• Titelbild
• Editorial
• das erste: Keine Solidarität mit Syrien?!
• Film: mossos d'esquadra
• Weltmusik im Conne Island?
• Goth Trad
• Marbert Rocel
• Auf, auf zum Kampf?
• Busdriver
• Los Eastos Weekend
• teaser: April 2012 im Conne Island
• review-corner buch: Kritische Theorie nach Adorno
• review-corner event: Talib Kweli, Nice & Smooth, That Fucking Sara
• Die gerechte Stadt braucht nicht nur Teer und Steine
• Anzeigen
• neues vom: Neues
vom Grill
Gerhard Scheit: Quälbarer Leib. Kritik der Gesellschaft nach Adorno, Ça Ira, Freiburg 2011
Adorno gilt heute als Genie und Kritische Theorie als überholt. Mit diesen
Worten umschrieb Christoph Türcke vor einigen Jahren den Status der Werke
Theodor W. Adornos, Max Horkheimers, Leo Löwenthals und ihrer Mitstreiter
im Wissenschaftsbetrieb. Eine der erfolgreichsten Strategien zur Abwehr der
Kritischen Theorie ist ihre Historisierung. Jürgen Habermas hat es
vorgemacht. Er erklärte schon in den achtziger Jahren, dass das Denken
Horkheimers und Adornos der einzigartigen Stimmungslage der
dreißiger und frühen vierziger Jahre geschuldet gewesen sei. Soll
heißen: Die Kritische Theorie war eine Reaktion auf den Untergang der
Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und den Stalinismus und kann darum
in Rente geschickt werden. Immerhin ist Stalin tot, der Nationalsozialismus
überwunden und die Gefahr einer Zusammenbruchskrise spätestens seit
der Errichtung der Europäischen Zentralbank gebannt.
Insbesondere die Intellectual History beruft sich bei ihrer Historisierung der
Kritischen Theorie oft auf Horkheimer und Adorno selbst. So weigerte sich
insbesondere Horkheimer lange Zeit, seine Aufsätze aus den dreißiger
und frühen vierziger Jahren wieder zu veröffentlichen. Selbst der
Neupublikation der Dialektik der Aufklärung, seiner großen,
gemeinsam mit Adorno verfassten Schrift von 1944, stimmte er erst nach langen
Überlegungen zu. Wie zur Erklärung dieses Zögerns schrieben die
Autoren im Vorwort zur Neuauflage von 1969, dass die Wahrheit einen Zeitkern
habe: Nicht an allem, was in diesem Buch gesagt ist, halten wir
unverändert fest.
Diese Formulierungen sind oft als Zurücknahme missverstanden worden.
Hinter der Rede vom Zeitkern der Wahrheit verbirgt sich jedoch keine
distanzierende Historisierung. Sie meint weniger, dass sich eine ehemals
richtige Aussage durch den bloßen Gang der Dinge in eine Lüge
verwandelt. Ein Text wird vielmehr dann falsch, wenn er nicht mehr in Beziehung
zur Jetztzeit gesetzt wird. Allein dadurch kann sowohl der Blick auf die
Vergangenheit als auch auf die Gegenwart geschärft werden. Hinter dem
Zögern Adornos und Horkheimers verbarg sich vor allem die Angst, die alten
Schriften könnten ihren Wahrheitskern durch ahistorische Aktualisierung
verlieren. Als sich Horkheimer schließlich doch für die
Wiederveröffentlichung seiner Aufsätze entschied, schrieb er an
seinen Verlag: Wenn die alten Texte heute gelten sollen, hat die
Erfahrung in den letzten zwei Jahrzehnten mitzusprechen.
Von dieser Erfahrung wollte die Protestbewegung der sechziger Jahre jedoch
nichts wissen: Die Studenten reflektierten weder darauf, dass der
Fortschrittsoptimismus der Arbeiterbewegung, der sich in Horkheimers
frühen Texten noch als Restbestand findet, spätestens durch Auschwitz
dementiert wurde. Noch wollte ihnen auffallen, dass die Arbeiter inzwischen
mehr zu verlieren hatten als nur ihre Ketten. So verkleideten sie sich selbst
als Proletarier, imitierten die Kämpfe der zwanziger und dreißiger
Jahre und stellten die Debatten der alten Arbeiterbewegung nach.
Im Unterschied zu solchen Simulationen betreibt der Wiener
Kulturwissenschaftler Gerhard Scheit in seinem jüngsten, im Freiburger
Ça-ira-Verlag erschienenen Buch Quälbarer Leib. Kritik der
Gesellschaft nach Adorno Kritische Theorie im orthodoxen, das heißt:
besten Sinn. Er überträgt das Werk Adornos und Horkheimers weder
unverändert auf die Gegenwart, noch bemüht er sich um eine
Historisierung. Ebenso wie die Kritische Theorie den historischen Materialismus
auf den Marxismus anwandte, wendet Scheit die Kritische Theorie auf die
Kritische Theorie an. So arbeitet er die Spuren des Kalten Krieges und des
Postnazismus im Spätwerk Adornos heraus. Damit trägt Scheit dazu bei,
die Begriffe der Kritischen Theorie vor ihrer Verwandlung in bloße
Parolen zu retten. Er schreibt: Jeder Begriff, ist er nicht genau an den
Bedingungen je spezifischer gesellschaftlicher Konstellationen geschärft,
taugt zu einer Art Mantra: unablässig wiederholt, ohne Reflexion auf
seinen Zeitkern', lässt er Theorie zum Trancezustand werden und
verschleiert die Voraussetzungen des eigenen Handelns, statt über sie
aufzuklären; dient nur dazu, den Erfahrungen vorzubeugen, die ihm eben
nicht aufgehen.
Scheit kann zeigen, dass sich die Spuren des Kalten Krieges insbesondere im
Begriff der verwalteten Welt finden. Diese Formel benutzten Horkheimer
und Adorno nach 1945 so häufig wie kaum eine andere. Mit ihr versuchten
sie der Gefahr zu entgehen, sich durch den Ost-West-Konflikt und die
Gegenüberstellung von Demokratie und Totalitarismus dumm machen zu lassen.
Während sich alle Welt auf einer der beiden Seiten des Eisernen Vorhangs
positionierte, rettete sich die Kritische Theorie durch den Verweis auf die
verwaltete Welt vor dem Überlaufen zum Liberalismus, von dem sie
wusste, dass er dem Nationalsozialismus Tür und Tor geöffnet hatte.
Zugleich bewahrte sie sich vor der Verdummung durch den Marxismus der Linken,
die sich trotz aller Kritik regelmäßig an der Seite des Stalinismus
und seiner Nachgeburten wiederfand. Im Begriff der verwalteten Welt
wurde die Erkenntnis aufbewahrt, dass es nur eine Totalität, die
Totalität des Kapitalverhältnisses, gibt, der niemand entkommen kann:
auch nicht im Kampf gegen die totalitären Regimes im Ostblock.
Totalität ist jedoch, daran lässt Scheit keinen Zweifel, keine
affirmative, sondern eine kritische Kategorie. Kritische Theorie möchte,
wie Adorno einmal erklärte, retten oder herstellen helfen, was der
Totalität nicht gehorcht, was ihr widersteht oder was, als Potential einer
nicht seienden Individualität, sich erst bildet. Vor diesem Hintergrund
verwundert es ein wenig, dass Scheit am Rande seines Buches auf Jean-Paul
Sartre zurückgreift. Mit Hilfe Sartres und seiner Philosophie der freien
Entscheidung versucht er einer alten Frage nachzugehen: Wenn das Handeln der
Menschen gesellschaftlich bedingt ist, wie können sie dann für ihre
Taten verantwortlich gemacht werden? Fragen dieser Art wurden von Adorno und
Horkheimer stets zurückgewiesen, weil sie falsch gestellt sind. Sie zielen
auf die theoretische Auflösung eines Dilemmas, dem Denken nichts anhaben
kann: Widersprüche, die von der Realität vorgegeben werden,
können durch Reflexion nicht geschlichtet werden. Im kritischen Begriff
der Totalität, wie ihn Adorno und Horkheimer verwendeten, hat diese
Antinomie durchaus ihren Platz. Die Kritische Theorie ist ein denkbar
schlechtes Mittel, um etwa die Verbrechen der Deutschen zu relativieren oder
unter Verweis auf die Verhältnisse zu rechtfertigen.
Entwicklungen, die der Totalität nicht gehorchten, fand die Kritische
Theorie gerade dort, wo die Studenten der sechziger Jahre am ehesten einen
neuen Faschismus erwarteten: in Amerika. Als Adorno und Horkheimer im
amerikanischen Exil an der Dialektik der Aufklärung arbeiteten,
befürchteten sie auch in den Vereinigten Staaten eine Entwicklung hin zur
totalen Integration. Insbesondere dem Kulturindustriekapitel des Buches
ist deutlich anzumerken, dass es vor dem Hintergrund der amerikanischen
Erfahrung geschrieben wurde. Spätestens mit Kriegsende gewannen die
Kritischen Theoretiker jedoch neues Vertrauen in die Stabilität der
amerikanischen Gesellschaft. Horkheimer und Adorno wurde vollends bewusst, dass
sie in den Vereinigten Staaten vor dem hatten warnen können, was in Europa
längst Realität geworden war. Amerika hatte sich als letzter Hort
eines Mindestmaßes an Bürgerlichkeit erwiesen, das zu den
Voraussetzungen kritischen Denkens gehört.
Dennoch verzichteten Horkheimer und Adorno auf die Auseinandersetzung mit der
Frage, warum die Dialektik der Aufklärung in den Vereinigten Staaten
reflektiert werden konnte, während Europa in Barbarei versank. Sie
unterließen es also, wie Scheit mit Blick auf die Produkte der
Kulturindustrie ausführt, Veit Harlans Jud Süß mit
Casablanca von Michael Curtiz oder Paula Wessely in Heimkehr mit
Greta Garbo in Ninotchka zu konfrontieren. Der ursprünglich
geplante zweite Band der Dialektik der Aufklärung, der nicht
zuletzt diese Unterschiede thematisieren sollte, wurde nicht geschrieben.
Auch dieser Verzicht war wohl vor allem dem Kalten Krieg geschuldet. Denn um
den Unterschieden zwischen Casablanca und Jud Süß,
Greta Garbo und Paula Wessely oder, für die postnazistische Epoche, Elvis
Presley und Peter Kraus auf den Grund gehen zu können, wäre eine
kritische Theorie politischer Souveränität nötig gewesen. Wer
nicht auf die fragwürdige Kategorie des Nationalbewusstseins
zurückgreifen will, muss nach dem Verhältnis der Staatsbürger zu
den jeweiligen politischen Instanzen fragen. Eine solche Kritische Theorie
politischer Souveränität, die Scheit zuletzt in seinem Buch Der
Wahn vom Weltsouverän umrissen hat, gab die politische Situation der
fünfziger und sechziger Jahre allerdings nicht her. Im weltpolitischen
Maßstab schien die Frage nationaler Souveränitäten durch den
Kalten Krieg stillgelegt zu sein. Die beiden Supermächte regulierten in
ihrem Einflussbereich alles Politische, als würden sie die beiden
Hälften eines Weltsouveräns bilden.
Wenn sich das Bewusstsein des Unterschieds im Werk Horkheimers und Adornos
insofern auch nur am Rande niedergeschlagen hat, war es in ihrem Handeln stets
deutlich präsent. So war Horkheimers Zögern bei der Neuherausgabe der
Dialektik der Aufklärung, wie Scheit schreibt, auch der Angst
geschuldet, Amerika und den Westen zu schwächen, wenn Kapitalismus
umstandslos mit Faschismus, Hollywood mit der UFA oder der New Deal mit der
Volksgemeinschaft gleichgesetzt wird. Im Vorwort zur Neuauflage seiner Texte
aus den dreißiger und frühen vierziger Jahren vom April 1968 hielt
Horkheimer daher sowohl das Bewusstsein des Unterschieds als auch die
Erkenntnis vom ideologischen Charakter des Liberalismus fest: Die
sogenannte freie Welt an ihrem eigenen Begriff zu messen, kritisch sich zu ihr
zu verhalten und dennoch zu ihren Ideen zu stehen, sie gegen Faschismus
Hitlerscher, Stalinscher und anderer Varianz zu verteidigen, ist Recht und
Pflicht jedes Denkenden. An diesen Ausspruch knüpft Scheit unmittelbar
an, wenn er erklärt, dass Kritik, die von ihren eigenen
Voraussetzungen weiß, der bürgerlichen Gesellschaft ebenso
beizustehen wie sie anzugreifen hat. Prägnanter lässt sich das
Programm Kritischer Theorie kaum umreißen.
Jan-Georg Gerber