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Der Trauermarsch anlässlich der Zerstörung Magdeburgs am 16.01.1945 wird durch einen Geniestreich der Behörden ohne jegliche Möglichkeit der Protestbekundung verwirklicht // Einsatzkräfte der Polizei setzen sich gewaltsam fernab der Marschroute mit GegendemonstrantInnen auseinander.
Am Samstag, 12.01.2013 wiederholte sich der jährliche geschichtsrevisionistische Trauermarsch gegen die Zerstörung der Stadt Magdeburg durch die Alliierten. Wenige Tage zuvor wurde eine Änderung der Route bekannt gegeben. Infolge unzureichender Bestätigung verlief die Organisation der Blockaden mehrgleisig und unkonzentriert. Außerdem wurden nachgemeldete Kundgebungen und Gegendemonstrationen, außer einer mit zweieinhalb Kilometern Entfernung zum potentiellen Ankunftsbahnhof, abgelehnt.
Die zuletzt gemeldete Route sah zunächst die Ankunft der Trauergemeinde im Bahnhof Magdeburg Herrenkrug vor, welcher sich weit außerhalb im nördlichen Osten und damit im von der Elbe getrennten Teil der Stadt befindet. Über die Herrenkrugstraße sollte der Marsch vom Bahnhof in den Stadtteil Cracau ziehen, durch Wohngebiete am Rande der Stadt. Die strategische Problematik dieser möglichen Route wird deutlich, wenn man in Betracht zieht, dass lediglich die Sperrung der Elbbrücken durch eine handvoll Einsatzkräfte jeglichen Ortswechsel von GegendemonstrantInnen jenseits der Elbe in den gesamten Rest der Stadt verhindern würde, sollte der Trauermarsch verlegt werden.
[Bahnhof Magdeburg Herrenkrug]
Etwa 200 (indymedia gibt 300, andere Quellen 400 bekannt) Leuten stank die offensichtliche Gefahr, der Polizei in die Falle zu tappen, noch nicht genug. Sie fanden sich gegen 10.00 Uhr auf der Herrenkrugstraße am Campus der FH Magdeburg/Stendal, sich selbst mit einschlägigen Sprechchören begrölend, zu einer Sitzblockade zusammen und breiteten ihre Banner aus. Außer einer kleinen Gruppe von BeamtInnen war niemand vor Ort, um diese betrachten zu können. Und wenn man nicht gerade ein Neuling war, vermisste man auch schnell eine angemessene Absperrung oder Sicherung des freien, parkähnlichen Campusgeländes. Kaum vorstellbar, dass hier in zwei Stunden mehrere hundert Menschen marschieren sollen.
„Ihr seht gut aus!“ wurden die – wen auch immer – Blockierenden durch das Megaphon der Platzanweiserin ermutigt. Regelmäßige belanglose Informationen zum Aufenthalt verschiedener Gruppierungen wurden enthusiastisch bejubelt. „Scheißegal, wo die Faschos sind – das hier ist ihre beschissene Route!“ plärrte das Megaphon noch gegen 11.00 Uhr, obwohl indymedia schon 9.58 Uhr tickerte:
[MD] Die Polizei sagt, dass sie die Nazis nicht am Herrenkrugbahnhof aussteigen lässt
[https://linksunten.indymedia.org/de/ticker/md13?page=1].
Wenige Minuten später wurde auch die Route durch Cracau öffentlich von der Polizei als hinfällig erklärt. Gegen 11.30 Uhr forderte die Polizei die Räumung der Straße. Währenddessen wurde bekannt, dass MarschteilnehmerInnen am Hauptbahnhof gesammelt werden, andere sich in südlicheren Stadtteilen gruppieren. This is really happening!
[Innenstadt]
Der öffentliche Nahverkehr in Magdeburg stand still – der Weg in die Innenstadt war nur zu Fuß zu leisten. Die Brücken über die Elbe waren wider Erwarten begehbar. Kleinere, sinnfreie Polizeisperren Richtung Zentrum konnten ohne größeren Aufwand umgangen werden. Die Meile der Demokratie, eine Aktion der Zivilgesellschaft, die Innenstadt zu blockieren, erschien eher wie die 400 Meter der Demokratie.
Seit fünf Jahren ruft das Bündnis Gegen Rechts (BGR) zur Teilnahme an der Meile der Demokratie auf, um somit durch eine Art Straßenfest eine Trauermarschroute durch die Innenstadt zu verhindern.
Aktionsaffine Antifas kritisieren daran, dass so der Trauermarsch an sich nicht verhindert, sondern nur verschoben würde und gleichzeitig dieser Aktionismus zu einer vermeintlichen Lösung, tatsächlich aber zur Verschleierung des Problems führe. Es darf dabei dennoch nicht außer Acht gelassen werden, dass vor der Initiative der Meile zum Daheimbleiben aufgerufen wurde, wenn sich der 16. Januar näherte.
Vielleicht trugen aber auch die unbekannte Anzahl der GegendemonstrantInnen – das Anti-Imp-Bündnis Magdeburg Nazifrei bedankt sich später bei 3.000 AktivistInnen – sowie die Alternativoptionen dazu bei, dass die Meile der Demokratie nur wie ein kleines Straßenfest erschien. Gegen 12.00 Uhr startete wenige Blöcke weiter die Anlage von Nazis wegbassen am Hauptbahnhof – das Motto war quasi „Beats statt Braun – wir sind lauter“. Getragen wird das Ganze durch die unter Nazis? Kannste knicken zusammen geschlossenen Bands, Bars, Cafés, DJs, Kneipen etc.
Während vorne gegen das Frieren getanzt wurde, schleuste die Polizei einen Teil der Trauergesellschaft hinter dem Hauptbahnhof nach Stadtfeld, einem eher alternativen, teilweise autonomen Wohnviertel im südlichen Westen. Hier konnte man nur ein leises Echo der Beats vernehmen. Mittlerweile hielten viele eine Alternativroute im südöstlichen Buckau mit einer südlichen Marschrichtung für wahrscheinlich. Auch aus Stadtfeld könnte man schnell dorthin gelangen.
12.01.2013 – 12:11 [MD] Eilmeldung: Nazis sind in die Züge Richtung Buckau gestiegen! Es gibt die starke Vermutung, dass Nazis ab Bahnhof Buckau starten [https://linksunten.indymedia.org/de/ticker/md13?page=1]
Wenige Minuten später folgte die Bestätigung. Allerdings waren die GegendemonstrantInnen schon im Stadtinneren komplett eingekesselt. Alle nach Süden, zum Trauermarsch führenden Straßen wurden auf Höhe des Hasselbachplatzes – in acht Kilometern Entfernung zum Geschehen – von BeamtInnen, Wasserwerfern, unzähligen Bussen und Pferdestaffeln abgeriegelt. Die Bahngleise, auf welchen kurz zuvor noch Sonderzüge die MarschteilnehmerInnen transportierten, hatten die Hundestaffeln im Blick. Wer es noch rechtzeitig schaffte oder schon zuvor in Buckau war, wurde mit Platzverweisen für die Weitsicht belohnt. Die Verbliebenen im Zentrum versuchten nun zu den AdressatInnen ihres Protests durch eine mehrschichtige Mauer aus Einsatzkräften – der Großteil wurde vom Trauermarsch ins Zentrum abgezogen – zu dringen.
Die ProtestlerInnen sammelten sich in den folgenden drei Stunden und warteten die Verhandlungen zu ihrer Spontandemo ab. In der Zwischenzeit lobte das Megaphon die optische Außenwirkung mit weiteren „Ihr seht gut aus!“. Hier wie auch zuvor an der Ablenkungsblockade klang dabei die Verzweiflung des schleichenden Bewusstseins an, dass heute keine Geschichtsverdreher an ihrem Gedenken der Täteropfer gestört würden.
12.01.2013 – 14:23 [MD] Momentan ist kein Durchkommen zum L!Z. Zeigt euch solidarisch mit den BewohnerInnen und zeigt der Stadt und den Bullen, was ihr davon haltet! [https://linksunten.indymedia.org/de/ticker/md13]
Sämtliche Spontananmeldungen verschiedener Akteure, die an der Polizeisperre vorbeiführen hätten können, wurden wegen einer zu geringen TeilnehmerInnenzahl nicht oder zu spät oder in unzufrieden stellendem Kompromiss bewilligt. Die Trauergemeinde, an dem 800 - 900 teilnahmen, konnte im wenig bewohnten und verfallenen Ex-Industriegebiet ungehindert marschieren. Der Fackelumzug machte für eine Zwischenkundgebung vor dem direkt an der Route gelegenen alternativen Wohnprojekt (L!Z) halt. In unmittelbarer Nähe versuchten Menschen mit lärmenden Gegenständen das „ehrenhafte Gedenken“ zu stören.
12.01.2013 – 14:47 [MD] Polizei stand während der Kundgebung und steht immer noch mit Kettensäge, Rammbock und Flex im Anschlag vor dem L!Z [https://linksunten.indymedia.org/de/ticker/md13]
Gegen 16.15 Uhr war die Trauergemeinde am Bahnhof Süd-Ost, südliche Stadtgrenze ergo auf der komplett anderen Seite zum vermeintlichen Ankunftsort im Herrenkrug, bereit die Abreise mit Zwischenhalt am Hauptbahnhof anzutreten. Die Polizei verhinderte dort jeglichen Zugriff durch Kundgebungen und ließ bis 18.30 Uhr niemanden in den Hauptbahnhof im Zentrum. Auch andere Spontandemos blieben ohne Erfolg. Dafür wurden nun mehr und mehr Meldungen von Festnahmen, Aufnahmen von Personalien und Kontrollen gemacht.
[You’ve been punk’d]
Das Innenministerium hat hier einen ganz großen Coup gebracht. Ein Verwirrspiel á la Ocean’s 11 oder Italian Job, das brillant aufging und durch die dichte Absperrung sämtlicher Wege gen Süden vervollkommnet wurde. Die Polizei war den GegendemonstrantInnen in aller Regel zwei Schritte voraus. Die Verlegung des Marsches an das andere Ende dieser vergleichbar kleinen Landeshauptstadt (die Distanz zwischen erwartetem und tatsächlichem Startpunkt beträgt etwa 10 km inkl. zweier Brücken) und die vorherige Blendung des Gegners legen Zeugnis über die taktische Finesse des hiesigen Innenministers Holger Stahlknecht ab.
Die Fackeln und schwarzen Fahnen, die Hassreden und Banner vom „Bombenholocaust“ und „ehrenhaftem Gedenken“ wurden ein paar Industrieruinen und halb leer stehenden Wohnblöcken präsentiert. Fraglich bleibt allerdings, warum dieses mastermind die Meute an dem Wohnprojekt vorbeiführen muss. Gleichsam zu hinterfragen ist der Angriff durch „Linke“ [indymedia] auf die Filiale der Agentur für Arbeit, die sich auf dem Weg von der Ablenkungssitzblockade ins Zentrum befindet.
[What to do with Magdeburg?]
In den Vorjahren wurde der Marsch mehrmals in riskanten Manövern an den Blockaden der „kritischen Masse“ vorbeigeführt. Was die Sicherheit der Personen bzw. der allgemeinen Öffentlichkeit bei dieser aktuellen Strategie angeht, so haben die Behörden ein erhebliche Lektion dazu gelernt. Bisher konnte wohl lediglich noch kein Weg gefunden werden, einen sicheren Umgang mit diesem verirrten Trauermarsch zu leisten, der ohne die Einschränkung rechtsstaatlicher und demokratischer Grundrechte einhergeht. Schnell und oft wird der Vergleich zu einem Dresden gezogen, in dem „sowas nicht stattgefunden hätte“; in dem „ein solcher Marsch nicht mal den Bahnhof verließe“. Und die betäubende Erwiderung darauf liegt im Namen: Magdeburg ist Magdeburg, weil Dresden schon Dresden war.
Egal, ob mit großem Aufgebot und „Distanz-Strategie“, die am Ende doch keine gewalttätige Auseinandersetzung verhindern kann, oder durch riskante Manöver: Wenn es zum Magdeburger Trauermarsch und dem Gedenken nationalsozialistischer BürgerInnen kommt, können die Behörden jede noch so entgrenzte Kosten/Nutzen-Bilanz ins rechte (...) Maß biegen. Noch wenn der Protest von einer zweimal so großen Menge getragen wird.
Gleichzeitig wird diese Region regelmäßig in Reportagen der Öffentlich-Rechtlichen erwähnt und zeichnet sich dabei durch eine Häufigkeit von Straftaten aus, die durch gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit motiviert sind. Und eben dieser bittere Nachgeschmack vom vehementen Einsatz passionierter PolizeibeamtInnen mit dem regionalen Bouquet menschenverachtender Idiotie eingedenk der Straftatbestände, der einem ganz klar vermittelt, dass das hier wahrhaftig nicht Dresden ist, macht nachdenklich.
Allerdings wird ein vernünftiger, emanzipatorischer Protest zum jährlichen Trauermarsch in Magdeburg nicht durch die Arbeit der Polizei, sondern vielmehr durch die Zusammensetzung der protestierenden Bündnisse verunmöglicht. Magdeburg Nazifrei versammelt unter anderem AltstalinistInnen und KlassenkämpferInnen aus Strukturen, die in der jüngeren Vergangenheit israelsolidarische Personen sowie deren Veranstaltungen angegriffen haben.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass das anerkennende Bejubeln der Alliierten oder wenigstens Großbritanniens, aus Angst vor massiver Gewalteinwirkung linker Schläger, unterbleibt. Auf indymedia (https://linksunten.indymedia.org/de/node/76121) ruft die Aktion Antisemitische Schläger unmöglich machen zum Boykott der Magdeburger Gegendemonstration auf und zeigt eine „(unvollständige) Chronik“ der Angriffe des antiimperialistischen Zusammen Kämpfen (ein Zusammenschluss der „Gruppe Internationale Solidarität“ GIS, „Frauengruppe Magdeburg“ sowie der „Autonomen Antifa Magdeburg“ AAMD).
Zum Boykott der Gegendemonstration rief auch die Ideologiekritische Gruppe Magdeburg auf (http://ideologiekritischegruppe.files.wordpress.com/2012/10/flugblatt-gegen-die-zivilgesellschaftam-12-01-2013.pdf ). Allerdings wurde dabei das BGR und die Meile adressiert. Die Gruppe stützt sich in ihrer Kritik vor allem auf den Jargon des Aufrufs und problematische Ausdrücke („die Stadt besetzen“ „zusammenstehen“ und den Nazis „entgegentreten“). Außerdem macht sie auf das von Adorno kritisierte Problem des „Fortwesen des Nazismus in der Demokratie“aufmerksam und sieht in der zusammenstehenden Zivilgesellschaft ein Pendant zur gruppendynamischen Idee der Neonazis, denen entgegen getreten werden soll.
Nur wenige Tage nach dem Aufmarsch am 12. Januar wurde der zweite Aufmarsch, der 7 Tage später stattfinden sollte, abgesagt. Doch das gebrannte Kind traute diesem scheinbar erloschenem Feuer nicht. Eine Gegendemonstration durch die Innenstadt am 19. Januar sollte dann eben dem Äußern von Kritik am aggressiven Polizei-Einsatz dienen, wenn sich schon keine Neonazis zeigten. Magdeburg Nazifrei und Nazis wegbassen schlossen sich zu diesem Demonstrationszug zusammen, was nicht selbstvertsändlich ist, da Nazis wegbassen zum Teil von Personen organisiert wird, die in der Vergangenheit zu Opfern der Angriffe von Personen wurden, die nun Magdeburg Nazifrei bereichern. Auch das war in diesem Jahr neu.
Ist es vielleicht an der Zeit anzuerkennen, dass diese Stadt sich selbst verdient hat und die Protestbemühungen auf jene zu richten, die sie wert sind: Dresden, Leipzig oder al-Quds-Tag in Berlin? Oder sollte gleich vielmehr der Gedanke der Ideologiekritischen Gruppe Magdeburg in Anschluss an Adorno verinnerlicht werden, dass das da, trotz oder eben gerade wegen seiner so augenscheinlich falschen Gestalt, nicht das zu lösende Problem darstellt?
[shlomo.goldstein]