistische Gruppe interessante Praktiken verschiedener Unterstützer*innen der Bewegung aufgelistet:
»Als Reaktion auf Teenager, die kein Zuhause haben, in das sie zurückkehren könnten – weil sie von ihren Eltern praktisch ›verstoßen‹ wurden wegen ihrer Teilnahme an Demonstrationen –, und die nun während des Ausnahmezustands auf der Straße verbleiben, haben Leute ein Netzwerk von offenen Wohnungen gebildet, in dem die jungen Partisan*innen Zuflucht finden und sich vorübergehend aufhalten können. Weil Minibusse, Busse und U-Bahnen für Protestierende auf der Flucht nicht länger sicher sind, wurde über Telegram ein Netzwerk für Fahrgemeinschaften gegründet, ›um die Kids von der Schule abzuholen‹. Wir trafen ältere Fahrer, die nicht mal wussten, wie Telegram funktioniert, und dennoch immer wieder die übers Radio angesagten ›Brennpunkte‹ anfuhren und nach rennenden Protestierenden Ausschau hielten, die schnell eine Fahrgelegenheit raus aus der Gefahr brauchten. Als sie von jungen Leuten hörten, die keine Arbeit haben oder einfach nicht genug Geld, um sich an der Front mit Lebensmitteln zu versorgen, organisierten arbeitende Menschen Coupons von Supermärkten und Restaurants und übergaben diese vor größeren Auseinandersetzungen an Leute in voller Montur. […] In Reaktion auf das Leid, das Trauma und die Schlaflosigkeit bei denen, die über längere Zeit dem Tränengas und der Polizeigewalt ausgesetzt sind, ob in eigener Person oder über die visuellen Live-Feeds, tauchten Unterstützungsnetzwerke auf, die Beratung und Betreuung anbieten. Weil Kids nicht genug Zeit haben, ihre Hausaufgaben zu machen, nachdem sie die ganze Nacht auf der Straße waren, wurden Telegram-Channels eingerichtet, die kostenlose Nachhilfe offerieren. Nachdem Schüler*innen und Student*innen ›nicht am Unterricht teilnehmen konnten‹, weil sie im Streik waren, organisierten Leute an Schulen und auf öffentlichen Plätzen Seminare zu allen möglichen politischen Themen, die sich positiv auf die Sache bezogen. Mittlerweile haben Leute auf Telegram Chat-Räume angefangen, für die sich Protestierende interessieren könnten; wir sind auch gerade dabei, einen zu starten. Die Themen mögen technisch sein (wie lässt sich ein Fahrscheinautomat der U-Bahn zerlegen, wie komme ich durch das Drehkreuz, ohne zu bezahlen), historisch (letztlich sahen wir einen über die Französische Revolution), spirituell oder zu Selbstverteidigung und Kampfsport. Alle diese Bemühungen sind atemberaubend ihn ihrer Breite und Wirkung. Affinitätsgruppen werden gegründet zum Bauen von Molotow-Cocktails und ihrem Austesten im Wald. Andere bilden Freundschaften und Vertrauen auf, indem sie im Wald Kriegsspiele üben und dabei das Kreuzfeuer mit der Polizei simulieren. Spontane Kampfsport-Dojos werden in Parks und auf Häuserdächern eingerichtet…«
Andere Beispiele von Protestierenden, die für besondere Zwecke zusammenkommen, sind das ›Propaganda-Team‹, das sich aus Grafikern und anderen zusammensetzt und Tausende Poster und Flugblätter erstellt hat, die in Telegram-Gruppen zirkulieren und in der Stadt aufgehängt werden. Die ›Pressekonferenz des Volkes‹ wurde im August gebildet als Reaktion auf die tägliche Pressearbeit der Polizei Hongkongs. Diese Leute haben Verbindungen zum Online-Forum LIHKG und sprechen über die Ereignisse aus der Perspektive der Protestierenden. Andere Teams wurden für spezielle Aktionstage gegründet, wie für den Streik am 5. August oder die ›Menschenkette‹ am 23. August, oder für besondere Zwecke wie die Einrichtung und die Betreuung von ›Lennon Walls‹ (mit Informationen zur Bewegung auf Stickern, Postern usw.) in Nachbarschaften.
Auch wenn die Bewegung keiner bestimmten (linken oder rechten) Strömung zugeordnet ist und keine formellen Anführer oder Vertreter*innen hat, nehmen dennoch Leute von verschiedenen politischen Gruppen und Organisationen teil. Dazu gehören Leute der ›pan-demokratischen‹ Parteien (›Liberale‹ oder ›Sozialdemokraten‹ im weiteren Sinne), die an die Front gehen und Polizeiaktionen beobachten, während ihre Menschenrechtsorganisationen Demonstrationsgenehmigungen beantragen und auch für verhaftete oder verletzte Protestierende juristische Unterstützung leisten oder medizinische Kosten tragen.
›Lokalistische‹ Parteien und verwandte Organisationen (quasi ›Nationalisten‹, von Leuten, die an ›Demokratie‹ und ›Selbstbestimmung‹ in Hongkong glauben, bis zu rechten und rassistischen Gruppen, die gegen Migrant*innen aus China und anderen asiatischen Ländern mobilisieren) spielen eine gewissen Rolle, zum Beispiel auch für die Organisierung von Demonstrationen und die Beantragung für deren Genehmigung und in der Bereitstellung juristischer oder finanzieller Unterstützung für verhaftete Protestierende.
Linke Aktivist*innen und kleinere linke Gruppen sind auch beteiligt an (einigen) Protesten – in den Foren, mit Flugblättern, gesprühten Parolen, Filmvorführungen und anderen Interventionen –, trotz der moderaten Forderungen der Bewegung und dem Fehlen einer Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen.
All diese täglichen Aktivitäten verschiedener sozialer Akteure und politischer Gruppen sind Teil der kollektiven Erfahrung der Bewegung. Sie sind die Basis für ihre Entschlossenheit, den Kampf fortzusetzen trotz der gewaltsamen Angriffe der Polizei, der hohen Zahl an Verhaftungen und der Weigerung der Regierung Hongkongs und des KPCh-Regimes hinter ihr, wesentliche politische Zugeständnisse zu machen.
von Ralf Ruckus