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Zur Aktualität von Johannes Agnolis Transformation der Demokratie
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Vergessene Flüchtlinge. Die Vertreibung der Juden aus den arabischen Staaten nach 1948
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• doku: Die Arbeit nieder
• doku: 70 Jahre Israel
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Der folgende Text erschien zuerst in der März-Ausgabe der Linzer Zeitschrift Versorgerin, die online unter versorgerin.stwst.at und offline im Conne Island Infoladen verfügbar ist.



Die Arbeit nieder

Über den Fetischismus des Schaffens, produktiven Müßiggang und antisemitische Ressentiments

Würde heute ein Politiker oder eine Politikerin fordern »weitet die Arbeitslosigkeit aus«, er oder sie könnte sofort einpacken. Deswegen versprechen Politmanager über alle Parteigrenzen hinweg bekanntlich genau das Gegenteil: nämlich Arbeit, Arbeit, Arbeit. Und das, obwohl jeder weiß oder zumindest wissen könnte, wenn er morgens oder abends den Mitmenschen in der U-Bahn oder im Bus genauer ins Gesicht schauen würde: Arbeit macht krank, Arbeit ist Mühsal und macht hässlich. Karl Marx wusste das und hat allen Kritikern gesellschaftlicher Elendsproduktion im Kapital ins Stammbuch geschrieben: »Das Reich der Freiheit beginnt erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört.« An anderer Stelle, in seinen Anmerkungen zum deutschen Nationalökonomen Friedrich List führt Marx aus: »Es ist eins der größten Mißverständnisse, von freier, gesellschaftlicher menschlicher Arbeit, von Arbeit ohne Privateigentum zu sprechen. Die ›Arbeit‹ ist ihrem Wesen nach die unfreie, unmenschliche, ungesellschaftliche, von Privateigentum bedingte und das Privateigentum schaffende Tätigkeit. Die Aufhebung des Privateigentums wird also erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie als Aufhebug der Arbeit gefaßt wird.«
Der Mainstream der sich merkwürdigerweise immer wieder auf Marx berufenden Arbeiterbewegung hat die Vernutzung der Arbeitskräfte zum Zweck der Verwertung des Kapitals hingegen zum sine qua non der Selbstverwirklichung geadelt. Das proletarische Schaffen sei gut, und der eigentliche Skandal des Kapitalismus bestehe darin, nicht jedem Menschen einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen.
1891 schrieb Oscar Wilde in seinem Essay Der Sozialismus und die Seele des Menschen: »Heutzutage wird sehr viel Unsinn über die Würde der körperlichen Arbeit geschrieben. An der körperlichen Arbeit ist ganz und gar nichts notwendig Würdevolles […]. Es ist geistig und moralisch genommen schimpflich für den Menschen, irgendetwas zu tun, was ihm keine Freude macht, und viele Formen der Arbeit sind ganz freudlose Beschäftigungen.« Hätte sich die Linke in den letzten 100 Jahren mehr an Oscar Wildes vorzüglicher und leider viel zu unbekannter Schrift orientiert, anstatt den Arbeitsfetischismus ihrer zumeist moralinsauren Vordenker aufzusaugen, hätte sie gewusst, dass Arbeit den Menschen in aller Regel nicht erfüllt, sondern fertig macht. Sie würde nicht beklagen, dass der Gesellschaft die Arbeit ausgeht, sondern skandalisieren, dass in der bestehenden Gesellschaft solch eine ausgesprochen begrüßenswerte Entwicklung zu keiner Befreiung führt. Was ist das für eine Welt, in welcher der technische Fortschritt systematisch neues Elend verursacht, anstatt die Menschen von der Plackerei der Arbeit zu befreien? Und was sind das für Menschen, die angesichts der Einrichtung dieser Welt nicht mit aller Leidenschaft für jenes ganz Andere streiten, das es den Individuen ermöglichen müsste, sich in Ausschweifung und Genuss, geistiger und körperlicher Hingabe, Kunst und intellektueller Selbstreflexion als Gattungswesen überhaupt erst zu konstituieren?
Es ginge darum, sich die Welt im wie auch immer widersprüchlichen Einklang mit den Mitmenschen und mit der größtmöglichen Bequemlichkeit anzueignen. Das hieße unter anderem: Transformation des Privateigentums an zentralen Produktionsmitteln hin zu gesellschaftlicher Verfügung zum Zwecke der Verwirklichung von Freiheit. Nicht aus Hass auf die Reichen oder gar den Reichtum, sondern auf Grund der Beschränkungen der menschlichen Entfaltung, die solche Formen von Eigentum zwangsläufig mit sich bringen und selbst noch den Besitzenden auferlegen. Es ginge um eine von Ausbeutung und Herrschaft befreite Gesellschaft, nicht zum Zwecke der Konstitution repressiver Kollektive oder gar einer Rückkehr zu irgendeiner vermeintlich »natürlichen«, vorzivilisatorischen Lebensweise, sondern zur Befreiung der Individuen aus jenen gesellschaftlichen Zwängen, die angesichts des gesellschaftlichen Reichtums vollkommen anachronistisch sind.
Doch statt für die Bedingungen der Möglichkeit individueller Freiheit und gesellschaftlicher Autonomie zu streiten, für eine Art produktiven Müßiggang, der das Gegenteil von auf die Dauer nur Langeweile verströmendem Nichtstun wäre, suchen allzu viele in der Schinderei der Arbeit Erfüllung – und finden sie womöglich auch noch.
Die Linken haben den Arbeitsfetischismus keineswegs für sich gepachtet. Ob Sozialdemokraten oder Bolschewisten, ob christliche Soziallehre, islamistischer Furor oder faschistischer Produktivitätswahn, ob Leninisten oder liberale Verwertungsapologeten – bei aller Heterogenität ihrer jeweiligen politischen Projekte konnten und können sie sich doch alle für die elende Parole »Die Arbeit hoch« begeistern. Sayd Qutb, der Vordenker der ägyptischen Muslimbruderschaft, der von Ali Khamenei ins Persische übersetzt wurde, lobt in seinem programmatischen Werk Wegmarken den Islam dafür, dass er den Menschen im »Zentrum Afrikas […] die Freude an der Arbeit« lehrte. In der Bibel heißt es: »Wenn jemand nicht arbeiten will, soll er auch nicht essen.« Auf den Parolenbändern der stalinistischen Arbeitslager wurde das nur geringfügig abgewandelt. Und vor einigen Jahren hat auch Franz Müntefering als SPD-Vorsitzender mit dem Ausspruch »Nur wer arbeitet, soll auch essen« das Programm seiner Partei für die Schwachen und Armen schön auf den Punkt gebracht. Papst Ratzinger verkündete, die Arbeit trage dazu bei, »Gott und den anderen näher zu sein.« Beim Nazi-Versand ihres Vertrauens können Sie »T-Hemden« mit der Aufschrift »Arbeit adelt« erwerben, dem alten Slogan des nationalsozialistischen Reichsarbeitsdienstes.
Bei der NPD firmiert »Arbeit« noch vor »Familie« und »Vaterland«, die Freiheitliche Partei in Österreich forderte »Hackeln statt packeln« und linke Gruppen drohen ihren Gegnern in ihren reichlich abgehalfterten Demoparolen an, sie »in die Produktion« zu schicken.
Wo sich Gewerkschaften zumindest innerhalb des schlechten Bestehenden als partiell vernünftig erweisen und wie die Schweizer Arbeitervertretung einen Volksentscheid zur Arbeitsminimierung initiieren, prallen sie auf die geballte Arbeitswut der Mehrheitsbevölkerung: 66,5 Prozent der Eidgenossen stimmten 2012 in einem Referendum gegen die Verlängerung des gesetzlichen Mindesturlaubs von vier auf sechs Wochen.
Der Mainstream der Linken liebt die Arbeit. In vielen ihrer Ausprägungen steht sie geradezu für eine Hingabe an die menschliche Schinderei. Anstatt sich an Paul Lafargue, den Schwiegersohn von Marx zu erinnern, der das Recht auf Faulheit hochhielt, soll es ein »Recht auf Arbeit« sein, für das beispielsweise am 1. Mai gestritten wird. Und man begibt sich nicht gerade auf Glatteis, wenn man prognostiziert, dass es auch bei den kommenden 1. Mai-Feiertagen aus den sozialdemokratischen und sozialistischen Postillen, vor dem Berliner Reichstag und auf dem Wiener Rathausplatz, auf den Kundgebungen von DGB und ÖGB wieder »Arbeit für alle!« schmettern wird. Dieser elende Slogan steht ganz in der Tradition von Georg Büchners Aufruf »Friede den Hütten, Krieg den Palästen«, der in seiner Entstehungszeit (1834) noch eine gewisse Berechtigung gehabt haben mag. Als Motto unzähliger linker Kampagnen ist er aber zu einer Sklavenparole mutiert und findet seinen Widerhall beispielsweise in Graffitis, die sich »Gegen Reichtum« im je eigenen Kiez aussprechen. Ginge es um das gute Leben für alle, hätte »Friede den Hütten, Krieg den Palästen« schon längst durch eine Kriegserklärung an die Hütten und die Forderung »Paläste für alle« abgelöst werden müssen. Anstatt aber die Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum zu fordern, wird gegen den Reichtum selbst mobil gemacht.
Schon früh ist die gleichmäßige Verteilung des Elends, nicht seine Abschaffung zum Ziel des Mainstreams der Arbeiterbewegung geworden. Die Vordenker der Sozialdemokratie fürchteten wohl nur eines noch mehr als den Vorwurf des »nationalen Nihilismus«: als Verächter der Arbeit ins Visier des politischen Gegners zu geraten. Schon August Bebel verkündete Ende des 19. Jahrhunderts in seiner Schrift Die Frau und der Sozialismus: »Die alberne Behauptung, die Sozialisten wollten die Arbeit abschaffen, ist ein Widersinn sondergleichen. Nichtarbeiter, Faulenzer gibt es nur in der bürgerlichen Welt.«


Lob der Faulheit

Doch gab es stets dissidente Strömungen in der Linken, welche das Lob des Schuftens und Rackerns nicht mitmachen wollten. Sie blieben in aller Regel eine verschwindend kleine Minderheit. Marx hatte bereits als junger Mann konstatiert: »Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Hause.« Die Fremdheit der Arbeit trete »darin rein hervor, dass, sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird«, heißt es in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844.
Lafargue, der auch ein scharfer Kritiker des Nationalismus in der sich herausbildenden Arbeiterbewegung war, schrieb eine Widerlegung des »Rechts auf Arbeit«. Friedrich Nietzsche diagnostizierte als Beobachter der brutalen Durchsetzung der Fabrikarbeit am Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Aphorismus Die Lobredner der Arbeit, dass »eine solche Arbeit die beste Polizei« sei, da sie »jeden im Zaume hält und die Entwicklung der Vernunft, der Begehrlichkeit, des Unabhängig-keitsgelüstes kräftig zu hindern versteht«. Während Michail Bakunin als zentraler Vordenker des Anarchismus die Arbeit zur »Grundlage der Menschenwürde« erklärte, beharrte Moses Hess, ein Freund von Marx und als »roter Rabbi« einer der frühen Theoretiker des Zionismus, auf der Unterscheidung zwischen »freier Thätigkeit« und »gezwungener Arbeit«. Während die Stalinisten den Produktivitätswahn auf eine massenmörderische Spitze trieben, hatte der russische Avantgardist Kasimir Malewitsch schon 1921 in seiner Schrift Die Faulheit als tatsächliche Wahrheit der Menschheit erklärt: »Die Arbeit muss verflucht werden, wie es auch die Legenden vom Paradies überliefern, die Faulheit aber sollte das sein, wonach der Mensch zu streben hat.« Es ginge nicht an, dass sich nur die Besitzenden von der Arbeit emanzipieren, vielmehr sollte sich »die ganze Menschheit« von ihr befreien.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert wollten Vordenker des italienischen Operaismus wie Mario Tronti eine »Arbeiterpartei gegen die Arbeit« schaffen, und insbesondere die Autoren der Kritischen Theorie wandten sich gegen die Anbetung der Plackerei: Theodor W. Adorno kritisierte in seinen Minima Moralia ein Ideal menschlichen Verhaltens, das »am Modell der Produktion als Selbstzweck gebildet ist«; er wandte sich gegen das »Wunschbild des ungehemmten, kraftstrotzenden, schöpferischen Menschen«. Jene die Gesellschaft durchziehende Vorstellung vom »fessellosen Tun, dem ununterbrochenen Zeugen, der pausbäckigen Unersättlichkeit« war ihm ein Greuel. Er fürchtete nicht »das Erschlaffen der Menschheit im Wohlleben«, sondern die »blinde Wut des Machens«.
Oft genug verweigerten die Arbeiter und Arbeiterinnen den produktivistischen Vordenkern der Arbeiterbewegung mit ihrem Ideal der »schaffenden Sozialisten« die Gefolgschaft. Die spanischen Proletarier brachten während des Bürgerkriegs in den 1930er Jahren mit ihrer selbstbewussten Verweigerungshaltung die anarchistischen Funktionäre der Gewerkschaft CNT zur Verzweiflung, die in ihren letztlich aus dem Abwehrkampf gegen die Faschisten resultierenden und also durchaus verständlichen Aufrufen zur Arbeitsdisziplin ihren bolschewistischen und stalinistischen Konkurrenten kaum in etwas nachstanden und beispielsweise im revolutionären Barcelona die Akkordarbeit wieder einführten.
Die von den französischen Situationisten um Guy Debord aufgegriffene Parole »Ne travaillez jamais« (»Arbeitet niemals«) stammte nicht aus dem studentischen Milieu der 68er-Bewegung, wie ordnungsapologetische sozialistische und kommunistische Gewerkschaftsfunktionäre sofort behaupteten, sondern war in den 1960er und 70er Jahren ein geflügeltes Wort insbesondere in den subproletarischen Vierteln der französischen Hauptstadt. Es steht ganz in der Tradition jener Pariser Arbeiter, die in der linken »Volksfrontregierung« in den 1930er Jahren keine Chance zur schwunghaften Steigerung der Produktivität sahen, sondern eine Möglichkeit, erstmals in ihrem Leben bezahlten Urlaub zu machen und an die Atlantikküste zu fahren. Einige Chronisten sprechen davon, die französischen Sozialisten und Kommunisten hätten nicht als Wegbereiter der Revolution, sondern des Massentourismus fungiert.


Arbeitswahn & Antisemitismus

Durchgesetzt haben sich jedoch ganz andere Traditionslinien. Die fanatischsten Lobpreiser der Arbeit waren häufig zugleich die schlimmsten Antisemiten: Von Martin Luther, dem Protagonisten des protestantischen Arbeitsethos’ und Autor des Pamphlets Von den Juden und ihren Lügen, über den Industriellen Henry Ford, den Autor des Machwerks Der internationale Jude, für den es »nichts Abscheulicheres« gab »als ein müßiges Leben«, bis zu Adolf Hitler. Luther war von dem Gedanken besessen, Juden zur Arbeit zur zwingen und forderte, »daß man den jungen starken Juden und Jüdinnen in die Hand gebe Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rocken, Spindel und lasse sie ihr Brot verdienen im Schweiße der Nasen.« Ernst Jünger ließ Arbeit und Freiheit in eins fallen und proklamierte ein »für den Verzicht gerüstetes Glück«, womit er sich auch in diesem Punkt als veritabler Vordenker des nationalsozialistischen Opfer- und Arbeitskultes erwies. Den brachte der Führer der NS-Volksgemeinschaft am treffendsten auf den Punkt: Hitler proklamierte in Mein Kampf »den Sieg des Gedankens der schaffenden Arbeit, die selbst ewig antisemitisch war und antisemitisch sein wird.« Wie ernst er das gemeint hatte, konnte man später über den Toren der Vernichtungslager nachlesen: »Arbeit macht frei«.
Keineswegs nur im deutschsprachigen Raum, dort aber ganz besonders, existiert eine lange Tradition der Entgegensetzung von vermeintlicher jüdischer »Nicht-Arbeit« und den nationalen Arbeitstugenden. Der nationalliberale Politiker und Historiker Heinrich von Treitschke, auf den die Parole »Die Juden sind unser Unglück« zurückgeht, erklärte: »das Semitenthum« drohe »die gute alte gemütliche Arbeitsfreudigkeit unseres Volkes […] zu ersticken.« Der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker von der offen antisemitischen Partei der Christlich-Sozialen postulierte einen »christlich-deutschen Arbeitsgeist« und erklärte 1878: »Das moderne Judentum muss an der produktiven Arbeit teilnehmen.« Die Juden hätten »an der Arbeit keine Freude, für die deutsche Arbeitsehre keine Sympathie.«
Im völkischen Staat des Nationalsozialismus bekam die Arbeit zentrale Bedeutung. Was die staatszentrierte und kollektivistische Arbeiterbewegung bereits vorgezeichnet hatte, wurde bei den Nazis zur Vollendung gebracht: Arbeit als Dienst an der Gemeinschaft und als Opfer für das Gemeinwohl. Das hatte Folgen für die Entwicklung in den Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus, die sich nicht nur in diesem Punkt von den liberal-kapitalistischen Gesellschaften angelsächsischer Prägung unterscheiden. In aller Kürze hat Gerhard Scheit dies in dem Band Postnazismus revisited. Das Nachleben des Nationalsozialismus im 21. Jahrhundert auf den Punkt gebracht: »Wenn in Amerika von pursuit of happiness gesprochen wird, heißt es in Deutschland immer nur: Arbeit macht frei.« Nachdem die großdeutschen Proletarier zu »Soldaten der Arbeit« mutiert waren und sich weitestgehend in die Volksgemeinschaft – und das heißt auch: das Vernichtungswerk – integriert hatten, machte man sich nach 1945 daran, die Resultate des Nationalsozialismus in der demokratisierten Volksgemeinschaft sozialpartnerschaftlich zu verwalten.
Die Linke hingegen polemisierte gegen die schmarotzenden Müßiggänger und wünschte sich »Arbeiter- und Bauernstaaten«, anstatt die Menschen vom elenden Dasein als Arbeiter zu befreien. Der Arbeitsfanatismus von links bis rechts sieht die ehrliche Arbeit um ihren gerechten Lohn betrogen, sei es durch die »Zinsknechtschaft«, wie es bei den Nationalsozialisten explizit hieß und bei vielen Islamisten heute heißt, oder die keineswegs nur von der Antiglobalisierungsbewegung so inbrünstig gehassten »Spekulanten«. Die Agitation geht gegen »die da oben«, gegen die »Bonzen und Parasiten«, die lieber konspirieren als durch anständige Arbeit etwas zum Volkswohlstand beizutragen.
Der Hass auf das unterstellte oder tatsächliche arbeitslose Einkommen ist nicht nur eine falsche, sondern angesichts seiner Ressentimenthaftigkeit und seiner Verherrlichung des Staates eine äußerst gefährliche Antwort auf gesellschaftliche Krisenerscheinungen und ungleiche Reichtumsverteilung. Der in jedem arbeitsfetischistischen 1. Mai-Aufruf artikulierte Sozialneid ist das exakte Gegenteil von dringend notwendiger Sozialkritik.


Arbeits- und Staatsfetischismus

Ob linke Globalisierungsgegner, christliche Sozialtheoretiker oder faschistische Produktivitätsfanatiker: Helfershelfer bei der Rettung der Arbeit soll der Staat sein, der den zügellosen, nicht dingfest zu machenden Marktkräften den Betrug an der ehrlichen Arbeit verunmöglichen soll: Kein Arbeitsfetischismus ohne Staatsfetischismus. Doch wird der Staat gegen den Markt in Anschlag gebracht, werden Folgen kritisiert und zugleich deren Ursache legitimiert. Es wird nicht das Kapitalverhältnis und der Staat als dessen kollektiver Organisator für die systematische Schädigung des Interesses der abhängig Beschäftigten verantwortlich gemacht, sondern der Kapitalismus wird lediglich mit immer neuen sprachlichen Zusätzen versehen: vom »Turbokapitalismus«, über den »Kasino- und Mafiakapitalismus« bis zum »Raubtier-« oder »Börsendschungel-Kapitalismus«. Dagegen wird dann die »Würde der Arbeit« mobilisiert und der Verlust der »Gestaltungsmöglichkeiten der Politik« beklagt.
Der Skandal der heutigen Gesellschaftsform besteht aber nicht darin, dass die Politik in einigen Bereichen weniger zu melden hat als früher. Das Niederschmetternde einer auf Gedeih und Verderb an die Verwertung von Kapital geketteten Gesellschaft besteht darin, dass in ihr das millionenfache Verhungern von Menschen, die zwar Lebensmittel »nachfragen«, aber eben über keine zahlungskräftige Nachfrage verfügen, achselzuckend in Kauf genommen wird. Das Obszöne dieser Gesellschaft besteht darin, dass Luxus und Genuss den meisten Menschen auch in den materiell vergleichsweise abgesicherten Weltgegenden vorenthalten werden, obwohl das angesichts der entwickelten menschlichen und gesellschaftlichen Fähigkeiten nicht notwendig wäre. Nicht etwa, weil das irgendwelche finsteren Mächte so beschlossen hätten, sondern weil es schlicht der Logik des Systems der Kapitalakkumulation entspricht, gegen das es heute kaum wahrnehmbaren Einwände mehr gibt – es sei denn von Leuten, welche die bestehende Gesellschaft durch noch Schlimmeres ersetzen wollen.
Anstatt für die Vollendung des Individualismus und für seine gesellschaftlichen Voraussetzungen zu streiten, klammert man sich an die Sklavenparole »Die Arbeit hoch!«. In der Huldigung des Prinzips der Arbeit finden rechts und links, sozialdemokratischer Etatismus und liberaler Verwertungswahn zueinander. Jemand wie Oscar Wilde hätte für dieses Theater nur Verachtung übrig gehabt. In Der Sozialismus und die Seele des Menschen heißt es ebenso knapp wie treffend: »Muße, nicht Arbeit, ist das Ziel des Menschen.«


Glück statt Arbeit

Das zynische Achselzucken des Liberalismus, der angesichts der schlechten Einrichtung der Welt erklärt, die Menschen seien nun einmal so, und der über seine eigenen Konstitutionsbedingungen nichts wissen will, ist nicht viel besser als das linke Geraunze. Doch was sollte die Alternative zum traditionslinken wie liberalen Arbeitsfetischismus sein? Entspricht das Arbeitsregiment nicht der »menschlichen Natur«? Schon der Dandy und Gentleman Oscar Wilde hatte die passende Antwort auf derartige geschichtsvergessene Abwehrreaktionen parat: »Das einzige, was man von der Natur des Menschen wirklich weiß, ist, dass sie sich ändert.« Gegen liberale Konkurrenzverherrlichung und linken Staatsfetischismus ginge es um eine Kritik der Arbeit, die weder mit dem traditionellen arbeitsfetischistischen Marxismus noch mit alternativen Verzichtsideologien etwas zu tun hat. Ihr geht es nicht um eine gleichmäßige Verteilung des Elends, sondern um seine globale Abschaffung. Sie will nicht Konsumverzicht, sondern Luxus für alle.
Eine Kritik der Arbeit richtet sich nicht gegen das Glücksversprechen der bürgerlichen Revolution, sondern versucht, seinen ideologischen Gehalt aufzuzeigen und zu verdeutlichen, dass dieses Versprechen in der bürgerlichen Gesellschaft kaum eingelöst werden kann. Solcherart Gesellschaftskritik will keinen falschen Kollektivismus oder gar Gemeinschaftssinn, sondern die verwirklichte Freiheit des Individuums, das sich über seine gesellschaftliche Konstitution bewusst ist. Dementsprechend verachtet solch eine Kritik die Parole »Die Arbeit hoch!« und setzt dagegen die Vorstellung Theodor W. Adornos von einem versöhnten gesellschaftlichen Zustand, wie er sie in seinem Aphorismus Sur l’eau in den Minima Moralia gefasst hat: »auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen«, was übrigens auch eine schöne Alternative zu den drögen Gewerkschaftsaufmärschen oder der Klassenkampfsimulation linker Splittergruppen zum alljährlichen Tag der Arbeit ist.


Klassenfahrt in die Volksgemeinschaft

Der Vorstellung von der »Einheit der Arbeiterklasse«, die auf den diversen Aufmärschen zur Feier der Arbeit Jahr für Jahr beschworen wird, war immer schon ein Quäntchen kollektivistischer Wahn und eine ordentliche Portion Konformismus beigemischt. Das Klassenbewusstsein, das stets als eine Art Geheimwaffe der Arbeiteremanzipation selbst noch bei den avanciertesten Vertretern eines kritischen Marxismus firmierte, ist lange schon entzaubert. Wird das Kapital vor dem Hintergrund der Marxschen Wert- und Fetischkritik als blinder gesellschaftlicher Prozess, als Selbstbewegung eines gesellschaftlichen Ungetüms begriffen, das sich durch das bewusstlose Handeln der gesellschaftlichen Akteure vollzieht und dabei stets und zum Nachteil des überwiegenden Teils der Menschen die Aufspaltung der Gattung keineswegs nur in Klassen, sondern überhaupt in sich zwangsläufig in erbitterter Konkurrenz feindlich gegenübertretende Monaden produziert und reproduziert, so ist auch der Klassenkampf keine heroische und systemtransformierende Angelegenheit mehr.
Die schlechten gesellschaftlichen Arbeitsverhältnisse können nicht durch die konsequente Wahrnehmung von Interessen aufgehoben werden, da sie diese Interessen selbst konstituieren. Anders gesagt: Lohnarbeiter als Lohnarbeiter wollen mehr Lohn, nicht die allgemeine Emanzipation. Der Wille und das Interesse, die sich hier artikulieren, sind nicht jene von voraussetzungslosen Subjekten, sondern von gesellschaftlichen Charaktermasken, von Personifikationen gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Verwirklichung von Emanzipation, die Herstellung eines versöhnten Zustandes kann nicht die Verwirklichung eines Klasseninteresses vom Standpunkt der Arbeit aus sein, sondern nur die Überwindung von Klassen und ihrer Interessen. Nicht baut die Arbeiterklasse den Sozialismus auf, sondern der Aufbau des Sozialismus, soll er nicht lediglich eine alternative Form der Schinderei sein, implizierte den Abbau der Arbeiterklasse. Für die 30-Stunden-Woche kann man als Klasse streiten, für allgemeine Emanzipation und gesellschaftliche Versöhnung im Sinne der Kritischen Theorie nicht.
Subjekt der Emanzipation von der Lohnarbeit könnte heute nur eine Assoziation der leidenden Menschen mit dem Vorsatz sein, jene Verhältnisse, die das Leid systematisch verursachen, in einem Akt praktischer gesellschaftlicher Selbstreflexion in progressiver Absicht aufzuheben. Weiß dieses Subjekt aber nichts von der drohenden Aufhebung des schlechten Bestehenden hin zum Schlimmsten, kann es kein emanzipatives sein. Die klassenlose Klassengesellschaft, die postnazistische, in Deutschland und Österreich erst durch Faschismus und Nationalsozialismus ermöglichte »Pseudomorphose der Klassengesellschaft an die klassenlose«, von der Adorno in seinen Reflexionen zur Klassentheorie spricht, berührt den Kern jeder Revolutionstheorie. Da der für den Traditionsmarxismus konstitutive Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit kein außerhalb jeglicher Geschichtlichkeit existierendes Verhältnis ist, kann er auch nicht unberührt bleiben von der negativen Aufhebung der Klassengesellschaft in der deutsch-österreichischen Volksgemeinschaft. Das proletarische Interesse hat sich im Nationalsozialismus mit dem Staat verbündet und sich ans Vernichtungswerk gemacht. Nachdem die Proletarier in den hiesigen Gefilden in ihrer niederschmetternd überwiegenden Mehrheit zu Prolet-Ariern mutiert waren und sich in den volksgemeinschaftlichen Massenmord integriert hatten, müsste jede emphatisch auf den Begriff der Arbeiterklasse rekurrierende Emanzipationsvorstellung vor sich selbst erschrecken.


Schlechte Aufhebung der Arbeit

War vor der faschistischen Versöhnung von Kapital und Arbeit der proletarische Arbeitskult noch auf die Überhöhung und Verklärung der Schufterei als Mittel zum Lebensunterhalt gerichtet, gerät im Nationalsozialismus und im Postnazismus das Sinnstiftende und Disziplinierende der Arbeit zum eigentlichen Grund des Arbeitsfetischismus. Daran ändert dann auch die vermeintlich »neoliberale« Flexibilisierung der Arbeitswelt in den letzten Jahrzehnten nichts mehr. Ganz im Gegenteil: Sie herrscht die zuvor von Staats wegen und gemeinschaftlich organisierte Verpflichtung zur Produktivität nun jedem Individuum als »Eigenverantwortung« auf. Durch die neuen Formen von »Mitbestimmung« und die vielgelobten »flachen Hierarchien« in der Arbeitswelt wird der Produktivitätswahn im schlechten Sinne demokratisiert und individualisiert, keineswegs aber in Frage gestellt.
Diese Flexibilisierung und schlechte Individualisierung macht sich selbst noch in der Kritik an der Arbeitssucht bemerkbar. Etwa wenn sich Menschen ungeachtet der gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen jenseits der Erwerbsarbeit einfach als Glückliche Arbeitslose titulieren, wie vor einigen Jahren eine von Berlin ausgehende Initiative, die über die Landesgrenzen hinweg große Beachtung im Feuilleton gefunden hat. So sympathisch ihre Kritik an den vorherrschenden Vorstellungen von Produktivität und Arbeit sein mag, so problematisch ist beispielsweise ihr Lob afrikanischer Großfamilien als alternative Form der Reproduktion und ihre Begeisterung für die vermeintliche »soziale Überlegenheit des armen Südens«, von der sie in ihrem Manifest schreiben. Der schlechten Individualisierung begegnen sie mit einem falschen und rückwärtsgewandten Kollektivismus, obwohl sie selbst betonen, dass es nicht darum gehen kann, »uralte soziale Gebräuche nachzuahmen«. Nicht ein vormodernes Stammesbewusstsein, in dem Arbeits- und Freizeit noch gar nicht voneinander geschieden sind, kann das Ziel sein. Es geht vielmehr um einen gesellschaftlich selbstreflexiven Müßiggang, der nicht hinter zentrale Errungenschaften der Moderne wie beispielsweise der Herauslösung aus repressiven Familienstrukturen und die Möglichkeit zu freiwilliger Vereinzelung zurückfällt, sondern über sie hinausweist. Doch solange das Glück des Menschen an den Nachweis seiner Verwertbarkeit gebunden bleibt, kann man kein »glücklicher Arbeitsloser« werden, und die wie auch immer kritikwürdige bürgerliche, urbanistische Gesellschaft ist allemal besser als die »Blutsurenge« traditioneller Gemeinschaften und der »Idiotismus des Landlebens«, den Marx und Friedrich Engels in ihrem Manifest völlig zu Recht ins Visier nahmen.
Eine Kritik der Arbeit und des Kapitals muss heute wissen, dass es weitaus Schlimmeres gibt als die bürgerlich-kapitalistische Vergesellschaftung und das ihr inhärente Arbeitsregiment: ihre negative Aufhebung. Solange eine Abschaffung von Arbeit und Verwertung, solange also Freiheit im Sinne der Realisierung individueller und gesellschaftlicher Emanzipation keine Aussicht auf Erfolg hat, gilt es, zumindest die Möglichkeiten kritischer Reflexion über die fetischistisch konstituierte Arbeitsgesellschaft aufrechtzuerhalten, zugleich das Schlimmste zu verhindern und sich gegen die Aufhebung der schlechten bestehenden Arbeitsgesellschaft in die antisemitische Barbarei zu stellen.
Daraus resultiert eine Parteilichkeit gegen jede Art falscher Unmittelbarkeit, wie sie leider auch in vielen Ausprägungen der Arbeitskritik aufscheint (man denke nur an den optimistischen Vitalismus beispielsweise des Situationisten Raul Vanheigem, der einem schon in den Titeln seiner Bücher anspringt: An die Lebenden, Buch der Lüste etc.). Neben dieser Parteinahme für die Vermittlung und den daraus resultierenden Einspruch gegen jeden Versuch ihrer barbarischen Aufhebung kann es Gesellschaftskritik nicht um eine Klassenbewusstseinstheorie und erst recht nicht um eine Kritik vom »Standpunkt der Arbeit« aus gehen, sondern einzig um den Versuch, inmitten der falschen Gesellschaft individuelle und gesellschaftliche Selbstreflexion zu ermöglichen, um die Reste jener vom Zwang zu Kapitalproduktivität und Staatsloyalität systematisch beschädigten Mündigkeit zu retten, die eine Grundbedingung der Verwirklichung von Freiheit ist.
Eine Kritik des Arbeitsfetischismus bedeutet jedoch nicht, ein Plädoyer fürs dröge Nichtstun zu halten oder sich die dumpfe Parole »Arbeit ist Scheiße« von der konformistischen Punker-Fraktion oder anderen infantilen Spießern zu eigen zu machen. Das bloße Herumhängen wird nach ein paar Tagen oder ein paar Monaten nervtötend und frustrierend. Das konsequente, selbst zur Ideologie gewordene »far niente« ist auf Dauer gar nicht »dolce«, sondern langweilig – und, angesichts der Einrichtung dieser Welt, irgendwann natürlich auch existenzbedrohend. Es geht nicht darum, die Kritik an der Arbeit als Ausrede zu verwenden, sich den Anforderungen eines mündigen – und das heißt immer auch: widerspruchsvollen und mitunter ausgesprochen anstrengenden – Lebens zu verweigern und sich in der Wiederholung des Immergleichen einigermaßen bequem, aber völlig stupide so einzurichten, wie man das in gewissen Segmenten der Linken praktiziert.
Anzustreben wäre vielmehr, den doch offenbar in nahezu jedem Menschen schlummernden Tatendrang, die Kreativität und das Bedürfnis nach ästhetischer Äußerung, die Lust an der Gestaltung des eigenen Lebens und den Wunsch nach größtmöglichem und ausdifferenzierten Genuss vom ökonomischen Verwertungszwang und von politischer Bevormundung zu befreien und gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, die eine Art produktiven Müßiggang überhaupt erst ermöglichen würden. Gelänge dies, würde, wie es in Adornos Minima Moralia heißt, die Menschheit wohl auch »aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt« lassen, »anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen«.




Stephan Grigat ist Permanent Fellow am Moses Mendelssohn Zentrum der Uni Potsdam und Research Fellow am Herzl Institute for the Study of Zionism and History der University of Haifa. Er ist Autor von Die Einsamkeit Israels. Zionismus, die israelische Linke und die iranische Bedrohung (Konkret 2014) und Herausgeber von AfD & FPÖ. Antisemitismus, völkischer Nationalismus und Geschlchterbilder (Nomos 2017) sowie, Iran - Israel – Deutschland: Antisemitismus, Außenhandel & Atomprogramm (Hentrich & Hentrich 2017).


von Stephan Grigat

19.05.2018
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