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• das erste: Gentrifizierungskritiker unter Beobachtung
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• politik: Zwangsarbeiter, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeit in Connewitz während des Zweiten Weltkrieges
• doku: Inside Syria: Letters from Aleppo
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• das letzte: das letzte
Ich hatte gestern schon angefangen, Neues aufzuschreiben, aber die Ereignisse überschlagen sich. Ich weiß nicht, ob ich selbst verarbeiten kann, was hier abgeht, geschweige denn, ob ich die Eindrücke irgendwie sinnbringend in einen Text fassen kann. Ich bin aufgewühlt. Es ist jetzt dunkel und wir sitzen wieder im Büro des AMCs. Es ist kalt, aber zumindest haben die Leute hier gerade den Generator zum laufen gebracht, damit Licht und der Router fürs Satelliten-Internet funktioniert.
Heute war ich in der (ich nenne es:) Hölle, und es war nicht die Frontline mit frisch Verwundeten und Toten. Ich begreife ein bisschen, was Krieg bedeutet und ich wette, wenn ich es mehr und mehr kapiere, ich noch durchdrehe. Zu der Hölle, die eine von allen Ärzten verlassene Bilderbuch-Psychiatrie nahe der innerstädtischen Frontlinie ist, komme ich später. Ich beginne chronologisch mit dem, was gestern war und hoffe in dem Stil erzählerisch nicht in Chaos abzurutschen. Gestern war es noch entspannter.
17.12.2012, 23:00 (Text von gestern): Die Nächte hier sind unglaublich kalt. Das AMC (Aleppo Media Center) ähnelt eher einem runter gerocktem Squat als einem Hotel – aber es ist sicherlich noch eine der besseren Unterkünfte, in einer Stadt, die in Teilen in Trümmern liegt und immer noch stark umkämpft ist. Die Fenster haben wir bei uns mit Duck-Tape geflickt, damit es zumindest keinen Durchzug gibt.
Nachdem wir gestern noch lange wach waren, entschied ich mich, mich heute Victor und Peter anzuschließen (dem Fotografen Victor Breiner und dem Schreiber Peter Steinbach, die ich auf der Hinreise kennen gelernt hatte). Peter hat ein paar konkrete Stories, denen er nach gehen wollte, bevor er morgen zu seiner Familie nach Hause fliegt. Eine gute Gelegenheit, mich an ihre Fersen zu heften und einen ersten Eindruck der Stadt zu bekommen.
Wir sitzen noch im großen Büro des AMCs und warten auf Said, der heute unser Fahrer und Fixer sein wird (Fixer, Urbn.Dict: „The man or woman who knows where to get items of dubious legal status”, hier sind damit wohl eher Connections zu Einheiten der FSA etc. gemeint). Wir sind für 8:00 Uhr verabredet. Wir alle sind tot-müde und durchgefroren, nirgends gehen die Heizungen und auch der Strom für die Herdplatte für einen Tee funktioniert (bis zu Saids verspäteten Auftauchen um halb zehn) nicht. Die Nacht über hat es geregnet. Wir checken verschlafen die internationale Presse und lesen erstaunt, dass kurz nach unserem Grenzübertritt die Stadt Azaz nahe der tuerkischen Grenze bombardiert wurde. Das hatte eine Massenflucht von 500 Syrern aus dem (gestern erwähnten) Flüchtlingslager in die Türkei zur Folge. Glück, denn das muss kurz nach unserer Durchreise passiert sein. Auch wurde ein Flüchtlingscamp bei Damaskus bombardiert und der Uno-Sicherheitsrat ist not amused. Kein Wunder, dass sich die Leute hier mehr und mehr den Islamisten anschließen und wütend auf den Westen sind. Von den 20 auf die Stadt verteilten Brigaden der FSA (mit all ihren unzähligen Einheiten) sind vier extrem-islamistisch und weitere „nur” gemässigt. Wir dürfen uns alle auf die Machtkämpfe nach dem Fall des Assad-Regimes freuen.
Unsere Fahrt war gestern Abend angemeldet, trotzdem sind wir auf einmal zu viele Leute für das Auto des AMC´s. Kurzerhand wird ein Taxi hinzu bestellt und wir teilen uns auf. An einer nahegelegenen Unterkunft für Journalisten steigen noch Patrick und Jason dazu (Patrick (AUS) fotografiert für Laif und Jason Eskenazi (US) arbeitet mit seiner analog-Kamera an einem Buch wie er sagt). Erster Stopp: eine kurdische Kampfeinheit an der innerstädtischen Frontlinie bei Karm al-Jabal. Peter will den Commander interviewen.
Wir fahren durch die nassen und diesigen Straßen. „Das Wetter verspricht zumindest keine Luftangriffe”, kommentiert Rossi. Ich schaue mir während der Fahrt das Treiben draußen an und frage Said, ob es gefährlich wäre dort jetzt alleine rumzulaufen und zu fotografieren. Er verneint und sagt, dass das von der FSA kontrollierte Gebiet überall sicher sei. Es geht weiter, vorbei an dem zerbombten Krankenhaus Dar Alshifa`a, und da war es gerade noch geschäftig, lichtet sich der Verkehr und auch die verstaubten Stände und Menschen werden weniger. Vor uns taucht quer eine Hochstraße auf, die, wie es scheint, die Stadt zerteilt. Alles sieht auf einmal anders aus – hier sind alle Häuser zerschossen und verkohlt und Markisen hängen in Fetzen von den Balkonen. Die Straßen sind nun menschenleer. Wir fahren im Zickzack um Schutt und ausgebrannte Autowracks. „Gefährlich”, sagt Said, meine Frage von vorhin aufnehmend, „wird es, wenn du an solche leeren Straßen kommst”. Weiter vorne versperrt uns ein großer orangener Müllwagen den Weg – kurz davor biegen wir nach links in eine Sackgasse, in den anderen Teil der Stadt ein. Hier sitzen bewaffnete Rebellen und wir steigen aus. Wir sind angemeldet, manche kennen sich bereits und alle begrüßen sich freudig. Die Kämpfer machen uns ihre Gartenstühle vor einem kleinen offenen Feuer frei und bitten uns, uns zu setzen. Es wird gefunkt.
Ich bewege mich etwas und schlendre auf den Müllwagen zu. Vielleicht ein gutes Foto? Ich bin sowieso schwer beeindruckt von der Szenerie und muss noch etwas wirken lassen, bevor ich fotografieren kann. „Komm sofort zurück,” ruft Peter, „Da vorne wirst du erschossen”. Gut, dass mir das einer sagt. Ich mag Peter sowieso und beschließe vorsichtiger zu sein. Die Anderen quatschen mit den Rebellen und warten auf den, der uns dann zu seiner Einheit und Commander an die Frontlinie bringt. Das war auch angefragt, aber ob es dann wirklich klappt, entscheidet die Situation und ob es gerade Gefechte gibt.
Aber unser Guide kommt und auch er freut sich uns zu sehen. Er geht vor, entlang der Straße, auf der wir gekommen waren (und auf der ich aufpassen sollte), dann nach rechts, tiefer in die Trümmerstadt. Wir werden angewiesen in einer Linie zu laufen. Keine Ahnung was uns erwartet und für einen Ausflug an die Front, sind wir eigentlich auch zu viele. Die Straßen sind jetzt so voller Schutt, dass hier keine Autos mehr fahren können. Kaum vorzustellen, was hier los war; das müssen monatelange extrem harte Gefechte gewesen sein. Straßenkampf, Haus um Haus. Wir biegen um ein paar Ecken, vorbei an zerbombten Minaretten, dann unverhofft in eine Wohnung. Die zerstörte Einrichtung liegt überall verteilt – schöne, goldverzierte Sessel, Kleidung, Bilder, Spielzeug, Regale mit großen glänzenden Vasen. Aus der Richtung, in die wir uns bewegen, kommen immer wieder vereinzelte Schüsse. Wir laufen jetzt von Wohnung zu Wohnung, immer durch kleine, in die Wände geschlagene Löcher. Es ist komisch, so leicht und schnell durch die verlassenen und zertrümmerten alten Wohnzimmer zu laufen, von den viele hier schon so lange Zeit mal lebenden Familien gehörten. Wir durchkreuzen kleine begrünte Höfe. Es geht hoch und runter, immer wieder durch kleine Löcher in den Wänden – das Ganze ist ein Labyrinth.
Wir kommen schließlich an, unser Guide ruft ein „Allahu akbar” und steuert auf ein Treppenhaus zu. Von oben kommen Rufe und wir werden von circa zehn weiteren Kämpfern empfangen. Keiner, so sieht es aus, ist älter als 25 Jahre. Sie freuen sich uns zu sehen. Dann kommt der Commander, ein circa 40-jähriger Mann. Er ist sehr freundlich und bittet uns mit ruhiger Stimme, uns zu setzen. Wir sitzen im Treppenhaus, manche auf Stühlen, manche auf den Treppenstufen, in der Mitte ein warmer Ofen. Peter beginnt sein Interview.
Ich freunde mich mit Abu Dara an, was nicht sein richtiger Name sei, wie er mir verrät. Dara, so erklärt er mir, war ein kurdischer König. Er ist 22 Jahre alt und führt mich in ein kleines, aber helles Nebenzimmer. Er bedeutet mir, mich zurückzuhalten und schleicht zu den glaslosen Fenstern. Er lehnt seine AK an die Wand und greift nach einem eckigen, länglichen Gegenstand. Er lehnt sich nah ans Fenster und hebt den Gegenstand ans Auge. Er blickt konzentriert hindurch und ich begreife, dass es ein selbstgebautes Periskop ist. Ich mache ein paar Fotos, dann reicht er mir das Guck-Ding. Ich gehe ans Fenster und schaue durch das Rohr. Er erklärt mir, was ich sehe: ein Haus, keine 15 Meter am Kopf der Gasse, mit einem Fenster und einem kleinem Loch in der Etage darunter. Das Loch ist von innen mit Brettern verrammelt, aber eine kleine Ecke gibt Sicht in ein dunkles Innere. Da sitzt der Scharfschütze, meint Abu Dara. Ich beobachte das Loch konzentriert, sehe aber nichts. Ich bin etwas kurzsichtig.
Dann fragt Abu Dara mich, ob es möglich sei, in Deutschland Musik zu studieren. Ich bin fassungslos – wir stehen hier in der Kälte in den Scherben, keine zwei Meter neben der unsichtbaren Todes-Schusslinie eines Assad-Scharfschützen, und er fragt mich nach einem Musik-Studium in Deutschland. Ich überlege, aber mir fällt nichts ein. Ich sage, dass dies schwierig sein könnte und frage, was er für ein Instrument spielt. Wir quatschen noch ein bisschen. „Say hello to Germany for me”, sagt er (was ich hiermit tue), und „I hate Syria. Some People of us rather want to die”.
Wir gehen zurück ins Treppenhaus und hören dem restlichen Interview zu. Peter fragt, Said übersetzt und der kurdische Commander antwortet ausführlich und ruhig. Dara pfeift neben mir etwas schief und fragt flüsternd, ob ich die fünfte Symphonie kenne. Hätte ich fast erkannt. Nach knapp einer halben Stunde verabschieden wir uns und ich bin fast gerührt, Abu Dara wieder allein mit seiner Einheit in den Trümmern, so weit von einem Musik-Studium wie es nur irgend geht, zurückzulassen. Die gleichen Schleichwege zurück, durch all die kleinen Wohnungen. Der Hauptmann begleitet uns und posiert noch kurz für Fotos vor einem ausgebrannten Volkswagen.
Unser nächster Stopp ist das neue Gerichtsgebäude in Saef Al Daura. Das Viertel ist härter umkämpft und Assad-Truppen hatten vor einer Woche versucht mit drei Panzern durchzubrechen, es aber glücklicherweise nicht geschafft. Gleich hier liegt eine weitere improvisierte Unterkunft für Journalisten. Patrick und Jason haben hier ihr Lager und während Peter und Victor für ihre Story mit selbsternannten Richtern über ihre Vorstellung von Gesetzen reden, bleibe ich in einer zum Wohnzimmer umgebauten Garage, in der ein Ofen brennt und trinke mit der dort stationierten FSA-Einheit Tee. Patrick kennt hier scheinbar jeden. Ich unterhalte mich mit Jason (Esekenazi) und google ihn später – seine Bilder gefallen mir sehr. Wir bekommen etwas zu essen. Patrick berichtet von dem Panzerangriff Assads und erzählt davon, wie es ist, bei Gefechten an der Front zu sein. Er will seine Bilder aber nicht veröffentlichen, weil er nicht als Kriegsfotograf verstanden werden will. Ihm wurde damals gesagt, dass wenn die Panzer durch sind, er circa eine Stunde hätte zu Verschwinden, bis die Soldaten nachgerückt sind. Jetzt wird Patrick schlecht von dem Essen und hält sich den Bauch über seiner blauen Schutzweste. Kurze Zeit später geht er raus kotzen.
Interessanterweise lernen wir hier noch Abu Jassir kennen, einen Deutsch-Syrer, der, nachdem er gesehen hat, was in seiner alten Heimat los ist, von Stuttgart nach Aleppo zum kämpfen gefahren ist. Er ist 36 und lässt seine Frau und ein sechs Monate altes Kind zu Hause in Deutschland. Er spricht ruhig und beantwortet geduldig alle Fragen. Er war auch an der Stürmung der Militärschule beteiligt, wie er sagt, sowie vier bis fünf weiteren strategisch wichtigen Orten. Wir fragen ihn nach den erbeuteten Waffen und aus welchen Ländern sie stammen. Neuere russische Waffen, sind wohl irgendwie per Code gesichert, aber Abu versichert, dass sie gute Ingenieure hätten, die besonders zur Zeit verdammt erfinderisch seien. Er lächelt breit. Er hat ein deutsches G3 gefunden, sein Lieblingsgewehr. Es tut gut, eine deutsche und so freundliche Stimme zu hören, besonders wenn sie noch so ermutigende Dinge sagt, dass sie sich zu jedem Kämpfer, der eine Pistole oder ein Gewehr bekommt, die Seriennummern der Waffen notieren, damit es nach der Revolution keinen Stress gibt, die Waffen wieder einzusammeln. 3.400 Kämpfer ständen bislang in der Kartei. Ich werde mich die nächsten Tage seiner Einheit anschließen und ein paar Tage an der Front bleiben. Sie stehen, wie er behauptet, kurz davor die Stadt einzunehmen. Rossi sagt, das Gleiche hätte er vor einem Monat schon gehört. Es ist mittlerweile dunkel geworden und wir (Rossi, Viktor und Peter) verabschieden uns von Abu Jassier und von Patrick & Jason (die morgen in die Türkei fahren und dann nach Hause zu fliegen) und fahren mit einem Taxi ca. eine halbe Stunde zum AMC zurück. Wir sitzen an unseren Rechnern und gehen wieder erst spät auf unsere Zimmer. Wir unterhalten uns über Vakuum-Bomben der israelischen Armee und das man wisse, dass man dort nicht getroffen wird, wenn man sich nicht gerade in einem Hamas-HQ befindet, oder über einem Waffenlager. Hier in Syrien kann man nie sicher sein, nicht getroffen zu werden und es wird spekuliert, dass die syrische Armee extra schlecht schießt.
The Asylum – Teil 3
18.12.2012, 18:00 (Text von jetzt): Es ist seit zwei Stunden dunkel draußen und wir sind nach einem neuen Tag wieder im AMC. Gerade mischt sich der Gesang eines Muezzin zwischen die wieder vermehrt einschlagenden Mörsergranaten.
Wir haben heute etwas länger geschlafen und befinden uns erst um halb zehn im Office. Hier treffen wir auf die uns schon bekannten Fernsehjournalisten vom französischen TV5 und weitere junge Journalisten aus Spanien und den Staaten. Wie es scheint, reisen heute alle ab. Keiner blieb viel länger als für die von ihren Sendern oder Zeitungen bezahlten Stories. Ich lausche dem Krisenberichterstatter-Talk, der sich, jetzt schon mehrmals in den letzten Tagen um die Level der Schutzplatten in unseren Westen dreht. Level-3 schützt nicht gut genug, aber Level-4 ist einfach zu schwer, um sich damit noch gut bewegen zu können. Auch hier gibt es Kompromisse. Die Franzosen verhandeln ihre letzte Fahrt mit ihrem Fahrer, der eigentlich nicht will, weil die gewünschte Stelle zu gefährlich ist, dann aber mit ein paar hundert Dollar überredet wird. Spesen.
Rossi und ich trennen uns. Er will eine ausführliche Story mit Abu Jassir machen und steigt zu den Franzosen ins Auto. Ich steige mit zu Peter und Victor, die vor ihrer Abreise um 13:00 Uhr noch schnell einen Friedhof besuchen möchten. Wir fahren nicht weit und als wir ankommen, findet gerade eine Beerdigung statt. Es regnet und der rote Matsch klebt in dicken Klumpen an meinen sowieso durchnässten Turnschuhen. Einige der etwa 40 Männer schauen uns aus der Entfernung an und kommen interessiert zu uns herüber. Es herrscht eine bedrückende Stimmung und jetzt wird rote schwere Erde von drei Friedhofsangestellten in die beiden Löcher geschaufelt. In nur zwei Minuten sind die Löcher zu. Die Gesellschaft geht zu ihren Autos und verschwindet. Keine fünf Minuten später kommen wieder ein paar Autos, die für mich (inklusive den aussteigenden Männern) total identisch aussehen. Die Friedhofsangestellten, die als Einzige Gummistiefel tragen, schaufeln zwei neue Löcher. Am Tag werden hier 15 - 20 Leichen vergraben, dabei ist es egal, ob sie von der FSA sind oder vom Assad-Regime. Zumindest hier sind alle gleich. Peter hat seine Infos, die wohl nicht für eine Story reichen. Irgendein Detail hat nicht gestimmt. Ich habe nichts fotografiert.
Wir haben noch Zeit und lassen uns in die Altstadt Richtung Zitadelle bringen (Wiki: „..eine der ältesten und größten Festungen der Welt. Frühste Siedlungsspuren führen bis in die Mitte des dritten Jahrtausends vor Christus zurück. (..) Seit 1986 ist die Zitadelle, die die Altstadt dominiert, Teil des UNESCO-Welterbes.[1] Sie ist eine Touristenattraktion”). Die Straßen sind leer hier und ich denke an meine Lehre von gestern. Der Taxifahrer bestätigt die Gefahr und redet von Snipern, die fünf Kilometer weit schießen können. Als einziges Auto fahren wir eine Straße runter. Da oben erscheinen die Spitzen der Burg auf dem Hügel, die hartnäckig von Assad gehalten wird. Von dort oben wird die halbe Stadt überblickt. Wir fahren auf ein großes Tor in einer Häuserreihe zu und steigen schnell aus. Am Tor empfangen uns FSA-Kämpfer, die um ein Feuer stehen und unseren Taxi-Fahrer kennen. Nach dem Tor führt eine lange gebogene Gasse in die Altstadt. Nach ein paar Metern treffen wir einen Mann, der einen Wagen belädt und uns vom Tod seines Bruder berichtet. Er sei gestern, in diesem Auto gestorben. Er setzt sich ans Steuer und zeigt mir das Einschussloch, welches klein und rund, frontal durch die A-Säule des Wagens ins innere zeigt. Ich mache ein Foto. Auf dem Boden liegen nasse Tücher. Blut wäscht sich in einem Rinnsal die Gasse runter. Wir unterhalten uns kurz und gehen weiter. Mehrere ältere Männer nehmen uns in Empfang und führen uns die Gasse durch einen großen Tunnel und an eine kleine Kreuzung. Wir sind jetzt ganz nah an dem Hügel unter der Zitadelle und die Anderen bleiben zurück. Die Männer zerren mich noch ein bisschen weiter und zeigen auf die gegenüberliegende Wand, welche mit dutzenden Einschusslöchern gesäumt ist. Das Sichtfeld eines Snipers von der Zitadelle oben. Sie zerren mich weiter, schnell quer über die Gasse, vorbei an den Einschusslöchern und durch eine Holztür in einen Hof. Sie quatschen die ganze Zeit arabisch und ich verstehe kein Wort. Sie deuten gen Himmel, auf ein zerbombtes Minarett. Die Assad-Soldaten zerbomben jeden Turm der sich im Gebiet der Rebellen befindet – weil sie die besten Scharfschützenplätze sind. Die FSA würde so etwas nie tun, wird mir übersetzt. Sie begleiten mich zurück und wir fahren zum AMC, damit Viktor und Peter ihr Taxi zur türkischen Grenze bekommen. Ich freue mich sehr, Peter kennengelernt zu haben..
Nach all dem Trouble vom Morgen stehe ich jetzt allein im Office. Keine Journalisten mehr da und auch Rossi ist auch noch unterwegs. Ich wende mich an Mahmoud, der zweiten Kontaktperson für englischsprachige Presse hier im AMC. Es gibt zur Zeit nur zwei Fahrer und nur ein Auto, weswegen die Bewegungsfreiheit etwas eingeschränkt ist. Mahmoud ist sehr freundlich (andere warfen ihm Geschäftemacher vor, aber er sagt, dass er die Arbeit hier freiwillig macht und das Geld, welches er von den Presse-Leuten nimmt, komplett ins AMC fließt. Gehälter zahlt sich hier keiner aus). Er sagt, gleich einen Journalisten für eine Story in die hiesige Psychiatrie zu fahren und fragt, ob ich mit will. Danach könnten wir hin, wohin ich will und generell hätte er die nächsten Tage mehr Zeit für mich, da die Franzosen und Peter weg sind. Wir steigen in den Wagen und fahren los.
Eigentlich will ich hier mal allein durch die Straßen und ein paar Bilder vom Leben, wie es sich jetzt organisiert machen. Den Menschen, den improvisierten Tankstellen, den kleinen Zigaretten- und Obständen, dem Schutt und dem Müll auf den Straßen und all den unzähligen Dingen, die sich noch ergeben.
Ich will auch ein paar Bilder von zerbombten Häusern und generell von allem. Ich bin zum ersten Mal in Aleppo und zum ersten Mal in einem Krisengebiet. Meine Story sind alle Eindrücke und Erfahrungen, die ich kriegen kann. Aber besides dem habe ich mir tatsächlich noch ein paar Geschichten überlegt und recherchiere später deren Umsetzung.
Wir fahren durch die Stadt und ich filme die Fahrt etwas mit meinem Handy. Ich frage Mahmoud nochmal, ob es sicher wäre hier jetzt auszusteigen und zu fotografieren und entgegen der Aussage von Said rät er mir entschieden davon ab. Irgendwann steigt eine Claire (US) dazu, die extra kurz aus Kilis gekommen ist, und wir fahren zur Psychiatrie nahe der Frontlinie irgendwo in der Altstadt. Ich habe, wie so oft, keine Ahnung, was mich erwartet. Die Straßen sind leer und eng und einmal fragt Mahmoud zwei Kinder nach dem Weg. Angekommen stoßen noch die Spanier von heute morgen hinzu. Wir werden von einem Abdu begrüßt, der uns ins Haus bittet.
Das Innere des Hauses besteht aus einem spitzen, dreieckigem Innenhof mit hellen Kachelboden. An allen Seiten und hoch bis in die dritte Etage sind offenstehende Zimmer. Es regnet in die Mitte des Hofs und es gibt keine Einrichtungsgegenstände, oder Pflanzen, oder sonst irgendetwas. Aus den Zimmern treten neugierig ein paar (meist barfüßige)Menschen. Alle schleichen, oder tapsen und aus einem Zimmer kommt ein immergleiches, singendes Schreien, was bis zu unserer Abfahrt nicht verstummen wird. Ich werde jetzt nicht weiter das Verhalten der Patienten beschreiben, aber wenn ich mir die Patienten einer Bilderbuch-Psychiatrie vorstellte, übertraf das Szenario meine Vorstellungen bei weitem. Abdu bittet uns zu fotografieren, was ich tue, soweit ich den einzelnen Menschen entnehmen kann, dass sie damit einverstanden sind. Ich befrage Abdu ein wenig, der erzählt, dass bei Ausbruch des Aufstandes alle Ärzte und Schwestern diesen Ort verlassen hätten. Auch haben die Patienten keine Verwandtschaft mehr, die sich in irgendeiner Weise kümmern würde. Ich frage, ob es Medizin gibt und er scheint mich nicht ernst zu nehmen, aber er verneint – natürlich gibt es die nicht. Neben Abdu gibt es noch zwei weitere simple Anwohner, die sich um die Leute hier kümmern. Ehrenamtlich, weil sie diesen Ort verlassen vorgefunden hätten und nach eigener Aussage nicht anders konnten, als sich um die Menschen hier zu kümmern. Keiner von ihnen hat eine medizinische Ausbildung. Ich schaue mich noch ein bisschen um und gucke in die einzelnen, kargen Räume. Auch hier gibt es weder Einrichtung, keine Bücher, Pflanzen, Spiele oder keine Ahnung was ich von einem Ort wie diesem erwarten würde. Nur Betten und zerschlissene kreuzige Bettdecken. Alles sieht aus wie eine Kulisse, die so grausam gestaltet wurde, das sie definitiv in keinen Film mehr passen würde. Ich stolpere in einen etwas größeren Raum und erschrecke – in der hinteren Hälfte des Zimmers ist ein Bettenlager, in dem 15 Menschen zusammengekauert in meine Richtung blicken. Es stinkt bestialisch nach etwas, das ich nicht einordnen kann, würde aber behaupten, das hier irgendetwas verwest. Jemand macht laute Geräusche. Dieser Ort ist so surreal. Ich stolpere wieder nach draußen und höre mich selbst laut und tief durch den Mund atmen. Mir ist ein bisschen schwindelig und ich stehe neben mir.
Dieser schlimme Ort, in dieser zerbombten und komplett unsicheren Stadt, mit seinen verlorenen und komplett verstörten Bewohnern, ist somit das schlimmste was ich in meinem Leben gesehen habe! Auf 18 Räume kommen hier 60 Bewohner. Jetzt im nach hinein fällt mir auf, dass es dort keine Frauen gab, ich hätte danach fragen sollen. Aber Kinder gab es. Abdu sagt, dass die meisten Patienten schon vor dem Krieg hier gewesen seien, aber auch ein paar vom Krieg traumatisierte hier sind.
So, jetzt ist fast 22:00 Uhr und ich bin müde. An die lauten Mörser-Einschläge habe ich mich gewöhnt. Ich habe das Gefühl, hier keine Zeit zu haben irgendetwas zu verarbeiten. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist.
Mal sehen, was morgen passiert. Der nächste Bericht wird etwas magerer ausfallen.
Alles gute aus Aleppo.
Just.