Mo Di Mi Do Fr Sa So 
00 00 00 00 00 00 01 
02 03 04 050607 08 
09 10111213 14 15 
16 17 18192021 22 
23 24 25 26 27 28 29 
30 31 

Aktuelle Termine

CEE IEH-ARCHIV

#254, Februar 2019
#255, März 2019
#256, April 2019
#257, Mai 2019
#258, September 2019
#259, November 2019
#260, Dezember 2019

Aktuelles Heft

INHALT #259

Titelbild
Editorial
Roboterkommunismus – nur eine Utopie?
Ceremony
• position: Unteilbare Gutbürger im Dienst fürs Kapital
• position: Über die Islamisierung der Universität und die Verblödung der Studenten
• doku: Was bleibt von der Welt am Ende des Monats?
• doku: System Change Not Climate Change
• doku: Außer Kontrolle
• doku: Vergeblich Erdöl säen
• das letzte: Grün-braune Heimatliebe

LINKS

Eigene Inhalte:
Facebook
Fotos (Flickr)
Tickets (TixforGigs)

Fremde Inhalte:
last.fm
Fotos (Flickr)
Videos (YouTube)
Videos (vimeo)

Auf Wunsch der Infoladen-Crew dokumentieren wir den folgenden, um die Online-Verweise gekürzten Text, der zuerst am 9. September auf dem Blog des Autors ( https://naoqingchu.org ) erschienen ist. Ralf Ruckus hat zuletzt im Januar Chinas neuen ›Imperialismus‹ und die Konfrontation mit den USA im Conne Island vorgestellt und wird zu Beginn des nächsten Jahres erneut eingeladen.



Außer Kontrolle

Hongkongs aufständische Bewegung und die Linke

Der folgende Beitrag ist das Ergebnis jüngster Diskussionen mit Protestierenden und linken Aktivisten in Hongkong. Er gibt einen kurzen Überblick über die eskalierte Konfrontation und behauptet, dass das weitgehende Wegschauen der globalen Linken ein Fehler ist. Die Bewegung fordert trotz ihrer Beschränkungen das rechte Regime der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) ernsthaft heraus und könnte der Auftakt sein für weitere Kämpfe gegen die kapitalistischen Verhältnisse in Hongkong, der Volksrepublik China und anderswo.

Große Demonstrationen, Kundgebungen, gewaltsame Auseinandersetzungen, Tränengas und Wasserwerfer, brennende Barrikaden, Angriffe auf Polizeiwachen, Blockaden von Straßen und U-Bahnlinien, Streiks und mehr – dies sind die dramatischen Formen der gegenwärtigen Massenbewegung in Hongkong. Sie wuchs im Juni 2019 stark an in Reaktion auf ein geplantes Auslieferungsgesetz, dass die Übergabe vermeintlicher Krimineller an die Unterdrückungsorgane der Volksrepublik China erlaubt hätte. Bis September eskalierte die Bewegung und wurde zur massivsten sozialen Konfrontation in Hongkong seit den Aufständen gegen die britische Kolonialmacht 1967. Und da Hongkong ein halbautonomer Teil von China mit bestimmten ›demokratischen Freiheitsrechten‹ ist, seit die Stadt 1997 von Britannien an China zurückgegeben wurde, stellt die Eskalation des Konfliktes auch eine ernsthafte Herausforderung für das Regime der KPCh dar.
Westliche Politiker (und Mainstream-Medien, die der KPCh kritisch gegenüberstehen) beschreiben die Bewegung als eine »für Demokratie und Freiheit« – und ignorieren gar deren gewalttätige Taktik oder bezeichnen sie einfach als Reaktion auf Polizeigewalt. Sie sehen Chinas globale Expansionspolitik als Bedrohung ihrer eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen und wollen diese Chance nutzen, um Chinas Position und Einfluss zu schwächen. Die westliche liberale und institutionelle Linke wiederholt die Hymne auf »Demokratie und Freiheit« auf die gleiche Art, wie sie ansonsten unter Zuhilfenahme von Menschenrechtsargumenten die Interessen national-kapitalistischer Regime verteidigt. Dass ein Teil der orthodoxen Linken stattdessen die Position des KPCh-Regimes unterstützt, ist kaum überraschend angesichts ihrer überholten ›anti-imperialistischen‹ Reflexe und ihres mangelnden Verständnisses des kapitalistischen Wesens der KPCh.
Die entscheidende Frage ist, warum die antikapitalistische Linke weitgehend schweigt und kaum auf die Eskalation des Konfliktes in Hongkong reagiert. Wird sie von den Mainstream-Berichten geblendet und will keine bloße ›Demokratie‹-Bewegung unterstützen? Glaubt sie den Behauptungen der orthodoxen Linken, dass China immer noch ›sozialistisch‹ wäre? Wird sie von den nationalistischen und rassistischen Diskursen eines Teils der Bewegung in Hongkong oder den Bitten um Unterstützung an die US-Regierung abgeschreckt? Oder befindet sich Hongkong, das keine lange Geschichte größerer und ausdrücklich linker politischer Bewegung hat, einfach außerhalb des Radars der antikapitalistischen Linken und ist ›zu weit weg‹, um sich darum zu kümmern?
Immerhin handelt es sich bei der gegenwärtigen Konfrontation zwischen der Protestbewegung und den Regierungen von Hongkong und China um einen wichtigen historischen Bruchpunkt. Ein Blick auf die unterschiedlichen Entwicklungsphasen der Bewegung zeigt, dass sie a) radikale Formen von Bewegung und Kampf hervorgebracht hat, b) den bestehenden sozialen Konsens über die Beziehung zwischen Hongkongs Bevölkerung, der Regierung und der Polizei gebrochen hat und c) Hongkongs Rolle für Chinas Kapitalismus (wie auch den globalen) zu zerstören droht.
Der Ausgang der Konfrontation ist noch offen, aber die antikapitalistischen Linke sollte die Entwicklung genau analysieren und diejenigen Strömungen innerhalb der Bewegung unterstützen, die progressives Potential haben.


Phasen

Die Bewegung nutzt die Erfahrungen früherer Mobilisierungen seit der Übergabe 1997, vor allem der Regenschirmbewegung von 2014, als Zehntausende von Chinas Regime »freie Wahlen« in Hongkong forderten und wochenlang ein großes Gebiet vor Hongkongs Parlament besetzten – bevor sie abgeräumt wurden, ohne ihr Ziel zu erreichen.
Die erste Phase der gegenwärtigen Mobilisierung begann im Februar 2019, als die Hongkong-Regierung das Auslieferungsgesetz ankündigte. Anschließend gab es einen öffentlichen Aufschrei und mehrere friedliche Demonstrationen.
Da die Regierung die Gesetzgebungsprozedur nicht stoppte, folgte die zweite Phase ab dem 9. Juni. Nach mehreren Massendemonstrationen mit bis zu zwei Millionen Beteiligten im Zentrum Hongkongs – erstaunlich, wenn wir bedenken, dass die Stadt nur 7,5 Millionen Einwohner hat – kam es zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei, bei denen diese Tränengas, Gummi- und beanbag-Geschosse gegen Demonstranten einsetzte, die Barrikaden bauten und die angreifenden Polizeikräfte mit Gegenständen bewarfen. Die Hongkong-Regierung setzte das Gesetzgebungsverfahren für das Auslieferungsgesetz am 15. Juni aus, ohne es jedoch ganz zurückzunehmen. Mittlerweile hatte die Hongkong-Regierung bereits jedes Vertrauen des Großteils der Bevölkerung verloren.
Die Bewegung formulierte nun fünf Forderungen: 1) Die vollständige Rücknahme des Auslieferungsgesetzes, 2) den Ausschluss von Anklagen wegen ›Aufstand‹ (riot, Landfriedensbruch) gegen Protestierende, 3) die Freilassung verhafteter Protestierender und das Fallenlassen aller Anklagen gegen sie, 4) eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt und 5) die Einführung echter allgemeiner Wahlen (zuweilen auch der Rücktritt von Carrie Lam, der Hongkonger Regierungschefin). Die zweite Phase endete am 1. Juli, als während einer großen Demonstration Hunderte Militanter ins Parlamentsgebäude eindrangen und es verwüsteten.
In der dritten Phase entschied die Bewegung, sich in andere Stadtteile auszudehnen. Diese Aktionen sollten die Proteste anderen Teilen der Bevölkerung Hongkongs näherbringen, aber auch Besuchern und Immigranten aus China die Ziele der Bewegung erklären. Weniger Menschen nahmen teil als zuvor, bis die Situation sich am 21. Juli wieder änderte, als Hunderte Männer mit ›weißen Hemden‹ von örtlichen (pro-KPCh) Triaden in einer Vorstadt-U-Bahnstation heimkehrende Protestierende angriffen und verletzten. Die offensichtliche Kollaboration von Polizei und Triaden bei dem Angriff stieß auf öffentliche Empörung. Die Polizei selbst wurde nun zum Ziel von Wut und Hass eines großen Teils der Hongkonger Bevölkerung, und eine Spirale von zunehmend gewalttätigen Aktionen und Gegenaktionen begann. Überraschenderweise sind die gewaltsamen Angriffe auf die Polizei bisher von der Mehrheit der Protestierenden unterstützt (oder wenigstens toleriert) worden, weil sich herausgestellt hat, dass die Regierung kaum auf ›friedliche‹ Demonstrationen regiert.
Die Protestierenden änderten ihre Taktik weiter und machten ›Flashmob‹-Aktionen, indem sie in einem Stadtteil Straßen blockierten, Barrikaden bauten usw. und dann mit der U-Bahn in andere Stadtteile fuhren, um dort das Gleiche zu tun, immer bestrebt, der Polizei einen Schritt voraus zu sein – eine Taktik, die sie selbst als »wie Wasser sein« beschreiben (unter Bezug auf ein Zitat von Bruce Lee). Die Polizei hat unterdessen bei Ausstattung und Taktik nachgerüstet, mit mehr Schutzausrüstung, neuen Waffen, verdeckten Polizisten, die sich als Protestierende ausgeben, und flexibleren und aggressiveren Angriffsformen. Der Höhepunkt dieser Phase war der 5. August, als Hunderttausende einem Streikaufruf nachkamen, die U-Bahn zum Stillstand brachten und Massendemonstrationen mit koordinierten Angriffen auf mehrere Polizeiwachen stattfanden. Danach konzentrierten sich die Demonstranten auf den Flughafen, ein zentraler und wirtschaftlich wichtiger Transportknotenpunkt nicht nur für die Stadt, sondern die gesamte Region. Er wurde am 12. und 13. August teilweise lahmgelegt.
Die vierte (und noch laufende) Phase begann mit der Entscheidung der Bewegung, die gewaltsamen Konfrontationen zu unterbrechen und ihre Kräfte neu zu formieren. Friedliche Demonstrationen am 17. und 18. August, letztere mit 1,7 Millionen Teilnehmern, zeigten die immer noch massive Unterstützung der Bewegung, ebenso wie die (von einer ähnlichen Aktion im Baltikum 1989 inspirierte) Menschenkette von mehreren Hunderttausend am 23. August.
Da die Regierung weiter keine Zugeständnisse machte, kam es ab dem 24. August wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die Polizei befahl der U-Bahn-Gesellschaft, in den Protestregionen Stationen zu schließen, setzte weiter auf Tränengas, Gummigeschosse und brutale Knüppelangriffe und begann kürzlich mit dem Einsatz von Wasserwerfern. Die Protestierenden griffen zu Molotowcocktails, zündeten Barrikaden an, verwüsteten U-Bahnstationen,und blockierten Bahnverbindungen und Straßen zum Flughafen. Am 2. September kehrten die Studierenden und Oberschüler aus den Sommerferien in die Schulen und Hochschulen zurück und begannen mit Streikaktionen. Am 4. September erfüllte Carrie Lam tatsächlich die erste Forderung und nahm das Auslieferungsgesetz zurück, aber das hat weitere Auseinandersetzungen nicht verhindert.
Warum eskalierte die Bewegung von friedlichen Demonstrationen gegen ein Gesetz zu einer großen und teilweise gewalttätigen Bewegung gegen die Polizei, die Stellung der Hongkonger Regierung und den Einfluss des KPCh-Regimes? Als Britannien und China die Übergabe vereinbarten und das »Basic Law« als Verfassungsdokument formulierten, das Chinas Regel ›Ein Land, zwei Systeme‹ nach 1997 definierte, erwarteten die Menschen in Hongkong und anderswo, dass sich China ändern und demokratischer werden würde im Zuge seiner Industrialisierung, Urbanisierung und Integration in die Weltwirtschaft. Stattdessen hat sich China nicht in diese Richtung bewegt, sondern nicht nur sein autoritäres Unterdrückungsregime verschärft, sondern auch seine wirtschaftlichen und politischen Eingriffe in Hongkong verstärkt.
Heute erwarten viele Menschen in Hongkong, dass China gar nicht bis 2047 warten wird, dem offiziellen Ende des ›Ein Land, zwei Systeme‹-Arrangements. Das Auslieferungsgesetz wird als weitere Bedrohung der relativen Freiheiten der Meinungsäußerung und Vereinigung sowie einer ›Rechtsstaatlichkeit‹ wie im Westen gesehen. Protestierende wähnen sich in der ›letzten Schlacht‹, erkennen eine letzte Chance, die vollständige Übernahme und die Einführung eines noch repressiveren Regimes durch China zu stoppen.
Außerdem leiden viele Menschen in Hongkong, vor allem jüngere, unter der immensen soziale Ungleichheit in der Stadt, den hohen Mieten und relativ niedrigen Löhnen, dem Wettbewerb mit chinesischen Einwanderern um Jobs, Wohnungen und Sozialleistungen. Sie spüren, dass Chinas wachsender Einfluss ihre wirtschaftliche Situation weiter verschärfen wird, wenn sie nichts dagegen tun.


Organisierter Kampf

Wenigstens ein Drittel der Bevölkerung Hongkongs (2,5 Millionen Menschen) hat aktiv an der Bewegung teilgenommen – wahrscheinlich ein Weltrekord. Die Bewegung ist heterogen, mit Menschen unterschiedlichen Alters, Geschlechts, verschiedener sozialer Position und Berufe: Oberschüler, Studierende, Büroangestellte, öffentliche Bedienstete, Flughafenbeschäftigte, Krankenpfleger und viele mehr. Umfragen zufolge sind die meisten Beteiligten gut ausgebildet und gehören eher zur ›Mittelschicht‹, aber viele Arbeiter und Arbeiterinnen nehmen ebenso teil oder unterstützen die Bewegung, können jedoch aufgrund wirtschaftlichen Drucks und langer Arbeitszeiten nicht teilnehmen. Viele Protestierende leben tatsächlich in zwei Welten, wochentags mit einem vollen Arbeitsplan und abends und am Wochenende als Teil einer rebellischen Bewegung auf der Straße. Auffällig ist die weitgehende Abwesenheit der Hunderttausende als Hausangestellte arbeitenden Migrantinnen von den Philippinen und aus Indonesien.
Die vielen beteiligten jungen Oberschüler und Studierenden wuchsen im Hongkong nach 1997 auf und haben nie eine ›chinesische Identität‹ entwickelt. Sie fürchten das repressive KPCh-System und wollen ihren Hongkong-›Lebenstil‹ behalten. Derweil sind viele ältere Protestierende Migranten und Migrantinnen aus der Volksrepublik China oder deren Abkömmlinge, die unter den Säuberungen der KPCh oder anderen Kampagnen gelitten hatten, bevor sie in den letzten Jahrzehnten nach Hongkong kamen. Sie misstrauen der KPCh.
Den Protestierenden steht ein kleinerer Teil der Bevölkerung gegenüber, der die Hongkonger Regierung und Polizei sowie die KPCh tatsächlich unterstützt und eigene Demonstrationen mit Zehntausenden Teilnehmern organisiert hat.
Die Protestbewegung zeigt eine erstaunliche Fähigkeit zur Selbstorganisation, zur Entwicklung und Änderung von Strategien und zur Entscheidungsfindung – trotz der enormen Größe. Debatten und Aktionen werden oft über Foren wie das (Reddit-ähnliche) LIHKG, Telegram- und Facebook-Gruppen sowie andere digitale Tools organisiert. Manche Chatgruppen umfassen Tausende oder Zehntausende Mitglieder, und sogar Entscheidungen über die nächsten Schritte während einer Demonstrationen werden über Apps gefällt. Während der friedlichen und gewalttätigen Aktionen übernehmen Menschen bestimmte Funktionen: Kampf in vorderster Reihe, Barrikadenbau, Bereitstellung von Ausrüstung wie Masken und Helmen, medizinische Versorgung, usw. Andere administrieren die digitalen Kommunikationstools, posten Informationen zur Position von Polizeieinheiten oder PIN-Codes für Türen in der Nachbarschaft, damit Leute flüchten können, sie produzieren künstlerische Darstellungen der Bewegung und kümmern sich um die ›Lennon Walls‹ – Poster, Sticker, Fotos usw., die an bestimmte Häuserwände geklebt werden. Viele Leute setzen ihr eigenes Geld ein, um Wasser, Lebensmittel, U-Bahnfahrkarten oder Ausrüstung wie Gasmasken zu kaufen und an Demonstranten zu verteilen, oder sie spenden einfach Geld, wenn sie keine andere Möglichkeit haben, die Bewegung zu unterstützen.
Auffällig ist das Fehlen von Anführern und die schwache Position politischer Parteien. Die KPCh-Führung und die Hongkong-Regierung können das kaum glauben. Sie, wie auch westliche Medien, präsentieren Leute gewisser ›demokratischer‹ oder ›lokalistischer‹ Parteien, die während der Regenschirmbewegung eine Rolle spielten, heute als Anführer oder Vertreter, auch wenn diese für die gegenwärtige Bewegung tatsächlich kaum wichtig sind. Das Fehlen von Anführern ist teilweise Resultat der Unterdrückung nach der Regenschirmbewegung, da viele prominente Figuren angeklagt wurden und Gefängnisstrafen kassierten. Ein weiterer Grund ist die spalterische Taktik jener Anführer der Regenschirmbewegung, wie der von ›lokalistischen‹ (nationalistischen) Gruppen. Es gibt einen breiten Konsens, dass Führungskämpfe und Spaltungen die Regenschirmbewegung schwächten und nicht wiederholt werden sollten.
Die gegenwärtige Bewegung vertritt vor allem die fünf Forderungen und benutzt allgemeine Parolen wie »Befreit Hongkong, die Revolution unserer Zeit« oder »Hongkong, geh voran«. Andere Themen sind wiederholt vorgebracht und diskutiert worden, wie eher linke Forderungen in Bezug auf die soziale Ungleichheit oder rechte Forderungen zur Begrenzung der Einwanderung von Chinesen aus der Volksrepublik oder nach der Unabhängigkeit Hongkongs. Die Bewegung bleibt jedoch bei den fünf Forderungen, um ihre Einheit zu erhalten und zunächst diese gemeinsamen Forderungen durchzusetzen.


Chinas Interessen

Die Hongkong-Regierung unter Carrie Lam ist durch die Bewegung offensichtlich angeschlagen und bleibt weitgehend im Hintergrund. Es ist klar, dass die Entscheidungen über den Umgang mit der Bewegung in Beijing getroffen werden. Nachdem die KPCh anfangs keine öffentliche Berichterstattung in China erlaubte, hat sie später ihren Kurs geändert und eine nationalistische Medienkampagne angeschoben, welche die Protestierenden in Hongkong als »Kriminelle« oder »Terroristen« bezeichnet, die von »ausländischen Anstiftern« angetrieben würden und eine »farbige Revolution« gegen die KPCh und Chinas nationale Interessen verfolgten. Chinesische Staatsmedien und Regierungsvertreter haben eine direkte Intervention chinesischer Sicherheitskräften angedroht, und chinesische Aufstandsbekämpfungseinheiten der Bewaffneten Volkspolizei hielten in Shenzhen, nahe der Grenze zu Hongkong, öffentliche Manöver ab. Das KPCh-Regime hat auch ihre wirtschaftliche Macht eingesetzt und Druck auf Firmen wie die Fluglinie Cathay Pacific ausgeübt, nachdem deren Angestellte sich offen an Protestaktionen beteiligt hatten.
Das KPCh-Regime will die Legitimität der Protestierenden untergraben und die Bewegung schwächen, um seine politischen und wirtschaftlichen Interessen zu schützen. Hongkong spielt für China eine entscheidende Rolle, und ebenso für das chinesische und das ausländische Kapital, als Schnittstelle für eingehende und abgehende Kapitalflüsse, Investitionen und damit in Zusammenhang stehende finanzielle und juristische Dienstleistungen. Die Stadt kann diese Rolle wegen ihres besonderen politischen Status, ihrer eigenen Währung und des westlichen Rechtssystems übernehmen. Die Proteste und der anhaltende chinesisch-amerikanische Handelskrieg beeinträchtigen bereits Hongkongs Wirtschaft.
Jede direkte Intervention der chinesischen Bewaffneten Volkspolizei oder gar der Armee könnte Hongkongs wirtschaftliche Funktion zerstören und massive finanzielle Schäden verursachen. Allerdings untergräbt eine anhaltende Bewegung, die offen Chinas Herrschaft über die Stadt in Frage stellt und mehr Autonomie oder gar die Unabhängigkeit Hongkongs verlangt, die Autorität der KPCh und könnte sogar ansteckend wirken und mehr soziale Aufstände in China provozieren. Trotz der KPCh-Propaganda und der nationalistischen Mobilisierung in China gegen die Hongkong-Proteste haben die Menschen in der Volksrepublik unterschiedliche Auffassungen zur Bewegung.
Die KPCh-Führung will deshalb die Bewegung (und die Verbreitung von Bildern brennender Barrikaden) schleunigst beenden, spätestens zum 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China am 1. Oktober 2019. Das wird eventuell ohne verschärfte Repression und die direkte Intervention chinesischer Sicherheitskräfte nicht möglich sein. Das KPCh-Regime ist nervös. und die Eskalation des Konflikts und die Unfähigkeit der Regierungen in Hongkong und Beijing, diese einzudämmen und zu beenden, hat auch bereits zu Spekulationen über die geschwächte Position des KPCh-Führers Xi Jinping geführt.


Grenzen und Möglichkeiten

Viele Linke haben offensichtlich Schwierigkeiten, mit den jüngsten sozialen Bewegungen zurechtzukommen, die nicht ihren Erwartungen entsprechen, sich nicht von linken Vertretern repräsentieren lassen wollen und Elemente einschließen, die politisch problematische Positionen und Forderungen vorbringen, wie zum Beispiel die ›Gelben Westen‹ in Frankreich oder jetzt die Bewegung in Hongkong. Die latenten rassistischen Positionen eines Teils der Bewegung in Hongkong und ihre verschwommene und problematische Forderung nach ›Demokratie‹ (oder nach der Verteidigung des Status quo) sollten ein Grund sein linke Aktivisten sich Bewegung einzumischen, jene Positionen zu bekämpfen und die progressiven Strömungen der Bewegung zu unterstützen – wie das einige in Hongkong bereits versuchen.
Die Bewegung in Hongkong gehört sicher zu den erstaunlichsten Massenmobilisierungen der letzten Jahrzehnte. Schließlich ist sie die größte Herausforderung der KPCh durch Proteste der Bevölkerung seit der Tian’anmen-Bewegung 1989 – auch wenn dieser Vergleich aufgrund der Veränderungen in China und der Welt seitdem Grenzen hat. Sie kommt auch an einige der Bewegungen während der ›Arabellion‹ 2010 und 2011 heran.
Die Bewegung ist tatsächlich noch keine antikapitalistische Mobilisierung, aber sie hat die Stellung der kapitalistischen Klasse, welche Hongkong regiert (und praktisch besitzt), sowie die der Herrschenden der KPCh in Beijing in Frage gestellt. Die Angriffe auf die Polizei zeigen, dass viele in der Bewegung das Vertrauen in zentrale staatliche Institutionen verloren haben. Streiks und andere Mobilisierungen in Betrieben (Krankenhäusern, dem Flughafen, Schulen und Universitäten, dem öffentlichen Sektor usw.) haben die Akzeptanz kapitalistischer Verhältnisse untergraben, oder, wie ein Protestierender sagte: »Die Beschäftigten arbeiten jetzt nicht mehr so hart wie üblich und widersprechen den Vorgesetzten.«
Wie wird es weitergehen? In einem pessimistischen Szenario könnte die aufständische Bewegung Hongkongs genauso wie die meisten der ›Arabellion‹ enden, in Niederschlagung und Niederlage. Die Hongkong-Regierung spricht bereits von der Ausrufung des Ausnahmezustands, und die KPCh scheint unfähig zu sein, eine sanfte Lösung zu finden und könnte ihre Sicherheitskräfte mobilisieren, um die Bewegung zu unterdrücken.
In einem weniger dramatischen Szenario könnte die gegenwärtige Bewegung schlicht und einfach an Dynamik verlieren. In dem Fall sind dennoch härtere Repressionsmaßnahmen und zahlreiche weitere Verhaftungen wahrscheinlich, zumal die ja bereits begonnen haben. Wenigstens könnten einige der ›demokratischen Freiheiten‹ in Hongkong bestehen bleiben, was als Erfolg der Bewegung verbucht werden könnte. Viele in der westlichen Linken unterschätzen die Wichtigkeit dieser ›Freiheiten‹ für die Organisierung von Widerstand und sozialen Bewegungen. Hongkong ist bisher für Unterstützergruppen von Arbeiterkämpfen, Feministinnen und andere Aktivisten, welche die Stadt für ihre Aktivitäten jenseits der Grenze in China genutzt haben, ein Zufluchtsort gewesen, und jedes harsche Eingreifen des KPCh-Regimes in Hongkong könnte ihr Ende bedeuten.
In einem optimistischen Szenario könnte die Bewegung der Beginn einer rebellischen Generation und weiterer sozialer Kämpfe sein. Die tieferliegenden sozialen Probleme, denen sich große Teile der Bewegung gegenübersehen (hohe Mieten, niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten, soziale Ungleichheit, niedrige Qualität der Gesundheitsversorgung usw.) könnten antikapitalistische Strömungen auslösen, und die Erfahrung des kollektive Aufstands und Kampfes gegen mächtige staatliche Autoritäten könnten der Beginn von weiteren Kämpfen sein, welche die kapitalistischen Verhältnisse selbst in Frage stellen. Das könnte ähnliche Bewegungen in der Volksrepublik China auslösen, die sich demselben Gegner gegenübersehen – dem rechten KPCh-Regime, dass seit Jahrzehnten im Zentrum der kapitalistischen Restauration in China steht und in den letzten Jahren verschärft gegen linke Aktivisten vergeht.
Viel hängt von der Begrenzung des KPCh-Einflusses in Hongkong und der Eindämmung rechter ›Lokalisten‹ und ihrer nationalistischen und rassistischen Politik in der Stadt ab. Die Beteiligung linker Aktivisten, die Forcierung antikapitalistischer Themen und Debatten und auch die Unterstützung durch linke Bewegungen anderswo könnten entscheidend sein, um das letzte Szenario wahrscheinlicher zu machen.

von Ralf Ruckus

07.11.2019
Conne Island, Koburger Str. 3, 04277 Leipzig
Tel.: 0341-3013028, Fax: 0341-3026503
info@conne-island.de, tickets@conne-island.de