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Aktuelles Heft

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+++ Terror +++ Terror +++ Terror +++
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• doku: Hypezig – Die Verkleinbürgerlichung des Alternativen
• doku: «... so long as nuclear weapons exist, we are not truly safe. (Applause.)»
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Der folgend dokumentierte Text erschien im März 2015 als Beitrag in dem im Unrast-Verlag veröffentlichten Sammelband LEIPZIG – Die neue urbane Ordnung der unsichtbaren Stadt, herausgegeben von Frank Eckardt, René Seyfarth & Franziska Werner.



Hypezig – Die Verkleinbürgerlichung des Alternativen

Das einst als Medienkritik erfundene Hashtag #Hypezig erzählt eine große und viele kleine Geschichten über Leipzig. Geschichten von der Sehnsucht nach dem besseren Leben und internationaler Anerkennung, der Tourismusindustrie, von schlechtem Journalismus, bezahlten Reiseblogger_innen und dem “neuen Berlin”. Vor allem zeugen die zahlreichen Artikel über die angeblich so hippe Metropole allerdings von einer kleinbürgerlichen Perspektive, aus der schon kleine Abweichungen vom vermeintlichen Durchschnitt als exotisch angesehen werden. Einem Kaleidoskop gleich bedeutet #Hypezig, kleine farbige Beobachtungen einmal durcheinander zu rütteln, um eine schön anzusehende Verspiegelung zu erhalten – während man eigentlich durch eine Pappröhre in die Sonne schaut. Plötzlich wohnt man in einer Stadt, die angeblich nur noch aus stoppelbärtigen Künstler_innen besteht, die den ganzen Tag im Park herumliegen. Vom sich selbst verstärkenden Effekt aufgeplustert, wird #Hypezig am Ende seiner merkwürdigen Erfolgsgeschichte, einer Persiflage gleich, dann auch noch uneheliche Mutter des offiziellen Werbespruchs “Likezig”. Aber beginnen wir von vorn.

New Yorker Vorspiel

Die Geschichte #Hypezigs beginnt schon im Mai 2009, also drei Jahre bevor der Autor und Poetry-Slammer André Herrmann sich genötigt sieht, den Begriff zu erfinden. Im Condé Nast Traveller, dem auflagenstärksten Reisemagazin der USA, erscheint ein 14-seitiger Beitrag über Leipzig (Dryansky 2009). Der Artikel hat mit überdrehten Jubelarien wenig gemeinsam, sondern ist vielmehr ein fundiertes Portrait der Stadt, mit allem was US-Amerikaner_innen an Europa eben so fasziniert: geschichtsträchtige Bauten, Weihnachtsmarkt und die Cinderella-Story, wie gut sich die Stadt nach 1990 wieder gemacht hat. Von Hipness oder gar Umzugsempfehlungen ist im Lifestyleblatt aus dem Verlagshaus von Vanity Fair, Vogue und Wired keine Rede. Gerry Dryansky, der Autor des Artikels, ist Fan des alten Europa und schreibt mit seiner Frau Bücher über französische Küche – sicherlich kein Mann für Techno Open Airs.

Dennoch ist dieser Artikel der Beginn der Spirale. Dryanskys Text ist der erste Beleg eines nicht zufälligen Interesses amerikanischer Reisejournalist_innen an der – da braucht man sich keinen Illusionen hingeben – in den USA bis dato unbekannten Messestadt. Durch die aufeinanderfolgenden Jubiläen der friedlichen Revolution 2009 und dem 325. Geburtstag Johann Sebastian Bachs 2010 öffnet sich ein Aufmerksamkeitsfenster, in dem es gelingt, den Jahreskongress des Berufsverbandes nordamerikanischer Reisejournalist_innen (Ja, es gibt für alles einen Berufsverband) nach Sachsen zu holen. Quasi ein Sechser im Marketing-Lotto – nur dass man selbst Geld ausgeben muss. Man lädt die 500 bis 600 Vertreter_innen der Zunft der Reiseschreibenden selbstverständlich erst einmal ein, organisiert Bustransfers und Abendveranstaltungen. Nicht selten werden die Spesen übernommen. Denn wem es irgendwo gefällt, der spricht gut darüber. Ein Zusammenhang, der uns wieder begegnen wird. Im Fall vom Investment in Reisejournalist_innen sind der beabsichtigte Ertrag natürlich Übernachtungsgäste.

Wie aber ist aus dem Buhlen um Besucher_innen aus dem Ausland eine rekordverdächtige Flut von hunderten – zumeist deutschsprachigen – Medienberichten über Leipzig als Metropole der Hippen geworden? Es lief so ähnlich wie bei deutschen Bands, die durch eine Erwähnung in einem englischen Musikblog von der hiesigen Musikpresse plötzlich mit ganz anderen Augen gesehen werden. Um Leipzig zum Medienphänomen zu machen, brauchte es außer dem internationalen Fürsprecher noch eine Rangliste, einen verhängnisvollen Vergleich und ein vages Versprechen – und alle drei Zutaten besorgte die New York Times.
Die in Berlin lebende Journalistin Gisela Williams erhält Anfang 2010 von der New York Times den Auftrag, ein längeres Stück über Leipzig zu machen – für die Reiseausgabe mit einer kurzen Empfehlung vorab. Ihre Idee ist, als Kontrast zu den Vertreter_innen der etablierten Kultur – Bach und Neo Rauch – die unabhängige Musikbranche als Aufhänger zu nehmen. Beim Recherchieren im Netz stößt sie auf die Homepage der (Pop Up-Messe und ruft den dort im Impressum verzeichneten Matthias Puppe an. Sie wolle ein paar Ideen zur Musikszene in Leipzig haben, zu Labels, Künstler_innen, Clubs und so weiter. Puppe schreibt ihr per Mail eine Liste mit allem, was man 2010 in Leipzig eben so gesehen und gehört haben muss: Die Clubs Conne Island, Ilses Erika und die Distillery, das Label Kann Records, sowie die DJs und Electro Acts Filburt, Matthias Tanzmann und Kassem Mosse. Williams bedankt sich und schreibt ihren Vorabtipp – der außer auf Bach und Rauch auch auf Tanzmann und Sevensol abhebt.

In der Redaktion werden die Vorabtipps in ein Ranking verwandelt und auf einmal ist Leipzig Platz 10 auf der New York Times-Liste »The 31 Places to Go in 2010« (Williams 2010a). Ein Ranking! Der vergangenes Jahr bekannt gewordene Skandal um manipulierte ›Besten-Shows‹ in den Öffentlich-Rechtlichen hat gezeigt, dass selbst frei assoziierte Aneinanderreihungen (»Die beliebtesten Motorräder Norddeutschlands«) durch das Format einer Liste eine unerschütterliche Form von Wahrheit erhalten. Plötzlich ist Leipzig wer, Platz 10 von 31 – noch vor Los Angeles und Südafrika, und das im WM-Jahr. Zwei Jahre zuvor war Leipzig in einem anderen Ranking zwar auch auf dem zehnten, aber damit auch letzten Platz gelandet: Eine Unternehmensberatung hatte 2008 im Auftrag der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung zehn deutsche Städte auf deren Fähigkeit untersucht, die so genannte ›kreative Klasse‹ anzulocken. Basierend auf dem gleichnamigen Modell des amerikanischen Ökonomen Richard Florida werden dafür Technologie, Talent und Toleranz als Anziehungsfaktoren für die neue Wissenselite angenommen und als Indikatoren verglichen. Auf Basis von Statistiken wie der Wirtschaftskraft von Spitzentechnologieunternehmen oder der Anzahl ausländischer Studierender kam Leipzig dabei auf den letzten Platz deutscher Universitätsstädte wie München, Heidelberg und Münster. Die F.A.S. verstieg sich daraufhin zu einem Fazit dermaßen historischen Ausmaßes, das im Kontrast zum späteren Medienhype an dieser Stelle eine ausführliche Zitation verdient: »Die traurige Botschaft zuletzt: Leipzig ist Schlusslicht unseres Städterankings […]. Es zeigt sich zugleich, dass es viel länger dauern wird, bis der industriell und kulturell verwüstende Schock verdaut ist, den Nazidiktatur, Weltkrieg und DDR-Langeweile angerichtet haben.« (Zit. n. Herrmann 2012). Herrmans Hypezig-Blog, die vollständigste Dokumentation des Hypes und damit auch wertvollstes Reservoir dieses Textes, startete mit genau diesem Zitat als erstem Eintrag und bewies damit von Beginn an seinen entlarvenden Blick auf die journalistischen Gattungen des Hypes.

Dass Gisela Williams für ihren großen Leipzig-Artikel nicht bis zur Nazidiktatur zurück gehen muss, liegt daran, dass sie die unabhängige Musikszene aus der Mail vom Januar im Mai 2010 live kennen lernt. Die Journalistin und die Pop Up-Macher_innen blieben in Kontakt, man lud sie natürlich zum Festival ein. Die eigentliche Messe mit den Labelständen und Diskussionsrunden verpasst sie, dafür schickt man sie am Sonntagabend noch auf Konzerte ins UT Connewitz und Conne Island. Williams hat es offenbar gefallen, sieben Wochen später erscheint der erste große Leipzig-Artikel (Williams 2010b), auf den sich mit angemessener Verzögerung alle weiteren Artikel beziehen sollten: »Die Kunstszene gedeiht in Leipzig, Bachs Hinterhof«. Ein schöner Artikel, vielleicht ein bisschen schwärmerisch, aber eben tatsächlich mit Aufmerksamkeit für eine Facette des kulturellen Lebens der Stadt, die bis dato nicht nur überregional unterrepräsentiert war: Dass Leipzig neben den Heldentaten der Vergangenheit – von Völkerschlacht bis Muster-Messe und Werk, in dem BMW-Autos zusammengesetzt werden – auch eine ganz angenehme Gegenwart in puncto Vielseitigkeit hat.

Williams ist natürlich nicht vorzuwerfen, dass ihr Artikel Legitimation einer immer sinnentleerteren Medienspirale wurde. (Nun gut, die Mutmaßung, dass Bach, falls er heute leben würde, sicher experimentelle elektronische Dancemusik machte, mutet etwas seltsam an.) Dennoch legt ihr Text den Grundstein für die zwei verheerendsten Figuren des #Hypezig-Artikels: den Berlin-Vergleich und die Behauptung des Abweichenden als Normalität.

Die beiden Verhängnisse entstammen allerdings Protagonisten ihres Artikels. Dass Gisela Williams den Galeristen Gerd Harry Lybke in ihrem Artikel oft zu Wort kommen lässt, ist mit dem Schwerpunkt auf Neo Rauch erklärbar. Allerdings öffnet Lybke auch die Büchse der Pandora: »Mr. Lybke compared Leipzig to Berlin in the early 1990s.« Erster Auftritt des Berlin-Vergleichs, dessen Funktion noch analysiert werden wird. Und nicht einmal zwölf Zeilen später wird Matthias Puppe zur Weggehkultur zitiert: »There’s an underground party or event in an abandoned factory or building every weekend here.« Das Problem an beiden Aussagen ist nicht die Frage, wie wahr sie sind, sondern in welche Richtung sie funktionieren: In beiden Zitaten werden Randlagen zu Aushängeschildern. Lybke meint die durchaus existierenden (Lebens-)Künstler_innen und sich auflösende Verbindlichkeiten von ›geraden‹ Berufswegen, Matthias Puppe eine bis heute lebendige Facette der Electro-Subkultur Leipzigs. Im Kontext von Reisebeilagen, Rankings und Städteportraits werden daraus jedoch Versprechen auf eine wohltuende Andersartigkeit, die als leicht konsumierbar dargestellt wird.

Leipziger Selbstbilder

Man kann nun darüber streiten ob und inwiefern das ein Problem ist – und für wen überhaupt. Aber vom Stadtmarketing braucht man eine Reflexion darüber sicherlich nicht erwarten. Die Aussicht auf Besucher_innenzuwachs durch internationales Lob ist einfach zu verlockend. Und so verfasste man aufgeschreckt vom NYT-Artikel eine Pressemitteilung, die diesen als Frucht eigener Arbeit darstellt, und dabei entweder nicht wusste oder geflissentlich ignorierte, dass das schöne Wochenende der New York Times-Journalistin auf Google und Akteur_innen der ›freien Szene‹ zurückging.

Ansonsten passierte außer dem wohligen Sichgefallen von Lokalzeitung und Stadtmarketing nicht fiel: Das Lufthansa-Magazin berichtet noch im selben Jahr über Leipzig als lohnende Destination und erfand dabei den später patentierten Slogan »Leipzig the better Berlin« (Lufthansa Magazin 2010). Die Moderatorin und Autorin Else Buschheuer wartet mit ihrer Freude über Williams Artikel in der Süddeutschen Zeitung noch ein dreiviertel Jahr, bis sie selbst ein Leipzig-Buch veröffentlichte (Buschheuer 2011). Eine Autorin der Frankfurter Allgemeine Zeitung wandelt Ende 2011 durch Leipzig (Haupt 2011) und lässt sich davon ganz aus der Fassung bringen (siehe unten).

Die Lawine von über 200 Pressetexten innerhalb von nur zwei Jahren hat dann vermutlich die altehrwürdige ZEIT losgetreten. Erst lieferten sich der ehemalige Chefredakteur des Stadtmagazins Kreuzer und Oberbürgermeister Jung einen ›Leserbrief‹-Wechsel über die Frage, was noch Stadtentwicklung und was schon Ausverkauf des Charmes ist. Robert Schimkes Plädoyer »Mehr Größenwahn – weniger Normalisierung« (Schimke 2012) nimmt die »Aufbauhelfer« aus den alten Bundesländern ins Visier, die nach der Wiedervereinigung an die Behördenspitzen kamen: »Sie degradieren die Menschen, die von deinem Vermögen zu träumen angezogen wurden, zu einem Gag des Stadtmarketings, machen sie zu Ingredienzien in einem Angebotsmix, zu einem Standortvorteil.« Burkhard Jung, der sich als einer dieser »Aufbauhelfer« angesprochen fühlen konnte und dies auch tat, antwortete zwei Wochen später als lyrisches Ich der Stadt (Jung 2012), beschwor dabei in paternalisierendem Ton die Einheit der Vielfalt und die Notwendigkeit von Wachstum. Und zeigte mit der dreifach gekoppelten Wortschöpfung »Anton-Bruckner-Allee-Brücke« statt Sachsenbrücke, dass da eben doch eine Verwaltung antwortete anstatt einer lebendigen Stadt.

Ebenfalls in die Rubrik Selbstbild fällt die Diskussion des Berlin-Vergleichs in lokalen Medien. Für ein positives Selbstbild als Leipziger_in ist die Skalierbarkeit auf hauptstädtische Verhältnisse natürlich eine willkommene Mischung aus eigener Auf- und anderer Abwertung. Einzigartig deutsch wird diese Figur noch mit nationalem Selbstbewusstsein, wie sie nur eine lokale BILD-Ausgabe hinbekommen kann: »Das Ausland sagt es und wir wissen es: ›Leipzig ist das bessere Berlin.‹« (BILD Leipzig 2012). Diesen Satz muss man wie eine mathematische Formel lesen, erst die Klammer auflösen und dann den ganzen Term. Dann steht da nämlich die irgendwo selbst geschriebene Wahrheit, dass Leipzig das bessere Berlin ist (diesmal u.a. anhand der Statistik zu Sonnenstunden), was wir (die journalistischen Volksvertreter_innen aus dem Hause Springer) schon längst wussten und es nun auch endlich mal im Ausland (Kollektivsingular!) ankommt. Ein Punkt, an dem Freude über Aufmerksamkeit von außen in gemeinschaftsstiftendes Selbstbewusstsein gallischen Ausmaßes umgemünzt wird. Interessant ist dabei übrigens die Beobachtung, dass laut einer LVZ-Umfrage nur sieben Prozent der Leipziger_innen den Spruch »Leipzig, the better Berlin«, den der Wirt von »Auerbachs Keller« im Oktober 2012 patentieren und auf Aufkleber und T-Shirts drucken ließ, für angemessenen und gut befinden (LVZ 2013). Solcherlei Vergleiche scheinen Lokaljournalist_innen, Wirt_innen und Touristiker_innen besser zu gefallen als Einwohner_innen.

Was macht Leipzig zu #Hypezig?

Den wirklich allerletzten Stoß für bundesweite #Hypezigkeit gab dann der ambivalente Titel »Hipsterhochburg«, den das ZEIT-Magazin im September 2012 verlieh. Am Anfang des Jahres war im Suhrkamp-Verlag ein Buch erschienen, das die mittlerweile eher als Schimpfbegriff verwendete Bezeichnung Hipster in einen akademisch-analytischen Kontext rücken wollte (Greif 2012). Und da das Buch so wie der Hipster aus Amerika kam, musste da ja etwas dran sein. Deswegen wollten die ZEIT-Autor_innen herausfinden, wo denn die Hipster in Deutschland wohnen. Tatsächlich haben dieses Buch, der Begriff Hipster, die Behauptung Leipzig sei eine Hipsterhochburg und alle anderen #Hypezig-Artikel eine große Gemeinsamkeit: In allen Fällen werden Zeichen und Zeichenträger aus Subkulturen, die mittlerweile leicht erreich- und konsumierbar sind, zu einer großen, unterschiedslosen Leinwand zusammengerührt, auf die man dann projizieren kann, was man will.
Hipster lässt sich nicht durch dicke Brille, Bart und Jutebeutel festmachen. Auch ist es schwer, Hipster sozialstrukturell, über Bildung, oder eine bestimmte Art von Jobs oder gar den Musikgeschmack zu beschreiben. Zu weit differieren die, die sich zurechnen, und die, die zugerechnet werden. Ein Ort, an dem diese Gemengelage aus »andere sagen es ist cool« und »wir hier sind schon auch cool« mit den äußeren Ingredienzien Rennrädern und Club Mate-Flaschen zusammen kommt, ist Plagwitz. Laut ZEIT also ein Hipsterviertel, insbesondere die Orte Zschochersche-Straße, Karl-Heine-Straße und Sachsenbrücke (die streng genommen auf der Grenze von Schleußig und Zentrum-West liegt). Mit dieser finalen Adelung Plagwitz’ zum In-Viertel ging es Ende Oktober 2012 richtig los. Der SPIEGEL, noch einmal die ZEIT, das ARD-Mittagsmagazin und die lokale BILD berichteten teilweise mehrfach in einer Art Themenwoche über die bislang unerklärlicherweise übersehene Angesagtheit Leipzigs und übertreffen sich gegenseitig darin, diese zu beschwärmen. Damit wusste es dann also jede_r: Leipzig ist eine Stadt, die Kreative anzieht, weil in ihr viel möglich ist. Eigentlich gar nicht so falsch, wenn da nicht die Einfältigkeit wäre, mit der das beschrieben und übertrieben wird. Und diese Spirale an erschütternder Naivität nimmt mit jeder folgenden Welle zu.

Journalistische Texte über #Hypezig können nicht zugeben, dass es oft und gern geklickt wird, wenn man irgendwo von einem Hype spricht, oder dass die Themenrecherche der Redaktion eben darüber läuft, was die Praktikant_innen in der letzten Ausgabe der NEON interessant fanden. Wollen sie über #Hypezig schreiben, müssen sie Argumente finden, die sowohl etwas mit Aktualität zu tun haben, als auch fundiert klingen. Meist wird das über die Feststellung gelöst, dass es in Leipzig noch wortwörtlichen Freiraum gäbe. Hin und wieder stützt sich diese Behauptung auf eine Andeutung zum Wohnungsleerstand, einmal sogar auf eine Umfrage zum gefühlten (!) Wohnungsangebot. Zumeist wird dies aber als nicht erklärungsbedürftige Wahrheit angesehen. Nun gibt es auch im Ostwestfälischen und im Erzgebirge noch viele Freiräume, die diese Gegenden aber offensichtlich nicht automatisch hip machen. Der Leipziger Freiraum wird erst als solcher sichtbar, weil er von Kreativen genutzt wird. Überhaupt bedarf es immer der irgendwie Anderen, um die Freiheit und Einzigartigkeit der Stadt zu belegen. Die dabei vorgenommenen Vergleiche und Exotisierungen zeigen den Nährboden für die Leipzigeuphorie dann doch ziemlich schonungslos: Kleinkariertheit.

Geht man die jeweils Anderen, die sich da in Leipzig angeblich versammeln, in den Artikeln durch, handelt es sich um unterschiedliche Entfernungen zum Standard bürgerlicher Erwerbsarbeit und Freizeitgestaltung. So werden nach bürgerlichen Kriterien durchaus erfolgreiche, aber freiheitsliebende Leipziger_innen beschrieben (Architekt_innen, Werbemenschen), deren unerhörtes Tun darin besteht, nicht den Großteil der Wochentage zur Erwerbsarbeit aufzuwenden. Per Definition erfolglos dagegen – und damit per se frei – sind Künstler_innen, die in #Hypezig gern in der Geschmacksrichtung französisch und “stoppelbärtig” daher kommen. Dass man deren Werke nur mit »abstrakt« oder Installation beschreiben muss, zeigt, dass man diese ebenso wenig wie ihre Handlungsmotive verstehen muss oder kann. Eine quer liegende Kategorie ist übrigens der Student: Lebt unter Umständen wie der Künstler oder der Werbemensch, wird das aber nur temporär begrenzt können. Die absolute Gegenfigur zum Kleinbürger ist der in Leipzig offenbar unbehelligt lebende Punk, wie in der F.A.Z. beinahe schockiert festgestellt wird: »Es gibt besetzte Häuser und grünhaarige Punks, die mit ihren Hunden herumsitzen, ohne dass es irgendjemandem auffiele.« (Haupt 2011). Je nachdem, wie gut man es mit der Autorin meint, kann man nun überlegen, was wohl anstrengender gewesen sein mag: Die eigenen Ressentiments zurückzuhalten, oder den Satz so zu konstruieren, dass die einzig Überraschte die Nicht-Überraschten entnormalisiert? Wie fühlt es sich wohl an, wenn man in einer Reportage die Worte »ohne, dass es irgendjemandem auffiele« in die Laptoptastatur tippt? Muss man da nicht selbst lachen?

Je weiter sich die #Hypezig-Lobeshymnen verbreiten – auf die großen Zeitungen und Nachrichtenmagazine folgen Modebeilagen und Lifestylemagazine, darauf Regionalzeitungen – desto deutlicher zeigt sich, dass die angeblich einzigartigen Orte und Events – Techno Open Airs im Grünen und Morgens-Fahrradladen-abends-Bar »Dr. Seltsam« – nur leere Kulissen für eine sehr bürgerliche Form der Exotisierung von Lebensentwürfen sind. Wenn schon Spaziergänger_innen und Parkbesucher_innen als Anzeichen einer sich offenbar vom Rest Deutschlands unbemerkt entwickelnden postkapitalistischen Gesellschaftsordnung gesehen werden, dann kann man nur froh sein, dass die #Hypezig-Autor_innen es bislang offenbar nicht auf die Wagenplätze und in die Eisenbahnstraße geschafft haben. Tatsächlich bedient der #Hypezig-Artikel nämlich dieselbe Art von Ressentiments wie das Pro7-Nachmittagsfernsehen mit »Die schlimmste Straße Deutschlands« (TAFF 2013). Dort wird die Eisenbahnstraße zum »Kriegsgebiet«, in dem Schießereien »an der Tagesordnung« seien, stilisiert. Als Zeug_innen der Zustände begleitet die Kamera zwei junge Männer, die sich sichtlich über die Aufmerksamkeit freuen. Sie berichten von Jugendlichen, die im Gefängnis ein- und aus-(sic!)gehen und freuen sich, dem TV-Team einen Zivilbeamten zu zeigen. Der Sprechertext im Opener macht deutlich, worum es solchen Formaten geht: Er gibt dann doch irgendwann zu, dass es seit Anfang des Jahres zwei Schießereien gegeben hätte, was aber immer noch reiche, um als »Sinnbild für Chaos« zu gelten. Ein Sinnbild ist eine Metapher, ein Stellvertreter, ein Symbol für etwas. So wie das Diskettensymbol ein Symbol für Speichern ist, obwohl kein Computer, geschweige denn ein Smartphone, noch wüsste, was eine Diskette ist. Die unfreiwillige »The Wire«-Parodie von Pro7 dient als Stellvertreter für das wohlige Frösteln, dass die Zuschauer_innen vor den Bildschirm lockt. Guck mal, wie schlimm es da ist!

Gut, aber das ist das Harmoniemilieu auf dem Couch-Dreiteiler. Was ist das wohlige Frösteln der FAZ- oder ZEIT- oder UniSpiegel-Leser_innen, die die #Hypezig-Artikel bedienen? Es ist ebenfalls der soziale Vergleich, aber in die andere Richtung. Wenn aus dem Architekten von oben, der mit seiner Frau unverheiratet lebt, ein Lebenskünstler wird und ein Laden, der tagsüber Fahrräder zusammenbaut und abends Schnaps ausschenkt, als verrückt gilt, dann bringt das doch gut auf den Punkt, wofür #Hypezig steht: Einzelne, ›positiv‹ vom Durchschnitt abweichende Merkmale werden herangezogen, um sie auf ihre Erreichbarkeit, also gewissermaßen den eigenen Möglichkeitsraum, zu prüfen: Man kann in Leipzig offenbar ganz gut (anders) leben. Am Ende werden diese Merkmale – seien sie nun Freiheit, Genuss, Selbstverwirklichung, Weltverbesserung oder Ästhetik – aber durch #Hypezig in einen Kontext gepackt, der sie als bunte Insel und/oder eventförmig konsumierbares Wochenenderlebnis erscheinen lässt. Ein kaleidoskopisches Zerrbild frei von Fragen nach der Realisierbarkeit oder Selbstverständlichkeit, bewusst für oder gegen etwas zu leben. Und erst diese Distanzierung, das Wegverpacken des Alternativen, erzeugt auch im Bildungsbürger das wohlige Frösteln beim Lesen, es ist die Sehnsucht nach einem anderen Leben, ohne es an sich selbst ausprobieren zu wollen.

Tatsächlich sind die Zutaten der aufschlagenden #Hypezig-Artikel so übersichtlich, dass man einen schreiben kann, ohne überhaupt länger als einen Abend in der Stadt verbracht zu haben. Viele Artikel basieren sogar auf dem konkreten Verlauf dieses Leipzig-Abends. Es gibt drei etablierte Startpunkte, die Baumwollspinnerei, von der aus Plagwitz erkundet wird – oder umgekehrt – und, etwas seltener, von Connewitz in die Südvorstadt. Die erwähnten Gebäude, Kneipen oder Einrichtungen werden entlang ihrer Abfolge auf dem Weg aufgezählt und (v)erklärt. Das geschieht in einer derart klebrigen Mischung aus Euphorie, Einfalt und spätsommerlich-melancholischer Schwärmerei, wie sie eben auch nur die spezifische Figuration der Textentstehung hervorbringt – die betont unaufgeregte aufgeregte urbane Entdeckungstour. Die daraus resultierende journalistische Gattung, die #Hypezig erst so einzigartig unausstehlich gemacht hat, ist das Lebensgefühl-Lamento. Im Gewand der subjektiv narrativen Reportage (hier steht der Reisejournalismus noch ganz Pate) nutzen dabei vorwiegend junge Autor_innen die Chance, den Leser_innen mit vibrierender Stimme generationale Großfragen – Wie wollen wir leben / arbeiten / lieben / wohnen? – zu stellen. Leipzig ist dabei nur Staffage, aber eben angesagte Staffage. Dass es zum Beispiel schlicht nicht stimmt, wenn Autor Maximilian Popp im Uni-Spiegel behauptet (Popp 2012), die New York Times hätte Leipzig das “better Berlin” genannt, interessiert nun auch niemanden mehr. Man glaubt es längst und gern. 2.400 Facebook-Empfehlungen für den euphorischen Kneipenabend mit dem Erasmusfreund und einer »wilden«, illegalen Party, die angeblich 18 Uhr beginnt und zwecks weiterer Recherche 21:30 Uhr verlassen wird, wie dem Minutenprotokoll zu entnehmen ist.

Man könnte die poesiealbumhafte Prosa der Schwärmereien über »Lebensgier in den Augen« ja als harmlos abtun, wenn sie nicht so haarsträubend dümmlich wären. So schreibt eine andere Autorin für die F.A.Z im Juli 2013 über die Menschen im Clara-Park: »Sie sitzen in der Sonne wie andere im Café oder in der Kneipe. Nur dass sie nichts kaufen müssen, um bleiben zu dürfen. Unglaublich, Menschen die einfach so in einem Park sitzen. Gibt es in München nicht, oder in New York.« (Volk 2013) – Wie bitte? Man weiß gar nicht, was man schlimmer finden soll. Dass so getan wird, als hätten München und New York keine großen öffentlichen Parks, in denen sich Leute tagsüber aufhalten ohne zu zahlen. Oder mit welcher Einfalt (wohlwollende Lesart: Mühe) ein schreiend naives, romantisierendes Bild von Leipzig als kostenloser, sozialer Utopie gemalt wird. Von Leipzig, der deutschen Großstadt mit den zweitmeisten HartzIV-Empfänger_innen in ihrer Bevölkerung. Oder tut es am meisten weh, dass die F.A.Z. offenbar nicht in der Lage oder willens ist, solche Sätze zu redigieren? In der selben Zeitung hatte die bereits erwähnte Autorin, die sich so toll wundern kann, ja auch schon festgestellt: »Man trifft in Leipzig Zwanzigjährige, die jeden Tag spazieren gehen, einfach, weil es geht.« (Haupt 2011). Wessen Kleinkariertheit ist es eigentlich, die da bedient wird? Man mag ja kaum glauben, dass die Autor_innen solcher Texte nicht wissen, dass man in jeder Stadt Deutschlands spazieren gehen kann. Ja, auch jeden Tag. Ist es die Kleinkariertheit der (vorgestellten) Leser_innen?

Vermutlich sind die Leser_innen aber gar nicht so sehr Gegenstand der Überlegungen eines #Hypezig-Texts. Oft handelt es sich einfach um Verbrauchstexte, die einfach nur so wenig wie möglich wehtun sollen. Texte, die wie Musik im Kaufhaus funktionieren. So unanstößig, dass sie fast nicht da sind, aber noch so anregend, dass das Einkaufserlebnis gefördert wird. Eine schöne Blüte zum Thema Einkaufen ist übrigens ein Artikel mit »Leipzig-Insidertipps« der Westfälischen Nachrichten (2013). Dass der ungenannte Autor das in urigen Kneipen servierte Radeberger aus Dresden (!) rühmt, könnte ihn oder sie noch als echten Kosmopoliten ausweisen, schließlich ist das sächsische Bier auch in den USA begehrt. Wenn aber Amiga-Pressungen von Beatles-Schallplatten oder VEB-Bücher als selten (!) und dementsprechend begehrte Flohmarktfunde bezeichnet werden, ist das doch ziemlich weit hergeholt. Also ungefähr so weit hergeholt wie die Leser_innen der Westfälischen Nachrichten (etwa 450 Kilometer von Leipzig entfernt), denn der ganze Artikel ist einzig aus der Sicht eines Wochenendtouristen aus Münster geschrieben. Und damit steht er für ein Großteil der #Hypezig-Artikel.

Die »lässige Metropole«

Für Einwohner_innen und Betroffene mag es sich um eine Identitätsdiskussion handeln, wenn man über #Hypezig streitet. Allein ist der verursachende massenmediale Diskurs damit vollkommen überfordert. Anders als die Kommentarspalten unter den Artikeln oder auf Facebook interessiert es die beständigen Aussendungen des Stadtmarketings und Reaktionen des sich selbst verstärkenden Medienhypes wenig, welche reale Basis er hat. Deren Ziel ist viel profanerer, als die Diskussion der Frage, wie wir leben wollen. Es geht um die Erhöhung des Umsatzes aus der Tourismuswirtschaft. Bei knapp 2,5 Millionen Übernachtungen im Jahr 2012 hatte die Stadt allein an Steuern schon 400 Millionen Euro eingenommen, so eine Studie der ansässigen Industrie und Handwerkskammer (IHK 2013). Im Jahr 2013 stieg die Zahl der Übernachtungen auf knapp 2,7 Millionen. Insgesamt bringt dieser Markt schon jetzt über 2 Milliarden Euro Nettoumsatz in die Stadt.
Und besonders bei Individualtourist_innen, die mehr als eine Nacht bleiben, hat Leipzig noch großes Entwicklungspotential. Zwei Drittel der Übernachtungsgäste gehen derzeit noch auf Geschäftsreisende zurück. Dieses touristische Wachstumsversprechen ist ebenso Kern des #Hypes wie die Projektion identitätsstiftender Fragen in die angeblich so anderen Leipziger_innen.

Am besten lässt sich diese Doppelseitigkeit am Berlin-Vergleich beobachten. Neben dem Gallier-Syndrom, trotz kleinerer Größe und Wirtschaftskraft doch wer zu sein, steckt im Berlin-Vergleich auch ein ökonomisches Versprechen. Denn was in Berlin nach der Aufbruchsstimmung passierte, war der Einzug großer Investitionen im Wohnungsmarkt und im Tourismussegment. Das Image der »lässigen Metropole«, wie der Geschäftsführer des Stadtmarketings den Effekt #Hypezigs nennt, ist dabei durchaus eine Hilfe, bedient es doch dieselben Versprechen wie Berlin: zur Party- und Freizeit-Hochburg einer neuen Generation von Individualreisenden werden zu können. Solche, um die man eben nicht mit Anzeigen in Magazinen wirbt, die keine Städtereise buchen, sondern mit dem Fernbus fahren. An dieses Image ist das Stadtmarketing wie oben beschrieben zwar eher zufällig gekommen, aber seitdem wird es auch gern befeuert: »[Dafür] laden wir uns Reisejournalisten ein und zeigen denen dann die Spinnerei, Plagwitz oder die Südvorstadt«, gab Volker Bremer, der Geschäftsführer der Stadtmarketing GmbH, in der BILD zu Protokoll (Richard 2012). Im April 2014 holte man dann nach den amerikanischen Reisejournalist_innen noch die internationalen Reiseblogger_innen nach Leipzig. Beim »Social Travel Summit« kamen Reiseblogger_innen und Vertreter_innen aus der Reise- und Touristikbranche zusammen, um Sessions zu Themen wie »Future of Social Media«, SEO, Nutzung von Plattformen wie Instagram und natürlich der professionellen Zusammenarbeit von Bloggern und Reiseindustrie zu besprechen, zu netzwerken und zu feiern. So ein bisschen wie bei den Reisejournalist_innen, nur dass hier die Spesen von Firmen wie einer Suchmaschine, die Zug, Flug, Auto und Fernbus für beliebte Strecken vergleicht, übernommen werden (Susi 2014). Außer Visitenkarten werden Hashtags verteilt und ein »Spontan-Flashmob« zum Pharrell Williams Song »Happy« nun ja … organisiert (Jahnel 2014). Aber natürlich alles hoch angebunden. Getränke vom Leipziger Künstlergastronom Enk und Musik von detektor.fm.

Auffällig ist, dass die »Entdeckungen«, die eine Reise erinnernswert machen, hier möglichst sichtbar und deutlich herausgearbeitet sind – sowohl für die Reiseblogger_innen als auch deren Leser_innen. Man spricht vom Charme des Verborgenen, stellt aber ein rationalisiertes Erlebnisprogramm bereit. »Verborgenes Leipzig«, ein Online-Portal des Stadtmarketings, wirbt damit, seine Tipps »abseits bekannter Wege« nach Himmelsrichtung und Stadtplan zu sortieren: »Durch die geografische Abfolge können Sie optimal selbst durch die Stadtteile navigieren, passend zu Ihrem Zeitplan […]. Die Nummern in der Tippliste entsprechen genau den Nummern auf den Bildern und den Straßenplänen. Ein Tipp – eine Nummer!« (Verborgenes Leipzig 2014). Zu den Nummern gehört immer mehr auch der Wandel an sich, der in den #Hypezig-Elogen eher beschworen als adäquat beschrieben wird. Eine kulinarische Stadtführung eines privaten Anbieters wirbt zum Beispiel: »Erleben Sie den Wandel des Leipziger Westen vom Arbeiterviertel zum angesagten Szenebezirk.« (Eat the World 2014). Auch wenn sich in den vergangenen zwei Jahren durchaus Veränderungen auf der Karl-Heine-Straße beobachten lassen, dürfte es wohl schwer werden, »den Wandel« als solchen in drei Stunden zu erleben – und dabei noch die sieben kulinarischen Köstlichkeiten auszuprobieren, die man für 30 Euro schließlich gekauft hat. Was Zeitbudget und Erwartungshaltung der Teilnehmer_innen solcher Touren allerdings einordnet, ist das zweite Verkaufsargument der Plagwitz-Tour: »Lernen Sie das größte deutsche Industriedenkmal der Gründerzeit kennen.« #Hypezig ist bereits viel tiefer in den touristischen Mainstream eingesickert als künstlich exotisierte Beschreibungen von Kneipen mit Fahrrädern an der Wand vermuten lassen. Selbst die Aufback-Croissanterie engagiert samstags einen kubanischen Gitarrenspieler, um Karli-Feeling auf die Karl-Heine-Straße zu transportieren.

Wenn die #Hypezig-Versprechen (jeden Abend Off-Partys) dann auf die touristische Realität vor Ort treffen, ergibt das durchaus komische Szenen. Zum Beispiel die junge Frau mit Modehund und Rollkoffer, die noch im Herbst 2012 auf der Zschocherschen Straße zwischen Küchenstudio und Joeys Pizzaservice einen jungen Mann fragt, wo denn jetzt hier ein empfehlenswertes Café sei, sie hätte in der ZEIT gelesen, hier gäbe es so viele. Oder wenn zwei junge ausländische Paare an einem Dienstagabend im August 2014, wenn die Partyveranstalter_innen und Kneipenbetreiber_innen selbst Urlaub machen, auf der Merseburger Straße nach der Szene suchen, fünf Minuten unentschlossen herumstehen und dann wieder in ihre Unterkunft gehen. Dass #Hypezig sich nicht immer mit Realität vor Ort trifft, nehmen die Antreiber_innen dieses Hypes billigend in Kauf. Es scheint ohnehin so, als habe sich das Bild, was sie kommunizieren wollen, in ihren Köpfen längst verselbstständigt.

Dafür steht auch die veränderte Rezeption des Hypezig-Begriffs, den André Herrmann einst als Medienkritik aufbrachte. Mittlerweile werben Immobilienbroschüren damit – und die Stadt selbst, also fast. Im Juni 2014 startete eine von Studierenden im Rahmen eines Praxisseminars mit der Leipziger Tourismus und Marketing GmbH und Ströer entwickelte Imagekampagne unter dem Titel »Likezig«: »Likezig ist Hypezig light. Ein Begriff, so weichgespült, das ihm selbst das letzte bisschen Kritik genommen wurde«, sagt Herrmann und nahm diesen letzten Schritt der Affirmation zum Anlass, sein #Hypezig-Blog einzustellen (Herrmann 2014). Der das Medienphänomen beschreibende Begriff war endgültig Teil des Phänomens geworden, formal kopiert und inhaltlich umgedreht, von einer Stadtmarketingkampagne. Was als Kontakt einer Journalistin mit der freien Szene begann, steigerte sich zu einer Flut voneinander Themen abschreibender Journalist_innen, erschuf ein Zerrbild der Stadt, und wurde schließlich ein offizielles Marketingargument.

Vielleicht gibt es etwas Trost, dass es sich mit diesem Hype wohl so verhalten wird, wie mit den vorigen, die Torsten Hinger von der naTo in einem der wenigen fundiert recherchierten #Hypezig-Beiträge (Lindner 2013) beschreibt: »Man spricht jetzt von Hypezig, aber im Grunde genommen sind das drei Wellen oder vier. Der erste Hype war 1990. Da kamen dann alle Reporter und wollten wissen, was sind das für Leute, die hier leben, die auf den Straßen waren. Der zweite Hype war so 1996, wo man gesagt hat, Boomtown. Da wurde die ganze Stadt saniert. Leipzig war kaputt und grau. Da hat man festgestellt, wie schön das ist. Und dann kam die dritte Welle im Zuge der Olympia-Bewerbung 2003, 2002, das waren auch alle hier und wollten wissen, was das ist. Jetzt ist es im Grunde genommen die vierte Welle. Das ist für die Leipziger so, ach ja, der Leipziger ist eh größenwahnsinnig und der ist es mittlerweile auch fast gewöhnt.«



Von Andreas Bischof

12.02.2016
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