• Titelbild
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• das erste: Formal ungenügend
• Darkest Hour, Protest the Hero
• Darkest Hour, Protest the Hero (II)
• the cycle continues
• My Bonnie is over the Ocean
• The Kids we used to be Tour
• Into Outer Space
• La Colombe-Tour
• Zen Zebra, Kenzari's Middle Kata, The Hirsch Effekt
• Wooohooooooo!
• Kayo Dot
• Aucan
• Casualties
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• Sanierungs-Info
• Aus dem Nähkästchen geplaudert
• Eher ein schlechter als ein (r)echter Konsens
• CEE IEH and bonjour tristesse go Zoro!
• review-corner buch: Eine Schwäche für die Gegenwart
• cyber-report: Neues aus dem Kasperletheater der Toleranz
• doku: Infantile Inquisition
• doku: Kultur als politische Ideologie
• doku: Bye, bye Multikulti – Es lebe Multikulti
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Mit dem Fallbeil beginnt Claude Lanzmann die
Zergliederung seiner Lebensgeschichte. Im ersten Kapitel gibt er den Lesenden
die Klinge zu spüren die bis in die Kindheit zurückreichende
Angst vor der Guillotine , welche tiefe Einschnitte in ihm
hinterließ und deren Schreckensbild ihn drohend verfolgte. Auch wenn er
sich somit auf den ersten Seiten seines Werkes überaus verletzlich zeigt,
macht er gleichzeitig deutlich, dass das Grauen vor der Todesstrafe bei ihm
nicht zu einer Angststarre geführt hat. Nein, geleitet von dem Bestreben,
der Klinge keinen Angriffspunkt zu bieten, nahm er die zusammengekauerte
Haltung eines Boxers an, die auch als Sinnbild für die stoffliche Dichte
seines Buches verstanden werden kann. Sicher, auf den ersten Blick scheint es,
als hätte Lanzmann seine Geschichte zergliedert, wie es ein Buch verlangt.
Doch bei genauerer Betrachtung sind die einzelnen Teile untereinander mit
vielen Fäden so eng verwoben, dass die aus ihnen erschaffene Gestalt
keinen Hals preisgibt. Einen der Fäden färbt Lanzmann selber rot, als
er sich fragt, ob er, wenn er bei seinen Aktivitäten in der
Résistance den Nazis oder ihren Kollaborateuren in die Hände
gefallen wäre, den Mut gehabt hätte, sich das Leben zu nehmen, bevor
er unter Folterschmerzen vielleicht doch Vertraute verraten hätte:
Die Frage nach Mut und Feigheit ist der rote Faden, der dieses Buch und
mein Leben durchzieht (S. 47). Dieser Frage stellt er sich immer wieder und
gewährt auch sich selber beim Fällen seines Urteils keine Schonung.
Es handelt sich dabei aber nicht um den einzigen Faden, der dem Gewebe seine
Festigkeit verleiht. So wie sich die erzählerische Struktur Shoahs
nicht an die geläufige historische Chronologie hält, so ent- und
verflechtet Lanzmann sein Lebensgespinst: [...] das Nacheinander meines
Lebens ist aufgehoben, ich betrete die Spiralen der Chronologie auf
tausenderlei Wegen (S. 62). Immer dann, wenn es so wirkt, als hätte sich
der Autor letzten Endes doch für einen Weg entschieden und sei gewillt,
diesen bis zum Ende zu gehen, gebietet ihm die Erinnerung an ein Bild, ein
Wort, einen Namen, eine Person, dem Zeitgefüge die Fügsamkeit zu
verweigern: sich zurückfallen zu lassen, die Zeit zu überholen, Haken
zu schlagen. Diese Vergegenwärtigung wird Erinnerung gerecht, bei der es
sich um keine Perlenkette handelt, deren matte Glieder sich schnurgerade
aneinanderreihen, sondern um einen ungeschliffenen Kristall, in dem sich
Erfahrung konzentriert und der das Licht bricht. Lanzmann legt diesen frei,
nimmt ihn vorsichtig in die Hand, wendet ihn und bewundert aus allen
Blickwinkeln und Entfernungen das Spiel, zu dem dieser das Licht anregt. Ein
Spiel, welches übermütig seinen Ursprung zu vergessen scheint und
Bilder entstehen lässt, die so wirken, als wenn sie sich
verselbstständigt, von ihm losgelöst hätten. Doch ist er im
Licht stets gegenwärtig und ruht selbst im tollsten Treiben, wie
trickreich dieses auch darüber hinwegzutäuschen vermag.
Nicht nur dieser Begriff der Erinnerung verweist auf Prousts Auf der Suche
nach der verlorenen Zeit. Lange Zeit kann man sich nur schwer vorstellen,
dass Prousts Erzähler aufhören wird, vor dem Schreibtisch zu fliehen,
Prokrastination zu betreiben und Zerstreuung im Salonleben zu suchen. Ebenso
wenig konnte sich Lanzmann zu Beginn seiner Freundschaft mit de Beauvoir und
Sartre wie diese an den Schreibtisch binden, und wenigstens das Stoffliche
vieler seiner journalistischen Arbeiten, besonders die für das Magazin
Elle verfassten, scheint keine Verbindung zu dem aufzuweisen, was er
später erschuf. Einer eigenen Artikelserie über Israel fühlte er
sich nach seinem ersten Besuch in dem noch jungen Staat 1952 nicht gewachsen.
Auch die durch seine Freunde angeregte Idee, seine Eindrücke in einem Buch
festzuhalten, setzte er nicht um: Ich war ein Mensch, der langsam reifte,
ich hatte keine Angst vor dem Lauf der Zeit, irgendetwas gab mir die
Sicherheit, dass mein Leben erst in der zweiten Hälfte seine ganze
Fruchtbarkeit erlangen würde. Die ungeschriebene Reportage und das
abgebrochene Buch sind zwanzig Jahre später zu dem Film Warum
Israel geworden, den ich relativ schnell gedreht habe, weil ich genau
wusste, was ich vermitteln wollte (S. 318). Die Idee, unter Gesteinsschichten
verloren geglaubt, geht in der Dunkelheit ungeahnte Verbindungen mit ihrer
Umgebung ein, um zu dem Kristall zu werden, der später einmal zu Tage
gefördert wird. Lanzmann vermittelt in seinem Buch sehr anschaulich einen
Eindruck von diesem Prozess, wenn er darlegt, welche Erkenntnisse und
Erfahrungen für Shoah bedeutsam waren. Was in Auf der Suche nach
der verlorenen Zeit der Roman ist, in dessen Erschaffung die Erzählung
Prousts gipfelt und für den das lange nebensächlich Wirkende zum
Wesentlichen wird, ist in Der patagonische Hase dieser Film Lanzmanns.
Die Vergegenwärtigung der Arbeit an dem Film ist ein anderer roter Faden
in dem komplexen Gewebe der Biographie, und Shoah ist der Kern
eines Kristalls, der Licht vielfach bricht und es weit zurückwirft. Obwohl
Lanzmann, anders als bei Warum Israel, keinen Artikel oder ein Buch
über die nationalsozialistische Vernichtung der Juden zu schreiben
versucht hatte und die Idee, diese zum Gegenstand eines Films zu machen, von
außen an ihn herangetragen wurde (vgl. S. 529f.), entsteht beim Lesen der
Eindruck, er habe sein Leben lange Zeit vorher nach ihr ausgerichtet. Die Idee
wirft ihr Licht zurück auf das Vergangene und schafft Wege, die zu ihrer
Verwirklichung führen. Die mit der peinlichen Erinnerung an einen
Schuhkauf in Begleitung seiner Mutter verbundene Einsicht in die eigene
Unfähigkeit zu wählen (vgl. S. 169f.), die Aufhebung der Grenze
zwischen Fiktion und Realität, ohne Aufgabe des Wahrheitsanspruches, in
einem Artikel über den Dalai Lama (vgl. S. 331f.), das Begeben in einen
Zustand halluzinierender, präziser, überwacher Aufmerksamkeit
(S. 360), die Abgebrühtheit, der seine Recherchen für Artikel
über Kriminalfälle bedurften (vgl. S. 345); teilweise weit
auseinander liegende Momente, deren Zusammenhang das Licht erhellt, welches das
Zukünftige auf sie wirft.
Ich lese selten Biographien; die letzte war die Unerbetene Erinnerung
Raul Hilbergs. An Hilberg wie an Lanzmann fasziniert mich die
Entschlossenheit mit der sie an der Verwirklichung ihrer Idee gearbeitet haben
und den Widerständen trotzten, mit denen sie konfrontiert wurden. So
mühevoll und beschwerlich die praktische Organisation der Arbeit an
Shoah sicher gewesen ist angefangen bei den oft
verständnislosen Financiers, die Lanzmann fast zum Verzweifeln gebracht
hätten (vgl. S. 295), die Suche nach Juden, die den Vernichtungslagern
lebendig entkommen sind, bis hin zu den Gefahren der unerlaubten Aufnahme der
Gespräche mit Nazi-Tätern sie wirkt verschwindend gering
gegenüber der Aufgabe, Shoah zu ersinnen. Lanzmann beschreibt
diesen Prozess folgendermaßen: Von Lektüre zu Lektüre,
von Monat zu Monat baute sich mein Film, wenn ich so sagen darf, negativ auf,
durch Versuch und Irrtum (S. 534). Dieses Vorgehen wäre einige Male aus
naheliegenden Gründen fast an den Erfordernissen der Kulturproduktion
gescheitert: Nur ich allein hatte eine Vorstellung von diesem Werk, und
ich verausgabte mich bei dem Versuch, irgendwelche Bürokraten, die keine
Ahnung vom Kino oder der Shoah hatten, zu überzeugen und ihnen in
scheinbarer Klarheit Ideen darzulegen, obwohl sie für mich selbst noch
undurchsichtig waren (S. 295). Was dem Allerweltsverstand als Irrweg
erscheinen muss der gescheiterte Versuch, Shoah zu drehen, ohne
die Orte der Vernichtung, insbesondere Polen, aufzusuchen und abzubilden (vgl.
S. 546) erweist sich im Nachhinein vom Licht des zukünftigen Werks
erhellt: Ich frage mich noch heute manchmal, was Shoah für
ein Film geworden wäre, wenn ich meine Erkundungen in diesem Land begonnen
hätte, wie es die Logik verlangt hätte, anstatt mich zuerst
überall sonst in der Welt herumzutreiben. Ich weiß, dass ich einem
ganz anderen, zwingenden Gesetz gefolgt bin, das ich selbst nicht durchschaute,
einer anderen Ordnung, der des Schaffensprozesses. Polen, davon bin ich
überzeugt, wäre eine Art Dekor geblieben [...] (S. 614f.). Je mehr
diese Ordnung außer Kraft gesetzt wird, desto kraftvoller müssten
die Werke wirken, die unter ihrem Einfluss entstanden sind; doch mit dem
Verschwinden jener, schwindet auch die Fähigkeit, die Kraft dieser zu
spüren. Dieser Verlust bedeutet langfristig, dass Dasein vollends unter
die Räder des rastlosen Dabeiseins gerät und niemand mehr vermag, die
Stärke einer Gewissheit zu erlangen und aus dieser zu schöpfen, wie
es Lanzmann vermochte: Letzten Endes würde der Film siegen; ich
hatte mehr Vertrauen in mich als in alle hauptberuflichen Medienleute, und dies
vor allem aus einem entscheidenden Grund: ich hatte die Kraft, mir Zeit zu
nehmen (S. 625).
Vielleicht ist es ein Zeichen der Unfähigkeit, der Kraft, die einem Werk
wie Shoah innewohnt, gewahr zu werden, dass ich der Hilfe der Memoiren
Lanzmanns bedarf. Es hat einen weit schwächeren Eindruck bei mir
hinterlassen, den Film zu sehen, als die Lektüre der Passagen in Der
patagonische Hase, die ihn zum Gegenstand haben; diese dienen mir als
Schlüssel für jenen. Das Buch ist aber auch darüber hinaus, mit
den Worten ausgedrückt, die Lanzmann für die Beschreibung der
gemeinsamen Reisen mit de Beauvoir wählt, eine Schule des Blicks und
der Welterfahrung (S. 321). Wenn auch keine makellose. Sind die Phrasen, die
den Blick trüben, Überbleibsel seiner Tätigkeit als
Zeitungsjournalist? Selbst wenn ich meine Vorbehalte gegenüber dem Dalai
Lama für einen Moment ignoriere, finde ich den Satz kitschig, den Lanzmann
stolz aus seinem Artikel zitiert (vgl. S. 331f.), und wundere mich, wie er
diesen immer noch gut finden kann und ihm trotzdem andere gelungen sind. Das,
was oft und leicht zu einer Belastung des Satzes mit bildungsbürgerlichem
Dekor wird, nämlich der Verweis auf Literatur, Malerei, Photographie und
Film, wird bei Lanzmann wirklich zu einer Schulung des Blicks und des
Empfindens, wie es am eindrucksvollsten die Interpretationen der Gemälde
Goyas zeigen (vgl. S. 51f.). An anderer Stelle gelingt es ihm, ein Erlebnis auf
einem Teich in Pjöngjang der vergebliche Versuch, mit einem
Ruderboot einen Ort zu erreichen, an dem er und eine von ihm verehrte
Koreanerin vor den Zudringlichkeiten der Öffentlichkeit geschützt
ihrer verbotenen Leidenschaft hätten nachgehen können zu einem
ausdrucksstarken Sinnbild für die Repressivität des real
existierenden Sozialismus zu machen (vgl. S. 380). Einige andere Male werden
erneut Ähnlichkeiten mit Prousts Auf der Suche nach der verlorenen
Zeit sichtbar, wenn Lanzmann die Größe des Unterschieds erahnen
lässt, die zwischen der kognitiven Zurkenntnisnahme eines Ortes und dem
Erlebnis besteht, wenn man von dem Ort durchdrungen wird (vgl. S. 244), und
dessen Name, dem man vorher noch gleichgültig gegenüberstand,
plötzlich seine Bannkraft entfaltet (vgl. S. 603). Hierin scheint auf, was
Lanzmann mit Vergegenwärtigung meint, der sein Leben gewidmet ist.
Patrice Smith