• Titelbild
• Editorial
• das erste: Was die LVZ Sonntagabend vom Tatort lernen könnte...
• Fear and loathing im Moseltal
• Runes, Hang the Bastard, Coldburn
• 65daysofstatic
• Einen aufs Haus
• MODESELEKTION Vol. 1
• Shrinebuilder
• Pantéon Rococó
• Blood Red Shoes
• Trilingual Dance Sexperience
• dd/mm/yyyy, Women, Baths
• »You are stronger than you think«
• »Freunde im Groove«
• Casper
• Rise and Fall, Nails, Harms Way
• Winds of Plague u.a.
• Veranstaltungsanzeigen
• kulturreport: Campy Panzerluft und antisemitischer Kitsch
• ABC: G wie Gewalt
• review-corner film: Jud Süß Ein Film ohne Anspruch
• Linker Irrtum, schwerer Irrtum
• Konzentriertes Ressentiment
• Das ist doch alles nicht so einfach...
• doku: Oben bleiben. Weiter gehen.
• doku: Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie Scheiße ist Deutschland?
• Anzeigen
• das letzte: Viel Spaß für wenig Geld
Jeder vernünftige Mensch ist gegen Stuttgart 21. Doch nicht jedes Argument gegen S21 ist vernünftig. Es ist z.B. vernünftig zu sagen, das Geld solle besser für dringende soziale Bedürfnisse ausgegeben werden. Falsch ist es jedoch, S21 volkswirtschaftlichen Irrsinn zu nennen (so z.B. U. Maurer von der Linkspartei). Denn dieses zweifelsohne irrsinnige Projekt macht wirtschaftlich durchaus Sinn. Und das ist der Kern des Problems.
Es ist verrückt, wegen 15 oder 30 Minuten Zeitersparnis
kilometerlange Tunnel in risikoreiche geologische Strukturen unter einer Stadt
zu fräsen. Es ist irrsinnig, riesige Mittel dafür aufzuwenden,
dass die Züge an der Geislinger Steige nicht mehr herunterbremsen
müssen (www.das-neue-herz-europas.de), während
Schulgebäude bröckeln, Universitäten Gebühren eintreiben,
Arbeitslose in die Armut geschickt werden und in Krankenhäusern Patienten
sterben, weil nicht genügend Personal da ist. Doch nicht ein paar Spinner
an den Schalthebeln der Macht sind die eigentliche Ursache dieses Irrsinns. Die
ganze Gesellschaft wird von einem zerstörerischen Wachstums- und
Geschwindigkeitswahn beherrscht. Dabei mangelt es noch nicht einmal an der
Einsicht, dass es eigentlich so nicht weitergehen kann. Doch es ist kein
Zufall, dass noch nirgendwo wirkliche Konsequenzen gezogen wurden. Man kann
tausendmal verstanden haben, wie gefährlich Atomkraftwerke sind
wenn man dort sein Geld verdient, hat man ein Problem. Man kann hundert Prozent
verstehen, wie falsch es ist, die Welt mit immer mehr Autos zuzustopfen. Wenn
jede Menge Arbeitsplätze von der Produktion der Dreckschleudern
abhängen, werden steigende Absatzzahlen allgemein akzeptiert. Auch nach
der Katastrophe im Golf von Mexico nimmt die Sucht nach Treibstoff kein Ende.
Und was ist die Antwort auf die Staatsverschuldung? 1,7 Billionen Euro
Miese Wie Deutschland der Schuldenfalle entkommt titelt Spiegel
Online (01.09.10) und weiß die Antwort: Wachstum, Wachstum,
Wachstum. Niemand widerspricht kein Arbeitgeberverband, keine Partei,
keine Gewerkschaft, keine Regierung.
Immer mehr und immer schneller: Irrsinn, dein Name ist Marktwirtschaft
Denn der Wachstumszwang ist mehr als falsches Bewusstsein. Er ist ein
verhängnisvoller Konstruktionsfehler der Marktwirtschaft. Die interessiert
sich nämlich nicht für das konkrete Leben. Ihr Sinn und Zweck ist es
allein, aus Geld mehr Geld zu machen. Gesundheit, Bildung, eine
menschenfreundliche Stadt sind für sie keine Kriterien. In der
mörderischen Ellenbogenkonkurrenz den größtmöglichen
Profit herausschlagen, um am meisten und schnellsten investieren zu
können, um am meisten Profit
usw. ohne Ende, das ist der Kreislauf
der Kapitalverwertung. Ob Brausetabletten, Bungalows, Bombenflugzeuge oder
Bahnhöfe alles Stoffliche interessiert die Marktwirtschaft nur
unter einem Aspekt: taugt es für die Wachstumsmaschine oder nicht?
Mehr, mehr, schneller, schneller! Um jeden Preis! Das ist ihr Credo. Um
ein paar Cent im Konkurrenzkampf zu sparen, werden gigantische Warenmengen in
rasender Geschwindigkeit über den Erdball hin und her gejagt, Menschen
hetzen ihnen mit heraushängender Zunge voraus und hinterher. Die Gier der
Marktwirtschaft walzt alles nieder, was ihr im Wege steht, sie untergräbt
zunehmend unsere Lebensqualität. Viele können keinen Millimeter mehr
hinausblicken über das Diktat des Mark-tes, ein paar Minuten zu sparen und
Stuttgart wettbewerbsfähig zu halten: Schluss mit den Demos
gegen Stuttgart 21 hat schon über 10 000 Fans auf Facebook.
Vernünftig erscheint ihnen S21 nur, weil sie die stummen
Zwänge abstrakter Verhältnisse verinnerlicht haben. Konformistisch
brüllen sie gegen jene, die zumindest ahnen, dass das, was ist, nicht
alles ist. In ihrer inneren Zurichtung und Entsagung können sie nicht
ertragen, dass andere noch nicht ebenso zugerichtet sind
Doch obwohl
diese anderen wenigstens noch spüren, dass es auch anders sein
könnte, hängen sie noch oft genug dem herrschenden Wahn an. Bestes
Beispiel dafür ist das Projekt K21.
K21 ist keine wirkliche Alternative
K21 hat unbestritten ein paar Vorteile, z.B. nur 24 statt 66 km
Tunnelröhren. Aber das vermeintliche Alternativprojekt
(www.kopfbahnhof-21.de/fileadmin/bilder/stellungnahmen/Kopfbahnhof_2007.pdf)bricht
nicht mit dem Geschwindigkeits- und Wachstumswahn. Zitate: Der TGV von
Paris nach Stuttgart wird durch S21 nicht schneller. Ebenso falsch ist
die Behauptung, nur mit S21 könne die Fahrtzeit nach Ulm verkürzt
werden. K21 bindet die Landeshauptstadt vollwertig in die
europäische Magistrale Paris-Budapest ein. Die Fahrzeiten von Ulm
und Tübingen entsprechen denen von S21. Vordringlich sollte die
Kapazität im Hauptbahnhof durch einen neuen Rosensteintunnel gesteigert
und die Neubaustrecke realisiert werden, weil allein sie die Reisezeit
verkürzt. Auch der Flughafen/Messe wird in 13 Minuten schnell
erreicht. Das Konzept will neue Gleise, neue Brücken, neue Tunnel, preist
den direkten Anschluss von Messe und Flughafen. Und, als Gipfel: Mit K21 werde
eine größere Leistungsfähigkeit erreicht als beim
Durchgangsbahnhof. Sprich: Mehr Wachstum und Geschwindigkeit mit K21!
Die einen sind oben. Die anderen sind unten. Der Wahn ist überall.
Es ist empörend: Die einen sitzen an der Quelle und bereichern sich, die
anderen können froh sein, wenigstens noch mit Hartz IV abgespeist zu
werden. Die einen haben Entscheidungsmacht über vieles, was die
Lebensverhältnisse der anderen berührt, die weitaus meisten sind
machtlos. Und trotzdem ist auch die Macht derer da oben begrenzt: Sie
können die Logik der Kapitalverwertung nicht außer Kraft setzen.
Wäre S21 wirklich volkswirtschaftlicher Irrsinn, würden die
Verantwortlichen entgegen der Systemlogik handeln. Doch mit den
Milliardenbeträgen sorgen sie dafür, dass die Maschine aus
Maximalprofit und Wachstumswahn weiter brummt. Die Vorstellung, die da
oben behinderten die Marktwirtschaft ist nicht nur absurd, sie ist auch die
Mutter aller Verschwörungsphantasien: Wenn nur diese Gierigen, diese
Bande, dieses Lügenpack nicht wäre, dann hätten wir das Problem
gar nicht... Ein wenig überzeugendes Weltbild. Selbstverständlich
gibt es Profiteure und Seilschaften bei S21. Aber würde bei K21 niemand
profitieren, kein Finanzgeschäft getätigt, kein Deal gedreht, kein
Billiglohn gezahlt? Viele scheinen ernsthaft zu glauben, dass dann keine
Spätzles-Connection lügen, manipulieren und tricksen und keine
unvorhergesehene Kostensteigerung nach der anderen aus dem Hut gezaubert
würde. Heilige Einfalt! S21 und K21 sind genauso wie immer
mehr Autobahnen, immer mehr Fluglärm und immer mehr Umweltkatastrophen
Ausfluss der Zwänge eines verrückten Systems. Die
Marktwirtschaft kann`s eben nicht besser.
Das Verflixte ist allerdings, dass unser aller Einkommensquellen, seien
wir Arbeiter, Unternehmer, Freischaffende, Rentner oder Hartz IV-Bezieher,
letztendlich vom Funktionieren der Kapitalverwertung abhängen ohne
sie gibt es weder Arbeitsplätze noch Steuereinnahmen. Insofern
protestiert, wer gegen die Auswirkungen des Wachstums- und
Geschwindigkeitswahns rebelliert ob er will oder nicht immer auch
gegen seine eigene materielle Lebensgrundlage. Freitags gegen S21
demonstrieren, samstags mal eben schnell zum Geschäftstermin oder in den
eh so knappen Urlaub um die halbe Welt düsen? Wie viel S21 steckt
eigentlich in uns allen? Wir können nur leben, wenn wir unsere
Lebensgrundlagen zerstören, lautet die frohe Botschaft der
Marktwirtschaft. Der Weisheit letzter Schluss?
Entweder die Marktwirtschaft beseitigt die Menschen oder umgekehrt.
Es ist an der Zeit, über Grundsätzliches nachzudenken. Gut, dass es
Widerstand gegen Stuttgart 21 gibt. Nicht nur wegen der Untertunnelungsrisiken
und weil das Geld für dringende soziale Bedürfnisse benötigt
wird. Je mehr die Protestierenden ein gutes Leben gegen den herrschenden
Geschwindigkeits- und Leistungswahn einfordern, umso emanzipatorischer wird die
Bewegung sein. S21 wird hoffentlich verhindert, aber noch notwendiger wäre
der Ausstieg aus dem Immer-mehr-und-immer-schneller, anstatt nur
für Varianten des Wahns zu kämpfen.
Schließlich wissen ja auch Sie, dass es so nicht weitergehen kann,
oder?
Wachstum könnte auch ganz anders klingen
In einer human eingerichteten Gesellschaft wären die Güterströme
auf das stofflich notwendige Maß begrenzt und nicht von
Profitmaximierungserwägungen gesteuert. Der Großteil der heutigen
Arbeit und des heutigen Verkehrs, der allein dem Schmieren der großen
Geldmaschine dient, würde ohne jeden Verlust an Lebensqualität
wegfallen: Reisen aus Lust am Kennenlernen der Welt und der Menschen, entspannt
und oft auch langsamer, ohne den idiotischen Zeitdruck im Nacken, weil man nur
zwei Wochen Urlaub hat oder der Auftrag flöten geht, wenn man eine Stunde
zu spät ist. Wissenschaft und Technik könnten unser Leben
entwickeln und bereichern, statt immer mehr Minuten und Leistung aus uns
rauszuquetschen. Das Wort Wachstum könnte für die Lust am
Leben und nicht mehr für eine tödliche Sucht stehen. Und die
schlechte Alternative entweder blindes und zerstörerisches Wachstum
oder noch mehr Sparen auf Kosten der Mehrheit wäre auch von gestern. Eine
solche Gesellschaft wäre schon lange möglich. Wir können heute
mit so wenig Arbeit wie noch nie so viel Reichtum hervorbringen wie noch nie.
Doch die Marktwirtschaft macht aus überflüssiger Arbeit
überflüssige Menschen und stresst diejenigen, die noch Arbeit
haben, ohne Ende. Es ist schon lange Zeit, diese verrückte Organisation
der Gesellschaft zu beenden.
Warum demonstrieren Sie eigentlich nicht gegen die Rente mit 67?
Die Rente mit 67 bzw. 70 wäre vollkommen unnötig, denn beim heutigen
Niveau der Arbeitsproduktivität können schon lange immer weniger
Menschen immer mehr versorgen. Sie bedroht massiv unsere Lebensqualität:
die der Alten sowieso und die der Jungen, weil sie noch schlechtere Chancen auf
Arbeitsplätze haben, wenn die Alten länger arbeiten müssen.
Anders als bei S21 gibt es hier jedoch keine Handvoll
Bösewichter, die an allem schuld zu sein scheinen, man muss
schon ein paar grundsätzlichere Fragen stellen. In Frankreich wird massiv
gegen die Rente mit 62 gestreikt. Bei S21 merken immer mehr Leute, dass
man für sich selbst eintreten kann. Das geht nicht nur da.