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• doku: Rebecca
Sie war Jahrgang ‘82, von ihren Geschwistern „das Geschenk“ genannt.
Ich lebte seit 1980 mit meinen vier Kindern in Leipzig. Als kleines Zubrot unterrichtete ich Studenten aus dem Ausland, unter ihnen Idres, ein Neunzehnjähriger aus Äthiopien. Er sollte ihr Rebeccas Vater werden – ein Geschenk.
Es war Nacht, ich kam von einem Jazz-Konzert nach Hause, lief gleich in mein Schlaf- und Arbeitszimmer, wollte nur noch in die Matratzengruft sinken, doch dort lag schon ein zierlicher Körper. In der Dunkelheit tastete ich, um zu fühlen, welches meiner Kinder da bei mir lag, und landete in hartem Roßhaar. Großer Schreck, Licht an! Da liegt ein sehr, sehr müder Idres. Er hatte am selben Tag mit „sehr gut“ am Herder-Institut abgeschlossen. Er wollte mir danken. Und das wurde dann „das Geschenk“. Ein liebenswürdiges „Wildschwein“, noch so ein Kosename, den die Geschwister ihr gaben, begabt, temperamentvoll, auch musikalisch: erst Flöte, später Saxophon.
Für meine Familie kam die Wende 1990 in Verkörperung eines exzentrischen Sängers ins Haus. Nach Jahren der Auftrittsverbote suchte er einen neuen Anfang. Mit ihm begann für uns ein nicht enden wollendes, kreatives Miteinander. Wir gründeten das „Trio tonore“, meine Töchter Thora, Noa (auch sie dunkelhäutig aber kein „Geschenk“) und Rebecca, dazu ein Akkordeon, der Exzentriker und ich. Sechs Jahre lang zogen wir als Straßenmusikanten durch Deutschland, Holland, Luxemburg und Österreich.
Das war der Aufbruch. Und schnell folgte der Einbruch.
Rebecca war damals gerade in der dritten Klasse. Sie kam an jenem Tag später als üblich aus der nahe gelegenen Schule. Als sie endlich in der Tür stand, blieb mir bei ihrem Anblick das Herz stehen. Auch dunkelhäutige Menschen können kreidebleich aussehen. Sie war tränenverschmiert und bis in die Schuhe hinein beschmutzt von ihrem eigenen Kot. Zitternd sank sie in meine Arme, wortlos. Als sie, nach langem, behutsamem Saubermachen etwas ruhiger wurde, folgt ihr Bericht.
Es war auf dem Heimweg. Ein Auto hatte neben ihr gehalten, darin vier Glatzköpfige. Aus den geöffneten Fenstern brüllten sie mein Kind, das allein war, im Chor an: „Du Teerpappe! Kommst in die Gaskammer! Dich kriegen wir auch noch!“ Und als es weiterging: „Dreckige Niggerfotze!“, horchten Passanten auf, hoben ihre Köpfe, blieben stehen. Sie eilten ihr nicht zur Hilfe, dem Mädchen Rebecca, verhinderten wohl aber allein durch ihre Präsenz einen Übergriff.
Die Angst hatte meine Tochter so gelähmt, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte, nicht fort laufen. Wie lange muss sie dort gestanden haben, an der Straße? Und keiner fragt, keiner hilft.
Als wir – nur kurze Zeit später – mit der Diagnose „Knochenkrebs“ konfrontiert wurden, war ich davon überzeugt, daß die Ereignisse zusammenhingen. Die Krankheit und dieser Schock, so elementar … bis heute lasse ich mich davon nicht abbringen. Egal, was die Leute sagen. Wo waren diese Leute, als es auf sie ankam?
Drei Jahre musste Rebecca leiden, durch die ganze Krebshölle hindurch, um dann, im September 1996 daran zu sterben.
Es sollte nicht bei diesem einen, vernichtenden Schock bleiben. Die Glatzköpfe im Auto kamen wieder, nur mit anderen Gesichtern. Wir waren auf dem Weg zur Flötenprüfung – Aufregung genug! An der Haltestelle wiederholte sich die bereits geschilderte Szene: Auto, Glatzen, Gebrüll, Morddrohungen. Ein kurzer Moment qualvoller Ewigkeit. Rebecca steckte ihren Kopf unter meine Achsel wie ein Vogel, zitternd, wortlos.
Die Prüfung hat nie stattgefunden.
Und so ging es weiter. Immer noch steigerungsfähig, dieser Umbruch für alle: Wir sind auf dem Weg zu meiner Mutter, sitzen in einem dieser Vorortzüge, nur wenige Reisende unterwegs, unter ihnen circa acht von denen. Die drängen uns in die Ecke des Abteils. Einer betätigt die Kurbel des Fensters. Daraufhin beraten sie lautstark, ob die Nigger nun auf die Gleise zu werfen seien, beide? Jetzt? Oder erst später? Ein so hilfloser Zustand! Ich kann meine Kinder vor dieser Übermacht nicht schützen. Ein absoluter Bruch. Die anderen Mitreisenden, die Schaffnerin, sie tun nichts. Stehen weit weg. Ich brülle, brülle wie ein Tier. Die Gestalten verschwinden.
Kurz danach kommen wir in der kleinen Stadt an. Ich schiebe meine Kinder vor mir her, die laut pöbelnden Rechten im Nacken, die anderen Mitreisenden, mindestens so verängstigt wie wir selbst, neben uns. Mein Bruder steht mit offenen Autotüren am Hauptausgang. Er ahnt nichts von unserer Bedrängnis, spürt jedoch die seltsame Spannung. Wir stürzen mehr, als wir einsteigen. Türen zu und nur noch fort.
Das waren die sichtbaren, greifbaren, existenziellen Übergriffe.
Ich erinnere mich an unseren letzten Auftritt in Österreich. Rebecca war bereits amputiert, ihr rechtes Bein, und doch war sie bis zuletzt auf der Straße dabei. Hier sollte uns eine andere Variante des Hasses begegnen, eine perfidere Form von Feindseligkeit. Es war das bekannte Straßenmusikfestival in Linz, wir hatten den uns vorgegebenen Platz eingenommen, nannten uns damals „Leipziger Lumpengesindel“.
Ein eleganter Herr, bürgerliches Bildungsmilieu, steht da, hört lange unserer Mischung aus Brecht, Mühsam, Räuberliedern und Villon-Texten zu, wirft unverhältnismäßig viel Geld in den Hut und bemerkt dabei, scharf und durch die Zähne gepresst: „Auf dass bald das vierte Reich kommt und euch Gesocks dahinrafft.“ Abgang.
Der Aufbruch, Umbruch, Einbruch dauerte für Rebecca sechs Jahre.
Sie wünschte sich eine Seebestattung. Sie wollte zurück. Zum Ursprung. Und kein Land. Sie war vierzehn Jahre alt.
Uta Pilling (*1949 im Ostharz) arbeitet weiterhin als Straßenmusikerin in der Leipziger Innenstadt, inzwischen aber allein. Seit sie blind ist, wird ihr regelmäßig das Geld aus dem Hut gestohlen. Neben eigenen Liedern schreibt sie zuweilen auch Texte für ihren exzentrischen Lebensgefährten, den Chansonier Jens-Paul Wollenberg. Sie ist fünffache Mutter und siebenfache Großmutter.
Der Text „Rebecca“ ist der Anthologie „Kaltland – Eine Sammlung“ (Rotbuch) entnommen, die von den Herausgebern Markus Liske und Manja Präkels im April 2012 im Conne Island vorgestellt wurde.