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Aktuelles Heft

INHALT #184

Titelbild
Editorial
• das erste: Formal ungenügend
Darkest Hour, Protest the Hero
Darkest Hour, Protest the Hero (II)
the cycle continues
„My Bonnie is over the Ocean“
The Kids we used to be Tour
Into Outer Space
„La Colombe“-Tour
Zen Zebra, Kenzari's Middle Kata, The Hirsch Effekt
Wooohooooooo!
Kayo Dot
Aucan
Casualties
Electric Island
Veranstaltungsanzeigen
Sanierungs-Info
Aus dem Nähkästchen geplaudert
Eher ein schlechter als ein (r)echter Konsens
„CEE IEH“ and „bonjour tristesse“ go „Zoro“!
• review-corner buch: Eine Schwäche für die Gegenwart
• cyber-report: Neues aus dem Kasperletheater der Toleranz
• doku: Infantile Inquisition
• doku: Kultur als politische Ideologie
• doku: Bye, bye Multikulti – Es lebe Multikulti
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Eine Schwäche für die Gegenwart

Buchcover Claude Lanzmanns Erinnerungen
„Der patagonische Hase“

Mit dem Fallbeil beginnt Claude Lanzmann die Zergliederung seiner Lebensgeschichte. Im ersten Kapitel gibt er den Lesenden die Klinge zu spüren – die bis in die Kindheit zurückreichende Angst vor der Guillotine –, welche tiefe Einschnitte in ihm hinterließ und deren Schreckensbild ihn drohend verfolgte. Auch wenn er sich somit auf den ersten Seiten seines Werkes überaus verletzlich zeigt, macht er gleichzeitig deutlich, dass das Grauen vor der Todesstrafe bei ihm nicht zu einer Angststarre geführt hat. Nein, geleitet von dem Bestreben, der Klinge keinen Angriffspunkt zu bieten, nahm er die zusammengekauerte Haltung eines Boxers an, die auch als Sinnbild für die stoffliche Dichte seines Buches verstanden werden kann. Sicher, auf den ersten Blick scheint es, als hätte Lanzmann seine Geschichte zergliedert, wie es ein Buch verlangt. Doch bei genauerer Betrachtung sind die einzelnen Teile untereinander mit vielen Fäden so eng verwoben, dass die aus ihnen erschaffene Gestalt keinen Hals preisgibt. Einen der Fäden färbt Lanzmann selber rot, als er sich fragt, ob er, wenn er bei seinen Aktivitäten in der Résistance den Nazis oder ihren Kollaborateuren in die Hände gefallen wäre, den Mut gehabt hätte, sich das Leben zu nehmen, bevor er unter Folterschmerzen vielleicht doch Vertraute verraten hätte: „Die Frage nach Mut und Feigheit ist der rote Faden, der dieses Buch und mein Leben durchzieht“ (S. 47). Dieser Frage stellt er sich immer wieder und gewährt auch sich selber beim Fällen seines Urteils keine Schonung. Es handelt sich dabei aber nicht um den einzigen Faden, der dem Gewebe seine Festigkeit verleiht. So wie sich die erzählerische Struktur Shoahs nicht an die geläufige historische Chronologie hält, so ent- und verflechtet Lanzmann sein Lebensgespinst: „[...] das Nacheinander meines Lebens ist aufgehoben, ich betrete die Spiralen der Chronologie auf tausenderlei Wegen“ (S. 62). Immer dann, wenn es so wirkt, als hätte sich der Autor letzten Endes doch für einen Weg entschieden und sei gewillt, diesen bis zum Ende zu gehen, gebietet ihm die Erinnerung an ein Bild, ein Wort, einen Namen, eine Person, dem Zeitgefüge die Fügsamkeit zu verweigern: sich zurückfallen zu lassen, die Zeit zu überholen, Haken zu schlagen. Diese Vergegenwärtigung wird Erinnerung gerecht, bei der es sich um keine Perlenkette handelt, deren matte Glieder sich schnurgerade aneinanderreihen, sondern um einen ungeschliffenen Kristall, in dem sich Erfahrung konzentriert und der das Licht bricht. Lanzmann legt diesen frei, nimmt ihn vorsichtig in die Hand, wendet ihn und bewundert aus allen Blickwinkeln und Entfernungen das Spiel, zu dem dieser das Licht anregt. Ein Spiel, welches übermütig seinen Ursprung zu vergessen scheint und Bilder entstehen lässt, die so wirken, als wenn sie sich verselbstständigt, von ihm losgelöst hätten. Doch ist er im Licht stets gegenwärtig und ruht selbst im tollsten Treiben, wie trickreich dieses auch darüber hinwegzutäuschen vermag.

Nicht nur dieser Begriff der Erinnerung verweist auf Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Lange Zeit kann man sich nur schwer vorstellen, dass Prousts Erzähler aufhören wird, vor dem Schreibtisch zu fliehen, Prokrastination zu betreiben und Zerstreuung im Salonleben zu suchen. Ebenso wenig konnte sich Lanzmann zu Beginn seiner Freundschaft mit de Beauvoir und Sartre wie diese an den Schreibtisch binden, und wenigstens das Stoffliche vieler seiner journalistischen Arbeiten, besonders die für das Magazin Elle verfassten, scheint keine Verbindung zu dem aufzuweisen, was er später erschuf. Einer eigenen Artikelserie über Israel fühlte er sich nach seinem ersten Besuch in dem noch jungen Staat 1952 nicht gewachsen. Auch die durch seine Freunde angeregte Idee, seine Eindrücke in einem Buch festzuhalten, setzte er nicht um: „Ich war ein Mensch, der langsam reifte, ich hatte keine Angst vor dem Lauf der Zeit, irgendetwas gab mir die Sicherheit, dass mein Leben erst in der zweiten Hälfte seine ganze Fruchtbarkeit erlangen würde. Die ungeschriebene Reportage und das abgebrochene Buch sind zwanzig Jahre später zu dem Film Warum Israel geworden, den ich relativ schnell gedreht habe, weil ich genau wusste, was ich vermitteln wollte“ (S. 318). Die Idee, unter Gesteinsschichten verloren geglaubt, geht in der Dunkelheit ungeahnte Verbindungen mit ihrer Umgebung ein, um zu dem Kristall zu werden, der später einmal zu Tage gefördert wird. Lanzmann vermittelt in seinem Buch sehr anschaulich einen Eindruck von diesem Prozess, wenn er darlegt, welche Erkenntnisse und Erfahrungen für Shoah bedeutsam waren. Was in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit der Roman ist, in dessen Erschaffung die Erzählung Prousts gipfelt und für den das lange nebensächlich Wirkende zum Wesentlichen wird, ist in Der patagonische Hase dieser Film Lanzmanns. Die Vergegenwärtigung der Arbeit an dem Film ist ein anderer roter Faden in dem komplexen Gewebe der Biographie, und Shoah ist der Kern eines Kristalls, der Licht vielfach bricht und es weit zurückwirft. Obwohl Lanzmann, anders als bei Warum Israel, keinen Artikel oder ein Buch über die nationalsozialistische Vernichtung der Juden zu schreiben versucht hatte und die Idee, diese zum Gegenstand eines Films zu machen, von außen an ihn herangetragen wurde (vgl. S. 529f.), entsteht beim Lesen der Eindruck, er habe sein Leben lange Zeit vorher nach ihr ausgerichtet. Die Idee wirft ihr Licht zurück auf das Vergangene und schafft Wege, die zu ihrer Verwirklichung führen. Die mit der peinlichen Erinnerung an einen Schuhkauf in Begleitung seiner Mutter verbundene Einsicht in die eigene Unfähigkeit zu wählen (vgl. S. 169f.), die Aufhebung der Grenze zwischen Fiktion und Realität, ohne Aufgabe des Wahrheitsanspruches, in einem Artikel über den Dalai Lama (vgl. S. 331f.), das Begeben in einen „Zustand halluzinierender, präziser, überwacher Aufmerksamkeit“ (S. 360), die Abgebrühtheit, der seine Recherchen für Artikel über Kriminalfälle bedurften (vgl. S. 345); teilweise weit auseinander liegende Momente, deren Zusammenhang das Licht erhellt, welches das Zukünftige auf sie wirft.

Ich lese selten Biographien; die letzte war die Unerbetene Erinnerung Raul Hilbergs. An Hilberg wie an Lanzmann fasziniert mich die Entschlossenheit mit der sie an der Verwirklichung ihrer Idee gearbeitet haben und den Widerständen trotzten, mit denen sie konfrontiert wurden. So mühevoll und beschwerlich die praktische Organisation der Arbeit an Shoah sicher gewesen ist – angefangen bei den oft verständnislosen Financiers, die Lanzmann fast zum Verzweifeln gebracht hätten (vgl. S. 295), die Suche nach Juden, die den Vernichtungslagern lebendig entkommen sind, bis hin zu den Gefahren der unerlaubten Aufnahme der Gespräche mit Nazi-Tätern – sie wirkt verschwindend gering gegenüber der Aufgabe, Shoah zu ersinnen. Lanzmann beschreibt diesen Prozess folgendermaßen: „Von Lektüre zu Lektüre, von Monat zu Monat baute sich mein Film, wenn ich so sagen darf, negativ auf, durch Versuch und Irrtum“ (S. 534). Dieses Vorgehen wäre einige Male aus naheliegenden Gründen fast an den Erfordernissen der Kulturproduktion gescheitert: „Nur ich allein hatte eine Vorstellung von diesem Werk, und ich verausgabte mich bei dem Versuch, irgendwelche Bürokraten, die keine Ahnung vom Kino oder der Shoah hatten, zu überzeugen und ihnen in scheinbarer Klarheit Ideen darzulegen, obwohl sie für mich selbst noch undurchsichtig waren“ (S. 295). Was dem Allerweltsverstand als Irrweg erscheinen muss – der gescheiterte Versuch, Shoah zu drehen, ohne die Orte der Vernichtung, insbesondere Polen, aufzusuchen und abzubilden (vgl. S. 546) – erweist sich im Nachhinein vom Licht des zukünftigen Werks erhellt: „Ich frage mich noch heute manchmal, was Shoah für ein Film geworden wäre, wenn ich meine Erkundungen in diesem Land begonnen hätte, wie es die Logik verlangt hätte, anstatt mich zuerst überall sonst in der Welt herumzutreiben. Ich weiß, dass ich einem ganz anderen, zwingenden Gesetz gefolgt bin, das ich selbst nicht durchschaute, einer anderen Ordnung, der des Schaffensprozesses. Polen, davon bin ich überzeugt, wäre eine Art Dekor geblieben [...]“ (S. 614f.). Je mehr diese Ordnung außer Kraft gesetzt wird, desto kraftvoller müssten die Werke wirken, die unter ihrem Einfluss entstanden sind; doch mit dem Verschwinden jener, schwindet auch die Fähigkeit, die Kraft dieser zu spüren. Dieser Verlust bedeutet langfristig, dass Dasein vollends unter die Räder des rastlosen Dabeiseins gerät und niemand mehr vermag, die Stärke einer Gewissheit zu erlangen und aus dieser zu schöpfen, wie es Lanzmann vermochte: „Letzten Endes würde der Film siegen; ich hatte mehr Vertrauen in mich als in alle hauptberuflichen Medienleute, und dies vor allem aus einem entscheidenden Grund: ich hatte die Kraft, mir Zeit zu nehmen“ (S. 625).

Vielleicht ist es ein Zeichen der Unfähigkeit, der Kraft, die einem Werk wie Shoah innewohnt, gewahr zu werden, dass ich der Hilfe der Memoiren Lanzmanns bedarf. Es hat einen weit schwächeren Eindruck bei mir hinterlassen, den Film zu sehen, als die Lektüre der Passagen in Der patagonische Hase, die ihn zum Gegenstand haben; diese dienen mir als Schlüssel für jenen. Das Buch ist aber auch darüber hinaus, mit den Worten ausgedrückt, die Lanzmann für die Beschreibung der gemeinsamen Reisen mit de Beauvoir wählt, „eine Schule des Blicks und der Welterfahrung“ (S. 321). Wenn auch keine makellose. Sind die Phrasen, die den Blick trüben, Überbleibsel seiner Tätigkeit als Zeitungsjournalist? Selbst wenn ich meine Vorbehalte gegenüber dem Dalai Lama für einen Moment ignoriere, finde ich den Satz kitschig, den Lanzmann stolz aus seinem Artikel zitiert (vgl. S. 331f.), und wundere mich, wie er diesen immer noch gut finden kann und ihm trotzdem andere gelungen sind. Das, was oft und leicht zu einer Belastung des Satzes mit bildungsbürgerlichem Dekor wird, nämlich der Verweis auf Literatur, Malerei, Photographie und Film, wird bei Lanzmann wirklich zu einer Schulung des Blicks und des Empfindens, wie es am eindrucksvollsten die Interpretationen der Gemälde Goyas zeigen (vgl. S. 51f.). An anderer Stelle gelingt es ihm, ein Erlebnis auf einem Teich in Pjöngjang – der vergebliche Versuch, mit einem Ruderboot einen Ort zu erreichen, an dem er und eine von ihm verehrte Koreanerin vor den Zudringlichkeiten der Öffentlichkeit geschützt ihrer verbotenen Leidenschaft hätten nachgehen können – zu einem ausdrucksstarken Sinnbild für die Repressivität des real existierenden Sozialismus zu machen (vgl. S. 380). Einige andere Male werden erneut Ähnlichkeiten mit Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit sichtbar, wenn Lanzmann die Größe des Unterschieds erahnen lässt, die zwischen der kognitiven Zurkenntnisnahme eines Ortes und dem Erlebnis besteht, wenn man von dem Ort durchdrungen wird (vgl. S. 244), und dessen Name, dem man vorher noch gleichgültig gegenüberstand, plötzlich seine Bannkraft entfaltet (vgl. S. 603). Hierin scheint auf, was Lanzmann mit Vergegenwärtigung meint, der sein Leben gewidmet ist.

Patrice Smith

28.01.2011
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