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Pornografie & Holocaust der Titel des Dokumentarfilms vom
israelischen Filmemacher Ari Libsker mag auf den ersten Blick verstören;
spielt er doch bewusst mit zwei Tabuthemen, wobei insbesondere deren
Zusammenführung Distanz und Unbehagen auslöst. Als Hintergrund dienen
Groschenromane, die sogenannten Stalags, welche Anfang der 1960er Jahre
eine breite Diskussion innerhalb der israelischen Gesellschaft hervorriefen.
Der Film geht der Entstehungsgeschichte der Romane sowie den Motiven und deren
Auswirkungen auf die israelische Gesellschaft nach.
Stalag meint so viel wie Stammlager und umreißt somit den Ort des
Geschehens aller Stalag-Hefte. Die Handlung ist dabei stets dieselbe:
Britische oder amerikanische Soldaten geraten während des zweiten
Weltkrieges in deutsche Gefangenschaft. Bei Ankunft in eines der Stammlager der
Nazis erwarten sie jedoch keine männlichen Aufseher, sondern vollbusige,
mit glänzenden Stiefeln ausgestattete weibliche SS-Offiziere, die ihrem
Anschein nach eher Dominas als Aufseherinnen ähneln. Im Folgenden werden
die Soldaten gedemütigt, gefoltert und sexuell erniedrigt. Aus dieser
misslichen Lage sich befreiend, vergewaltigt zu Ende jeder Geschichte der
Soldat die Aufseherinnen und beendet seinen persönlichen Rachefeldzug mit
der Ermordung seiner Peinigerinnen.
Die Verfasser dieser Hefte sind bis heute weitgehend unbekannt. Pseudonyme wie
Mike Baden, Ralph Butcher und Mike Longshot verweisen jedoch bereits auf eine
Affinität zu amerikanischen Billigheften, weshalb die zügellosen
Cover nicht von ungefähr an damalige Groschenromane amerikanischer
Herkunft erinnern. Im Laufe des Films löst sich das Geheimnis um einen der
Autoren auf und Mike Baden entpuppt sich als Eli Keidar, damaliges
pubertierendes Kind einer Mutter, deren ganze Familie im KZ ermordet wurde. Das
Sprechen über das erlebte Trauma fiel ihr schwer, weshalb Nachfragen des
Sohnes in sofortige Trauer und Verschlossenheit mündeten. Eli Keidar
beschreibt nun im Folgenden eine permanente Anwesenheit des Todes zur Zeit
seiner Kindheit in Israel, die sich schließlich in Rastlosigkeit und
Panik der Mutter niederschlug. Ein Schicksal, welches die anderen
Stalag- Autoren teilen.
Als wichtiges Ereignis zur Erklärung der Herausgabe und des Erfolges der
Stalag-Hefte nennt Libsker den Prozess um den ehemaligen
SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann im Jahr 1961. Zum ersten Mal wurde
öffentlich das Grauen in den Konzentrationslagern benannt und
Verdrängtes und Unterdrücktes zum Vorschein gebracht. Über
Rundfunkübertragungen erreichte der Prozess landesweite Beachtung und ein
Brechen des Schweigens. Die junge israelische Bevölkerung reagierte darauf
unterschiedlich. Als eine Form des Umgangs werden die Stalag-Hefte
dargestellt, die durch übertrieben fantasievolle Sexualisierung erlebtes
Grauen verarbeiten und somit für die Autorenschaft fassbar wird, ohne im
Dunkel des unüberwindbaren Traumas zu verweilen. Ähnlich verhält
es sich mit der LeserInnenschaft der Groschenromane, obgleich ebenso
KZ-Überlebende zum Kreis der RezipientInnen zählten.
Der Erfolg der ersten Hefte war für damalige Verhältnisse
überwältigend. Stalag 13, der erste Band der Reihe, verkaufte
sich über 80 000mal und erzielt bis heute hohe Preise in den
Antiquariaten. Mit aufkommendem Erfolg wurden die Romane jedoch zusehends
drastischer in ihrer Beschreibung und auch der feste Kreis der Autorenschaft
wurde von Unbekannten erweitert, die sich kommerziellen Erfolg beim Spiel mit
der Provokation erhofften. Auch wurde die Zensurbehörde fortschreitend auf
die Hefte aufmerksam, so dass Werke wie Ich war Oberst Schultzes
Hündin verboten und mit harter Hand verfolgt wurden. Nach zwei Jahren
geriet das Phänomen an sein Ende. Die Stalag-Hefte verkauften sich
nicht mehr wie am Anfang und die fortlaufende Änderung der anonymen
Autoren veranlasste den ursprünglichen Kreis der Schreiber zum Beenden
ihrer Arbeit.
Zum Ende des Films widmet sich der Regisseur einer Person, dessen Romane bis
heute Pflichtlektüre in jeder israelischen Schule sind Jechiel
Dinur, besser bekannt als K. Zetnik. Er war als Zeuge im damaligen
Eichmann-Prozess geladen und erlangte weltweite Aufmerksamkeit, als er bei der
Schilderung des Aufenthaltes in Auschwitz zusammenbrach und ärztlich
behandelt werden musste. Seine Bücher Salamander und Das Haus
der Puppen gelten bis heute als erste Dokumente über das Leid in den
Vernichtungslagern. Insbesondere seine Beschreibung eines Lagerbordells in
Auschwitz erlangte traurige Berühmtheit, wird von zeitgenössischen
HistorikerInnen allerdings in Frage gestellt. So weist eine israelische
Historikerin auf fehlende Dokumente zur Darlegung dieser These hin und
attestiert Dinur einen Hang zu pornografischen Einschlägen in seinen
Werken. Diese Sichtweise unterstützend können nun die
Stalag-Hefte als ebensolche Form der Verarbeitung des erlebten
Schreckens beispielhaft herangezogen werden und Dinurs Beschreibungen in diesen
Kontext stellen.
Pornografie und Holocaust ist ein sehr empfehlenswerter Film, da er sich
an eine Thematik heranwagt, die hierzulande bislang keinerlei Aufmerksamkeit
genoss und das verrückt anmutende Wirkungsverhältnis von Traumata der
Vergangenheit und sexuellen Begierden im adoleszenten Alter einer Untersuchung
unterzogen wird, die sich jedoch der Schwierigkeit dieser Romane für
Überlebende der Vernichtungslager bewusst ist. Dergestalt verlieren breite
Buchveröffentlichungen ihren allzu individuellen Charakter der
Verarbeitung und laufen somit Gefahr, wirklichen Opfern von Vergewaltigungen
durch Nazis gewissenlos gegenüberzutreten. Der stattfindende Rachefeldzug
zum Ende jeder Geschichte mag dabei einen schwachen Trost für reale Opfer
darstellen. Ebenso greift der Film existierende Mythen auf und versucht anhand
dieser Parallelen in der Art der Traumaverarbeitung durch die Erotisierung von
Grauen darzustellen, um zu zeigen, dass die Autoren der Stalag-Hefte
nicht durch eine simple Unterstellung von Absurdität oder Wahnwitzigkeit
verstanden werden können.
Der Film soll im März diesen Jahres in der Kinobar Prager Frühling
anlaufen.
Shlomo