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Aktuelles Heft

INHALT #205

Titelbild
Editorial
• das erste: A new one – Skate Island 2013
Roter Salon: Sozialrevolte oder Aufstand der Täterinnen?
Edo G & Reks
Phase 2 präsentiert: „Samstag ist der neue Montag“
KANN Garden
Mock, El Gos Binari, Argument.
• inside out: Jahresbericht Projekt Verein e.V. 2012
• politik: Amnesie im Raum.
• doku: Optimieren statt Überschreiten?
• doku: Wut & Bürger
• doku: Die Notwendigkeit einer kommunistischen Solidarität mit Israel
• doku: Mythos „Nakba“
• leserInnenbrief: Perfides Spektakel
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• das letzte: Das Minimum

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Das Minimum

Der französische Staatspräsident François Hollande hat beim Festakt zum 150. Geburtstag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands den „Realismus“ der Partei gelobt und damit alles gesagt, was sich zu 150 Jahren Sozialdemokratischer Partei Deutschlands sagen läßt; wenn man nicht, aus sehr gegebenem Anlaß, Tucholsky bemühen will, und wir wollen freilich:

„Es ist ein Unglück, daß die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem 1. August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleinern Übels oder Hier können Familien Kaffee kochen oder so etwas –: vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahingegangen, wohin sie gehören: zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen.“

Und jetzt zu etwas völlig anderem.

„Geliebter Tyrann. In Rußland zählt Diktator Stalin zu den populärsten Staatschefs“, meldet meine Morgenzeitung und verdichtet damit ein Umfrageergebnis in der Weise, die ihr in den trüb agitatorischen Kram paßt; denn diesseits der sensationalisierenden Schlagzeile gibt es die Wahrheit, daß Gewinner der Umfrage nach Rußlands beliebtesten Staatsführern im 20. Jahrhundert nicht Diktator Stalin, nicht einmal Lenin, sondern Leonid Breschnew war, „der in Europa als Inbegriff für die schwerfällige, bürokratische und abgewirtschaftete Sowjetunion steht“, was sprachlich schon wieder schlechter ist als nötig, denn entweder ist einer der Inbegriff von etwas, oder einer steht für etwas, zusammen ist es doppelt; aber was regen wir uns auf, es ist ja nur Journalismus, also weiter im schlechten Text: „Breschnew, der die Umfrage knapp gewann, war Staatschef in einer Epoche der Stagnation. Er machte niemanden reich, aber alle einigermaßen satt. Ein Minimum, das künftig für den Sieg nicht mehr reichen dürfte.“

„Aber damit ihm seine Kraft bewußt wird, muß das Proletariat … zu seinen natürlichen Instinkten zurückkehren, muß die Faulheitsrechte ausrufen, die tausendfach edler und heiliger sind als die schwindsüchtigen Menschenrechte, die von den metaphysischen Advokaten der bürgerlichen Revolution wiedergekäut werden; es muß sich zwingen, nicht mehr als drei Stunden täglich zu arbeiten, um den Rest des Tages und der Nacht müßigzugehen und flott zu leben.“ Lafargue, 1880

Was, mit Walter Ulbricht zu fragen, lernt uns das? Wenn keiner reich ist, aber alle satt werden (das „einigermaßen“ ist ja auch schon wieder gelogen), ist das Stagnation und als Zukunftsmodell keinesfalls zu empfehlen? Und wie müßte es aussehen, das siegversprechende Zukunftsmodell? So wie unseres? In dem sehr viele Leute reich sind, aber immer mehr Leute in die Suppenküche müssen, um satt zu werden? Und wie lange ist es her, daß zum letztenmal irgendwer gefordert hat, diese ewige Wachstumsmeierei müsse mal ein Ende haben, und daß meine Morgenzeitung das mit zustimmendem Kopfwackeln erwog? Weil es nämlich insgesamt so nicht weitergeht? Und wäre es, den prinzipiellen Schwachsinn von Umfragen einmal beiseite gelassen, nicht geradezu bedenkenswert, wenn Leute sich in eine Zeit zurücksehnen, die grau gewesen sein mag und im weitesten Sinne illiberal, aber satt, warm und, na ja: gemütlich? Oder wie sieht sie aus, die Idealgesellschaft des Rußlandkorrespondenten meiner Morgenzeitung: I-Pads und Zwölf-Stunden-Tag für alle?
„Auf die Frage nach dem Ziel der emanzipierten Gesellschaft erhält man Antworten wie die Erfüllung der menschlichen Möglichkeiten oder den Reichtum des Lebens“, heißt es im Kapitel „Sur l‘eau“ der Minima Moralia. „So illegitim die die unvermeidliche Frage, so unvermeidlich das Abstoßende, Auftrumpfende der Antwort, welche die Erinnerung an das sozialdemokratische Persönlichkeitsideal vollbärtiger Naturalisten der neunziger Jahre aufruft, die sie sich ausleben wollten. Zart wäre einzig das Gröbste: daß keiner mehr hungern soll.“ Und auch wenn Steinbrück und Gabriel, hier schließen wir den Kreis, das vollbärtige Naturalistenwesen gottlob hinter sich gelassen haben: damit, daß keiner mehr hungern soll, wäre anzufangen, und ein sozialdemokratischer „Realismus“, der sich nicht darauf besinnen mag, „daß auch die Produktivkräfte nicht das letzte Substrat des Menschen, sondern dessen auf die Warenproduktion historisch zugeschnittene Gestalt abgeben“ (ebd.) und daß Wachstum und Menschheitsglück nichts miteinander zu tun haben, ist und bleibt einer, in dessen Angesicht ich mich gern als Utopist verstehe. Denn Utopie, das ist das Minimum.


Stefan Gärtner

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13.06.2013
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