• Titelbild
• Editorial
• das erste: Sich radikal in der eigenen Zurichtung fühlen können
• Über die Rückkehr des Proletariats.
• Escape-Ism / Lassie
• Linke Politik unter rechtem Kurs: Das Beispiel Österreich
• Die schwärzeste Grauzone
• Die Sächsische Schweiz braucht ein AZ!
• review-corner buch: Meinst du, der Feind meines Feindes ist mein Freund?
• position: Kritik der unkritischen Kritik
• doku: Vom Wert der Familienbande
• das letzte: #6: Alles für den Kiez
Gary Becker, ein Vertreter der neoliberalen Chicago School, beklagte Ende der 1970er-Jahren »Familie [sei] in der westlichen Welt durch
die Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte grundlegend verändert – einige behaupten, fast zerstört – worden« (1993, 1, übers. v. A.F.). Dann führte er die gängige Liste von Übeln an: die Zunahme von Scheidungen und alleinerziehenden Müttern, den Rückgang der Geburtenrate und schließlich die wachsende Erwerbsbeteiligung von Ehefrauen, die den Kindern schade und sowohl Unfriede in der Familie als auch am Arbeitsplatz stifte. Seiner Ansicht nach waren diese Umbrüche Resultat einer Ausweitung des Wohlfahrtsstaates. Der Feminismus war für ihn eher eine Folge als eine treibende Kraft dieser Entwicklung. Wie viele seiner neoliberalen und neokonservativen Zeitgenossen identifizierte Becker insbesondere die Ausweitung des Sozialprogramms Aid to Families with Dependent Children (AFDC), von dem insbesondere alleinerziehende arme Frauen profitierten, als Hauptursache für den Zerfall der Familie (ebd, 375).
Fünfzehn Jahre später lobte Becker den damaligen US-Präsidenten Clinton für seine Absicht, der Sozialhilfe, »wie wir sie kennen« (Becker 1994), ein Ende zu bereiten. Mit Clintons gigantischer Sozialreform von 1996 wurden die Leistungen für alleinerziehende Frauen drastisch eingeschränkt und eine Verpflichtung zur Arbeit (workfare) sowie die Förderung der Ehe ins Zentrum der Sozialpolitik gestellt. Zugleich etablierte er ein Prinzip der Sozialhilfe, das auf die Tradition der Armengesetze zurückgeht und die Familie zur primären Instanz sozialer Absicherung macht.
In dieser Sozialreform verbanden sich sowohl konservative als auch neoliberale Elemente der Armutsbekämpfung. Den Neoliberalen waren die aktive Förderung der Ehe, die Kampagnen für väterliche Verantwortungsübernahme und religiös motivierte Hilfsangebote vermutlich keine besonderen Anliegen. Es ging ihnen vielmehr darum, familiäre Sorgeverpflichtungen als Alternative zu staatlicher Umverteilung zu stärken. Wenn Sozialhilfeempfänger*innen nicht bereit waren, sich in einer »ordentlichen« Familienstruktur selbst zu versorgen, so die Vorstellung, sollte der Staat solche Beziehungen aktiv fördern oder auch zwangsweise schaffen – so wie er das Recht habe, Erwerbslose zur Arbeit zu verpflichten. Dies bedeutet etwa, ledige Mütter dazu zu zwingen, Unterhalt von einem »abwesenden Vater« einzufordern, bevor sie Anspruch auf staatliche Unterstützung hätten.
Beckers These zur zerstörerischen Auswirkung von Sozialleistungen auf Familienstrukturen sind ein von Kritiker*innen oft übersehenes Schlüsselelement seiner Mikroökonomie. Tatsächlich waren alle führenden Köpfe des Neoliberalismus der Ansicht, »natürliche Familienbindungen und -verpflichtungen« könnten den Wohlfahrtsstaat weitgehend ersetzen. Der in ihnen wirkende »Altruismus« stelle eine ursprüngliche Vertragsform wechselseitiger Unterstützung dar, die es neu zu beleben gelte (Posner 1981, 190). Hier wurzelt die in der US-Sozialhilfe bis heute präsente Vorstellung, der Staat habe das Recht, ehelichen Beistand und Kindesunterhalt auch gegen den Willen der beteiligten Parteien einzufordern.
Zunächst mag es als Widerspruch erscheinen, wenn die Apologeten der freien Marktwirtschaft verwandtschaftliche Bande als unauflösliche, außervertragliche Verpflichtungen ansehen. Ähnlich mag es auf den ersten Blick überraschen, dass sich neoliberale Theoretiker heftig gegen ein Urteil wandten, das in den 1970er-Jahren sexuelle Selbstbestimmung zum Grundrecht erhob und folglich das Familienrecht liberalisierte. Klarer wird es, wenn man sich vergegenwärtigt, welch zentrale Rolle familiäre Verantwortung in der neoliberalen Vision einer freien Marktwirtschaft spielt und wie eng der Wirtschaftsliberalismus historisch mit einer Tradition der Armengesetze verzahnt ist, in denen familiäre Versorgungspflichten zentral sind.
In meinem neuen Buch Family Values (2017) vertrete ich die These, dass der US-Neoliberalismus der 1970er-Jahre einen Versuch darstellt, die Tradition des Armenrechts als Alternative zum Sozialstaat wiederzubeleben. Dieses Projekt war nicht von Anfang an Teil der neoliberalen Vision, sondern bildete sich erst Mitte der 1970er heraus, als die Neoliberalen angesichts von Inflation, Arbeitslosigkeit und einer zunehmend militanten Neuen Linken zu der Überzeugung gelangten, sie müssten ihre Kritik an der Ausweitung der Sozialhilfe in Präsident Johnsons Great Society schlagkräftiger formulieren. In der Folge suchten sie in der Rechtstradition der Armenfürsorge nach Anregungen für ihre Politiken – in einer Tradition, deren Hochzeit Ende des 19. Jahrhunderts im sogenannten Goldenen Zeitalter des US-Kapitalismus lag.
Familiäre Sorgepflichten und
die amerikanischen Armengesetze
Das Prinzip der Familienverantwortung ist in der angloamerikanischen Tradition der öffentlichen Fürsorge tief verwurzelt und lässt sich bis zu den elisabethanischen Armengesetzen von 1601 zurückverfolgen. Die Poor Laws sahen vor, dass
»jeder Vater und jeder Großvater, jede Mutter und jede Großmutter sowie alle Kinder einer armen, alten, blinden, lahmen und anderweitig bedürftigen Person oder einer Person, die nicht arbeiten kann, aber dazu über hinreichende Voraussetzungen verfügt, auf eigene Kosten diese Person unterstützen und unterhalten müssen« (43 Eliz 1, c 2).
Es wurde unterschieden zwischen den Bedürftigen, also Erwerbsunfähigen, die in speziellen Einrichtungen versorgt werden sollten, den erwerbsfähigen Armen, die man zu Frondiensten in Armenhäusern verpflichtete, und schließlich den Müßiggängern
und Landstreichern, die in Gefängnisse oder Besserungsanstalten eingesperrt werden konnten. Doch bevor irgendwelche Institutionen zuständig waren, galt für alle das Prinzip der familiären Verantwortung.
Die neuen amerikanischen Kolonien importierten diese Armengesetze quasi eins zu eins und überführten sie später in das Rechtssystem der Bundesstaaten. Über die Zeit wurden diese Gesetze ausgeweitet, um
sie jeweils an neue Phasen auch der sexuellen Revolution anzupassen. Das heißt, wann immer die gesetzlichen Fürsorgepflichten
der Familie zu erodieren drohten, wurden die Armengesetze neu gestärkt, um all jene zu bestrafen, die womöglich versuchen könnten, ihre Unterhaltskosten auf den Staat abzuwälzen. Als beispielsweise die Scheidungsrate im 19. Jahrhundert zunahm, wurden Gesetze zum Kindesunterhalt nach der Scheidung verabschiedet. Als die Sklaven in den 1860er-Jahren Bürgerrechte erhielten, wurden sie angehalten, formelle Ehen einzugehen. Wer sich familiären Fürsorgepflichten entzog, musste mit Sanktionen wie Zwangsarbeit und Gefängnis rechnen. Indem die Armengesetze familiäre Fürsorge zur ökonomischen Verpflichtung machte, konnte der Staat die Kosten einer sich wandelnden Sexualmoral eindämmen. Wenn Arme die entsprechenden Beziehungen nicht freiwillig eingehen wollten, zauberte der Staat diese Gemeinschaften einfach aus dem Hut und erklärte den Beistand zur Pflicht: Wollte beispielsweise ein Knecht den Unterhalt für sein mutmaßliches uneheliches Kind nicht zahlen, konnte er zwecks Schuldentilgung zur Gemeindearbeit zwangsverpflichtet werden. Lebten befreite Sklaven ehelos zusammen, drängte der Staat sie unter Androhung von Zwangsarbeit zur Heirat.
Erst Mitte des 20. Jahrhunderts gerieten diese Gesetze in Konflikt mit der staatlichen Sozialversicherung des New Deal, doch viele wurden nie ganz abgeschafft. In dem Moment, als die Regierung begann, die volle soziale Verantwortung für männliche Normalarbeiter und deren Angehörige zu übernehmen, galten Sozialhilfeempfänger*innen erst recht als unwürdige Arme und wurden auf die alte Tradition privater (wiewohl staatlich durchgesetzter) Familienverpflichtungen verwiesen. Eine erwachsene Person konnte gerichtlich gezwungen werden, die Pflegekosten eines Elternteils zu übernehmen; Tanten und Onkel mussten für den Unterhalt eines blinden Verwandten zahlen und Eltern die Pflege ihres geistig behinderten Kindes finanzieren. Insbesondere das AFDC-Programm für alleinerziehende Mütter blieb bis in die 1960er-Jahre tief in der Tradition des Armenrechts verwurzelt. Verarmte Frauen sollten für den Unterhalt ihrer Kinder nicht den Staat, sondern einzelne Männer in die Pflicht nehmen. Mehr denn
je wurde ihnen deutlich gemacht, dass ihre ökonomische Absicherung von der rechtlichen Verbindung zu einem Mann abhing.
Dies wandelte sich um 1965: Anwält*innen, die mit der entstehenden Bewegung für welfare rights zusammenarbeiteten, führten eine Reihe von Musterklagen vor Bundesgerichten gegen solche diskriminierenden Auflagen für unverheiratete Mütter im Sozialhilfebezug. Es ging darum, die Liberalisierung, die das Familienrecht in dieser Zeit erfuhr, auch auf das Sozialrecht auszuweiten. Im Familienrecht wurden Gesetze verabschiedet, die Scheidungen erleichterten, nichteheliche Beziehungen anerkannten und Benachteiligungen außerehelicher Kinder aufhoben. Parallel zu diesen Liberalisierungen entstand ein neues, von der Verfassung geschütztes Recht auf »sexuelle Selbstbestimmung«. In wegweisenden Urteilen entwickelte der Oberste Gerichtshof daraufhin ein neues Recht auf Privatsphäre (right to privacy), das den Eingriff des Staates in intime und sexuelle Beziehungen begrenzen sollte. Dies galt jedoch wiederum nicht für Sozialhilfeempfängerinnen, die oft Nachforschungen über ihre sexuelle Vergangenheit, unangekündigte Hausbesuche und strenge Sittenkontrollen erdulden mussten. Während also das Familienrecht in ein neues Zeitalter relativer sexueller Freiheit eintrat, war das Sozialrecht, das »Familienrecht der Armen« (Ten Broek 1964), weiterhin vom moralischen Konservatismus durchzogen.
Auch dies stellten progressive Anwält*innen infrage: Wenn es ein Recht auf sexuelle Privatsphäre gibt, warum gilt es nicht für Frauen mit Sozialhilfe? Wenn Mittelschichtsfrauen ihre Ehe verlassen und einer eigenen Arbeit nachgehen können, warum sollten arme Frauen in ökonomischer Abhängigkeit von einem Ernährer leben müssen? Die Zeit war reif für solche Reformen.
Schließlich wurden die Befugnisse der Sozialämter auf Bundesebene vereinheitlicht und ihre Vorgaben an das erneuerte Familienrecht angepasst. Dies befreite viele Frauen aus den Fesseln familiärer Abhängigkeit. Die Botschaft der entsprechenden Urteile war, dass der Unterhalt armer Frauen ebenso in die öffentliche Verantwortung falle wie der von männlichen Normalarbeitern, und zwar losgelöst von ihrer sexuellen Vergangenheit oder Hautfarbe. Armen Frauen wurde unabhängig von irgendwelchen »Pseudo-Ehemännern« ein existenzsicherndes Einkommen zugestanden, und diese Sozialleistungen, wie niedrig sie auch immer sein mochten, fungierten faktisch als »sozialer Lohn« für ledige, zumeist afroamerikanische Frauen – ein Umstand, der jedoch großen Widerstand hervorrief. Wie Stephanie Coontz betont, bildete weniger die Abhängigkeit der Frauen vom Staat den Stein des Anstoßes, sondern ihre zunehmende Unabhängigkeit von einzelnen Männern. Ihre Befreiung aus familiärer Abhängigkeit war es, die eine ganze Generation von Sozialtechnologen gegen den Sozialstaat als ganzen aufbrachte (Coontz 2000, 59).
Es lohnt, diesen Punkt etwas genauer zu betrachten, denn er stellt den angeblichen Gegensatz zwischen »Umverteilung« und »Anerkennung« infrage, von dem Theoretiker*innen wie Nancy Fraser ausgehen (1995). Die Bewegung für welfare rights wollte gleichermaßen die sozialstaatliche Umverteilung ausdehnen und die gesamte Palette an Regulierungen zu Geschlechterrollen und Sexualität im fordistischen Sozialstaat aufheben. Die Forderung nach Sozialleistungen für alle – auch für arme alleinstehende Frauen –, griff die normativen Grundlagen des Familienlohns an und forderte zugleich einen sozialen Lohn und materielle Teilhabe. Dies zeigt den Widersinn, Kämpfe für Umverteilung von Kämpfen um Anerkennung zu trennen oder Bewegungen für sexuelle Befreiung auf vermeintlich »identitätspolitische« Anliegen zu reduzieren.
Dass die Bewegung für welfare rights das fordistische System des Familienlohns infrage stellte, irritierte Menschen jeglicher politischer Couleur. Als das Wirtschaftswachstum der 1960er-Jahre in die galoppierende Inflation
der 1970er-Jahre überging, stand plötzlich das AFDC-Programm im Zentrum einer hitzigen Debatte um die Möglichkeiten und Grenzen sozialer Umverteilung. Die immer weitreichenderen Forderungen und juristischen Erfolge der Welfare-rights-Bewegung wurde selbst von ehemaligen Befürwortern des New Deal-Sozialstaats mit Argwohn betrachtet: Die Regierung konnte nun faktisch dazu verpflichtet werden, Frauen finanziell zu unterstützen, die »ohne Not« entschieden hatten, ein Leben ohne männlichen Ernährer zu führen und
so die öffentlichen Kassen zu belasten. Vor diesem Hintergrund wurde das Phänomen der Stagflation (gleichzeitige hohe Inflation und Arbeitslosigkeit) nicht mehr nur als makroökonomisches Problem diskutiert, sondern auch als Ausdruck des Zusammenbruchs der moralischen Ordnung, als untragbare Inflation materieller und libidinöser Forderungen über die Grenzen des keynesianischen Konsens hinaus. Denn die Norm der männlichen Ernährerfamilie ließ sich nicht infrage stellen, ohne auch das Credo eines begrenzten Haushalts und limitierter öffentlicher Ausgaben über den Haufen zu werfen.
In diesem Kontext entwarfen Markt- und Neoliberale wie Friedman eine ganz neue politische Philosophie familiärer Werte, die sie gegen eine staatliche Umverteilung in Stellung brachten. Sie machten die »abstrusen Anreize« des Sozialstaats für die Zerrüttung familiärer Werte und die Inflation materieller Forderungen verantwortlich und forderten eine strategische Neuauflage der in den alten Armengesetzen verankerten Tradition der familiären Verantwortung. Ihr Ziel war eine konzertierte Aktion von Sozialhilfereform, rigider Geldpolitik zur Senkung der Lohnsteigerungen und einer dauerhaften Beschränkung von öffentlichen Ausgaben und Steuern.
Das neoliberale Projekt: Familie als Haftungsgemeinschaft
Diese neoliberale Sozialstaatskritik hat die US-amerikanische Sozialpolitik stark geprägt. Als Gouverneur von Kalifornien war Ronald Reagan in den 1960er- und 1970er-Jahren einer der Ersten, der das Prinzip der Familienverantwortung wiederbelebte. Als Präsident versuchte er erfolglos, die Sozialhilfe auch auf Bundesebene zu reformieren. Verwirklicht werden konnte dieses Vorhaben erst unter Clinton, dessen Sozialreform die Sozialbehörden in Apparate der Gängelung und restriktiven Durchsetzung von Unterhaltspflichten verwandelte.
Doch das neoliberale Projekt zielte nicht nur auf die sozialpolitische Ebene. Bereits in den 1970er-Jahren unterstützten neoliberale Theoretiker eine aggressive Kampagne zur Abschaffung der Erbschaftssteuer sowie Kampagnen gegen kommunale und Landessteuern. Hinzu kamen zermürbende Angriffe auf die Sozialversicherung und eine beitragsfinanzierte Krankenversicherung zugunsten privater Vermögensbildungsstrategien sowie schließlich die Förderung von Wohneigentum als eine Form »vermögensbasierter Sozialhilfe«. Die Familienfrage war für jede einzelne dieser Kampagnen zentral. In der Idee einer individuellen Vorsorge hatten neoliberale Strategen eine Möglichkeit gefunden, die »unpersönlichen Bande« der Sozialversicherung durch Vermögensbildung und Vermögenstransfer innerhalb der Familie zu ersetzen.
Mittlerweile ist klar, dass durch die Kürzungen im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialbereich immer mehr Menschen auf genau diese familiäre Unterstützung angewiesen sind. An die Stelle einer staatalichen Haushaltspolitik durch Neuverschuldung (deficit spending) trat die private Verschuldung der Haushalte. Familiäre Verantwortung bedeutet heute oft generationenübergreifende Verschuldung: Eltern sind direkt eingebunden in die Schuldverpflichtungen der Kinder (sei es als persönliche Bürgen oder durch den Einsatz ihres Wohneigentums als Sicherheit) und versuchen den Aufstieg oder auch nur Statuserhalt der jüngeren Generationen abzusichern. Auch hier haben neoliberale Programme eine wichtige Rolle gespielt. Milton Friedman und Gary Becker waren unter den Ersten, die Investitionen in das »Humankapital« (wie z. B. Bildungsausgaben) als eine Aufgabe der Familien ansahen, die über private Kreditmärkte finanziert werden sollte. Ihre Konzepte hatten starken Einfluss auf die Reform der US-Hochschulfinanzierung: Die öffentliche Finanzierung wurde Stück für Stück abgebaut und durch private Kreditmärkte ersetzt. Infolgedessen wurde die Zukunft und das Fortkommen der Einzelnen immer stärker von Erbschaften und familiären Verschuldungsnetzwerken abhängig. Drei Jahrzehnte neoliberaler Wirtschaftsreformen haben die Familie wieder zur wichtigsten Versorgungsinstanz gemacht, ganz in der 400 Jahre alten Tradition des Armenrechts.
Der Wert der Familie
Dieser Blick auf die US-amerikanische Sozialgeschichte zeigt, wie sehr die Familienfrage für das neoliberale Projekt von Beginn an zentral war – ein Aspekt, der in der kritischen Literatur dazu durchgängig übersehen wird. Entweder wird die Rolle der Familie gar nicht diskutiert oder sie wird – insbesondere von linker Seite – darauf reduziert, dass der Neoliberalismus das solide Fundament des fordistischen Familienlohns zugunsten individueller Marktfreiheit zersetzt und so ökonomische Sicherheit zerstört habe. Ganz explizit formuliert dies Wolfgang Streeck, wenn er beklagt, »die fordistische Familie wurde
durch die flexible Familie in derselben Weise ersetzt wie die fordistische Beschäftigung durch flexible Beschäftigung« (2011, 72). Aber auch Boltanski und Chiapello folgen diesem Argument implizit, wenn sie zwischen einer »guten« Kapitalismuskritik, die die wirtschaftliche Sicherheit des fordistischen Modells zu verteidigen suche, und einer »schlechten« Kritik, die auf die Auflösung der sexuellen und geschlechterpolitischen Normen im System des fordistischen Familienlohns ziele, unterscheiden (vgl. Boltanksi/Chiapello 2003). Die Zuspitzung dieser These finden wir in Nancy Frasers rhetorischer Frage: »War es reiner Zufall, dass sich die Frauenbewegung und der Neoliberalismus zeitgleich entfalteten?« Ihre Antwort lautet Nein: »Unsere Kritik des Familienlohns liefert bis heute die Argumente, die den flexiblen Kapitalismus mit einem tieferen Sinn und moralischen Argumenten ausstatten.« (Fraser 2013, 218, übers. v. A.F.) Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass die linke Kritik an der sexuellen Normativität verantwortlich sei für die Zerstörung der ökonomischen Grundlagen der fordistischen Sicherheit und damit dem Neoliberalismus den Boden bereitet habe. Dies scheint Foucault zu bestätigen, der betont, dass die Neoliberalen jenseits der Normativität stünden und – ganz im Gegensatz zum Paternalismus des Sozialstaates – kein Interesse hätten an der Kategorisierung des Abnormalen oder Abweichenden (Foucault 1979, 235).
Natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen der Dekonstruktion des fordistischen Gesellschaftsvertrags, dem Aufstieg des Zweite-Welle-Feminismus und der Revolution des Familienrechts. Der Feminismus wäre nicht viel wert, hätte er den Familienlohn nicht zerstört – ein System, das die ökonomische Abhängigkeit von Frauen zementierte. Doch auch darüber hinaus scheint die Argumentation problematisch: Sie verkennt den Zusammenhang von Ursache und Wirkung zwischen dem Neoliberalismus und den sozialen Bewegungen der spätfordistischen Ära und muss folglich den Neoliberalismus selbst missverstehen. Der Neoliberalismus war kein backlash gegen den Sozialstaat an sich, und er war nicht in erster Linie ein Angriff auf dessen Grundinstitution, den fordistischen Familienlohn. Der Neoliberalismus in seiner Hochphase ist vielmehr eine Reaktion auf
die Kritik des Familienlohns vonseiten der feministischen und antirassistischen Linken. Es ging darum, die Familie dadurch wieder zu stärken, dass man sich am Prinzip der familiären Versorgungspflicht orientierte, das vor dem New Deal gängig war.
Nur wenn wir das verstehen, können wir auch die spezifische Haltung der Neoliberalen zur sexuellen Selbstbestimmung begreifen. Fast überall wird angenommen, dass neoliberale Jurist*innen der progressiven Rechtsprechung in den 1960er- und 1970er-Jahren positiv gegenüberstanden oder diese sogar mit durchgesetzt hätten. In einer bestimmten linken Lesart wird der Neoliberalismus gar als Anstoß für die individualistische Ethik der sexuellen Entscheidungsfreiheit (sexual choice) betrachtet (vgl. Alstott 2014).
Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Der neoliberale Theoretiker Richard Posner, der die Ausweitung privatrechtlicher Handelsbeziehungen in jedem Bereich befürwortet (sei es der Handel mit Drogen, Sex oder
mit Babys), stand einem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung mehr als kritisch gegenüber – und zwar aus dem einfachen Grund, dass es den Staat dazu verpflichten könnte, diese Freiheit aktiv zu ermöglichen oder gar materiell abzusichern (Posner 1992). Und genau dazu kam es, als die Rechtsprechung zur sexuellen Privatsphäre in den 1970ern auf Sozialhilfeempfänger*innen ausgedehnt wurde und Sozialämter nicht länger das Sexualleben der Armen überwachen konnten.
Neoliberale vertraten stattdessen die Vorstellung, dass sich die Vertragsfreiheit (im Gegensatz zu den in der Verfassung garantierten Freiheitsrechten) auf alle Bereiche
des gesellschaftlichen und privaten Lebens erstrecken sollte – solange die Vertragsparteien die damit verbundenen Kosten vollständig selbst tragen. Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, sind Neoliberale ebenso wie Sozialkonservative bereit, die Vertragsfreiheit einzuschränken und außervertragliche eheliche oder elterliche Pflichten ins Feld zu führen und diese gar staatlich durchzusetzen. So lehnten Posner und Becker die Einführung der einvernehmlichen Scheidung entschieden ab, und zwar nicht aufgrund einer moralischen Sorge, sondern wegen der potenziellen Kosten für den Unterhalt von Frauen und Kindern (Becker 1993, Posner 1992). Aus dem gleichen Grund gehörten neoliberale Jurist*innen
auch zu den Ersten, die eine Anerkennung
der gleichgeschlechtlichen Ehe forderten – als einen Weg, um die gesellschaftlichen Kosten von HIV-Infektionen zu privatisieren: Wenn Schwule davon überzeugt werden könnten, sich im Rahmen ihrer Familien abzusichern und finanziell vorzusorgen, könne der »nichtnormative« Charakter ihrer Beziehungen dem Staat völlig gleichgültig sein. Richard Posner verweist auf die »Versicherungsfunktion der Ehe«, die als Risikoabsicherung für alle jene Bereiche fungiere, »wo Verwandtschaft auf dem Rückzug ist, aber Markt und Sozialversicherung noch nicht üblich sind«, oder, so möchte man hinzufügen, wo Letztere radikal abgebaut wurde (Posner 1992, übers. v. A.F.). Nichtnormative Lebensentwürfe sind also akzeptabel, solange sie auf einer alternativen Moralphilosophie der familiären Verpflichtung und des gegenseitigen ehelichen Beistands gründen. Sie müssen folglich in die Rechtsform der Ehe kanalisiert werden. Formuliert wurden diese Argumente auf dem Höhepunkt der AIDS-Krise in den 1980er-Jahren, im Kontext steigender öffentlicher Gesundheitsausgaben. Dass die Ehe es gleichgeschlechtlichen Paaren erleichtern würde, sich umeinander
zu kümmern, und so der Staat von einer Fürsorgelast befreit würde, war eines der erfolgreichsten Argumente für eine Gesetzesänderung und ist in der US-Rechtsprechung zur Homo-Ehe weit verbreitet.
Das ist ein Aspekt des Neoliberalismus, der jenseits von Foucaults bekannter Analyse der Nichtnormativität des neoliberalen Denkens liegt. Neoliberale mögen die Entkriminalisierung von Drogen, Analverkehr, Badehäuser und Sexarbeit befürworten und die polizeiliche Regulierung solcher Praktiken entschieden ablehnen. Am Ende führt die neoliberale Kritik an der Normativität jedoch in eine alternative Moralphilosophie. So bemüht sich Richard Posner um Klarstellung, dass »Libertarismus« nicht mit »Libertinage« oder »freier Liebe« zu verwechseln sei. Seine Sexualethik kombiniert eine radikale Antinormativität mit einer ebenso starken familiären Sorgeverpflichtung (Posner 1992). In gewisser Weise spiegelt sich diese seltsame Doppelbewegung im heutigen Queer-Aktivismus, der immer an die Grenzen des Normativen drängt und die nichtnormativen Lebensstile zugleich hartnäckig in gesetzlich anerkannte Formen der Partnerschaft und Reproduktion einschreibt. Fast alle sexuellen Ausdrucksweisen können offenbar toleriert werden, solange sie sich in der Form der Familie organisieren.
Nur wenn man erkennt, wie sehr sich der amerikanische Neoliberalismus bemüht, das Prinzip der familiären Verantwortung
zu stärken, wird das vier Jahrzehnte andauernde Bündnis zwischen Neoliberalen und Sozialkonservativen verständlich, das sonst rätselhaft bleiben muss. Neoliberale und Neokonservative sind gleichermaßen daran interessiert, familiäre Verpflichtungen auszuweiten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: Erstere, weil sie die staatliche Subventionierung »unverantwortlicher« Lebensstile ablehnen (Sex außerhalb der Ehe, uneheliche Kinder und sexuell übertragbare Krankheiten – allesamt Risikofaktoren, die den Staat viel Geld kosten können); und Letztere, weil sie die Familienbande als grundlegend für die gesellschaftliche Ordnung ansehen. Dieses gemeinsame Interesse ermöglicht es ihnen, trotz ihrer Differenzen in fast allen anderen Fragen zusammenzuarbeiten. Die Frage der Familie ist zentral, um die gesellschaftlichen Umbrüche der letzten fünfzig Jahre zu verstehen.
Literatur