• Titelbild
• Der Schulz-Effekt
• das erste: German Übereifer
• Toxpack / Zaunpfahl
• KLUB: IO x Electric Island x Veranda
• Turbostaat
• yo, fatoni!
• Jojo Mayer + Nerve
• position: Weniger Nationalismus, mehr Leistung?
• doku: Aufruf zur Demobilisierung.
• doku: Wir brauchen eine Diskussion über die Karriereplanung der linken Studis
• das letzte: High Noon in Thekla
Auf dem Parkplatz eines Einkaufsmarktes - jenem Ort, wo dem Lohnarbeiter nach den Worten Horkheimer/Adornos der Wechsel präsentiert wird, den er zuvor beim Kapitalisten unterschrieben hat - trafen sich Mitte März zwei 59-Jährige Männer, um ihre finanziellen Verhältnisse zu klären. Der eine, ehemaliger Arbeitgeber, hatte die Arbeitskraft des anderen über etliche Wochen hin angewandt, ohne ihm anschließend den vereinbarten Lohn zu zahlen.
Überall, wo die kapitalistische Produktionsweise vorherrscht, wird die Arbeitskraft erst gezahlt, nachdem sie bereits verausgabt wurde. Wenn dem Arbeiter dann, wie in diesem Fall, der vereinbarte Lohn vorenthalten wird, zeigt sich, dass er für die Dauer des Produktionsprozesses den Kapitalisten kreditiert hat. Im geschilderten Fall ging es um die nicht bezahlte Arbeitskraft etlicher Wochen und Lohnaußenstände von einigen hundert Euro.
Bei dem Treffen der beiden sollte die offene Forderung nun beglichen werden. Zur Überraschung des Arbeiters überreichte ihm der Kapitalist jedoch nur wenige Euro und verband die Übergabe mit dem Hinweis, er solle weiter Zurückhaltung üben. Zur Untermauerung seiner Drohung demonstrierte er, wohin die unbezahlte Mehrarbeit des Arbeiters geflossen war: so schlug er seine Jacke ein Stück zurück und stellte den darunter verborgenen Revolver zur Schau. Dann ließ er den Betrogenen stehen, stieg in sein Auto und verschwand.
Als sich der Arbeiter gesammelt hatte, wandte er sich an die Polizei, um seinem geprellten Anspruch doch noch zur Geltung zu verhelfen. Diese rückte auch zur Hausdurchsuchung aus, beschlagnahmte jedoch nicht den vorenthaltenen Lohn, sondern folgte ganz dem eigenen Interesse und entwaffnete den Kapitalisten.
Das Geschilderte lebt von der moralischen Empörung, die der Verstoß gegen Waffen- und Wertgesetz im bürgerlichen Bewusstsein provoziert. Der vorenthaltene Lohn, der dem bürgerlichen Bewusstsein als Preis der geleisteten Arbeit erscheint, soll dem Arbeiter ausgezahlt werden, damit alles gerecht zugehe. Mit der Androhung unmittelbarer Gewalt, durch welche die im Verhältnis von Gläubiger und Schuldner verkleidete Klassengesellschaft plötzlich durchsticht, gewinnt der Vorgang den Charakter eines nachträglichen Raubs, so als habe der Kapitalist den Arbeiter von vornherein zu un- bzw. unterbezahlter Verausgabung seiner Arbeitskraft gezwungen.
Gegen diesen Bruch des Wertgesetzes und den unmittelbaren Zwangs außerhalb der Fabrik rebellieren die bürgerlichen Humanisten und der Geprellte verfolgt ihr wie sein unmittelbares Existenzinteresse, wenn er sich an die politischen Institutionen der Klassenherrschaft wendet.
Der Ausbeutung wird er damit jedoch nicht entkommen, sondern die alltägliche vielmehr bestätigen. Der kapitalistische Produktionsprozess reproduziert durch seinen eigenen Vorgang die Ausbeutungsbedingungen des Arbeiters, ohne dass es die unmittelbare Gewalt eines einzelnen Kapitalisten benötigt. »Er zwingt«, unterstrich Marx, »beständig den Arbeiter zum Verkauf seiner Arbeitskraft, um zu leben, und befähigt beständig den Kapitalisten zu ihrem Kauf, um sich zu bereichern.« Während der Arbeiter aus dem Produktionsprozess so herauskommt, wie er in ihn hineinging – als Besitzer und Anbieter allein seiner Arbeitskraft -, geht der von ihm produzierte Mehrwert an den Kapitalisten, der mit diesem Kapital die Arbeitskraft des Arbeiters und/oder die seinesgleichen zur Produktion weiteren Mehrwerts einkaufen, oder aber seine Arbeit zukünftig durch vom Mehrwert erworbene Maschinen ausführen lassen kann. Es braucht in der Regel keine direkte Gewalt, wo der »stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse […] die Herrschaft des Kapitals über den Arbeiter« besiegelt. Der Arbeiter gehört bereits dem Kapital, »bevor er sich dem Kapitalisten verkauft« und vergrößert durch den wiederkehrenden Verkauf seiner Arbeitskraft beständig diese »ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht«.
Produktiver Arbeiter in diesem spezifisch gesellschaftlichen, geschichtlich entstandenen Produktionsverhältnis zu sein, heißt, nicht mehr als das unmittelbare Verwertungsmittel des Kapitals zu sein; heißt also, dass es, auch wenn der Lohn zuweilen zum Leben und nicht nur zum Existieren reicht, »kein Glück, sondern ein Pech« ist, Arbeiter zu sein.
In der Erscheinungsform des Arbeitslohns als Preis der Arbeit wird das wirkliche Verhältnis unsichtbar und gerade in sein Gegenteil verkehrt. Auf ihr beruhen »alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen«. Statt den Arbeitslohn und die bürgerlichen Rechtsvorstellungen samt ihrer Freiheitsversprechen zu fetischisieren, bedarf es ihrer radikalen Kritik. In seinem populären, von Marx überarbeiteten Auszug des ersten Kapital-Bandes gelangte Johann Most zu dem Urteil, »daß alle Staatsanwälte, Polizisten und Soldaten zusammengenommen der ›Gesellschaft‹ keinen so großen Dienst leisten als diese Form – Arbeitslohn.«
Eine gewissenhafte Analyse des Werts und Mehrwerts führt hingegen nicht dazu, dass sich, wie es im Polizeibericht zum geschilderten Vorfall steht, der Arbeiter der Polizei »anvertraut«, sondern gelangt, wie es bei Marx süffisant heißt, zu einem »verfänglich-polizeiwidrigen Resultat«.
Ludwig-August Weiß