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Es gab eine Zeit, da durfte das große Ganze sprich die Welt
des christlichen Abendlandes ausschließlich durch Geistliche
erklärt werden. Christliche Vorschriften, Dogmen und der Oberguru der
Kreuzanbeter waren unhinterfragbar, wer es wagte sich dem angeblichen
göttlichen Willen zu widersetzen, riskierte seine gottgegebene Existenz
und den Eintritt in die höllischen Folterkammern der christlichen
Saubermänner. Das Angesicht der göttlichen Schöpfung von
frevlerischen Elementen zu säubern, war bekanntermaßen
jahrhundertelang das Ziel der Moral-Monopolisten, die es sich nicht nehmen
ließen Ketzer und Hexen nach Lust und Laune zu quälen.
Die Periode der Inquisition kann als Hochphase dieser göttlich
legitimierten Barbarei begriffen werden. Beliebte Praxis war dabei die
sogenannte peinliche Befragung, die unter Verwendung bestialischster
Folter Geständnisse der Angeklagten erzwingen sollte.
Betrachtet man also die Geschichte der römisch-katholischen Kirche, wird
deutlich, dass die scheußlichsten Verbrechen im Namen des lieben Gottes
begangen werden konnten, dass also die Mitgliedschaft in der
Glaubensgemeinschaft nicht automatisch für humanistische Gesinnung und das
moralische Verhalten ihrer Mitglieder bürgt. Eine Sekte, die angetreten
war, die Liebe des christlichen Gottes mithilfe eines sakrosankten
Regelkatalogs unter die Menschen zu bringen, wurde zur Institution, die in
Gottes Namen über Jahrhunderte hinweg den millionenfachen Massenmord
entfesselte.
Im Zuge der europäischen Aufklärung wurde allmählich der
christliche durch den Tugendterror der bürgerlichen Revolutionäre
abgelöst und die gesellschaftliche Bedeutung der Kirche schrittweise
geringer. Trotz Säkularisierung, der prozesshaften Trennung von Kirche und
Staat, muss die katholische Sekte aber immer noch als gesellschaftlich
relevanter Faktor betrachtet werden. Sicherlich hat das Wort des Papstes nicht
das Gewicht, wie die päpstlichen Verfügungen vor vierhundert Jahren,
dennoch begreift sich der alte B.XVI als Stellvertreter Gottes und steht einer
1,1 Milliarden starken Glaubensgemeinschaft vor. Der katholische
Männerbund lässt es sich daher auch nicht nehmen, zu
gesellschaftlichen Debatten Stellung zu beziehen. Seien es die
Stammzellenforschung, die Gentechnologie oder die Diskussionen um Abtreibungen.
Dass die Positionen oft alles andere als progressiv sind, muss hoffentlich an
dieser Stelle, nicht gesondert betont werden.
Eine Frage, die jedoch nicht so ohne weiteres übergangen werden darf, ist
die, warum 2010 Jahre nach Christus (sic!) immer noch Milliarden an die
Märchen der Bibel und die Existenz Gottes glauben? Sicherlich, die Frage
nach dem Sinn des Lebens ist in der widersprüchlichen Welt von heute immer
noch aktuell. Wie sich moderne Menschen die eigene und die Existenz der Welt
aber angesichts der katastrophalen Geschichte und der unvermindert
fortwirkenden himmelschreienden Barbarei, in die auch die Kirche zutiefst
verstrickt war und ist, immer noch mit dem lieben Gott erklären
können, bleibt mir ein Rätsel.
Kein Geheimnis hingegen ist die Tatsache, dass sich die Kirche, zumindest in
den Industrieländern, in einer tiefen Krise befindet schwindende
Mitgliederzahlen, immer weniger Priesteramtsanwärter, leere
Gotteshäuser usw.. Abgesehen von evangelikalen Strömungen, die den
tristen Gottesdienst in aufputschende Massenevents verwandeln und neben
charismatischen Vorbetern auch quasi-epileptische Anfälle sprich
Live-Teufelsaustreibungen oder talking in tongues zu bieten haben, ist
es um den Zustand der christlichen Massensekten schlecht bestellt. Das alte
Opium des Volkes knallt nicht mehr so richtig. Nicht nur, dass sie kaum
noch zufriedenstellende Antworten auf die komplexen Fragen der Gegenwart zu
bieten haben, sie demontieren sich auch zusehends selbst.
Gerade der Vatikan hat seit einiger Zeit derbe Imageprobleme, die seinem
Anspruch, als globale moralische Autorität anerkannt zu werden,
beständig unterminieren. Auch die Devatte um Missbrauchsfälle
in katholischen Einrichtungen dürfte nicht gerade positiv zu
seinem Ansehen beitragen. Dabei scheint gerade der Anspruch, moraliche Instanz
zu sein, dem Themenkomplex der sexualisierten Gewalt zusätzliche Brisanz
zu verleihen. Warum aber ist sexuelle Gewalt im Kontext der Kirche
verwerflicher als in anderen Bereichen der Gesellschaft?
Wie schon erwähnt, beharren der Vatikan und seine Außenstellen
darauf, den modernen Gesellschaften moralische Weisungen zu geben und
Verhaltensvorschriften aufzustellen. Dass auch sexualmoralische Dogmen stets
von Neuem artikuliert werden, ist also einerseits nicht verwunderlich,
andererseits höchst absurd. Schließlich handelt es sich bei den
selbsternannten Sex-Experten um, in Sachen Sexualität, unerfahrene
Zeitgenossen, deren Altersdurchschnitt es zudem verdient biblisch genannt zu
werden. Dass sich Popstar Benedikt und sein Männerbund dennoch als
Hüter der Sexualmoral aufspielen, könnte daher als besonders perfide
Form pathisch projektiven Verhaltens analysiert werden. Das, was sie sich
selbst an sexueller Befriedigung nicht zugestehen wollen, verachten sie um so
mehr an denjenigen, die sich ausleben. Und das uneingestandene sexuelle
Verlangen ihres schwachen Fleisches bekämpfen sie, indem sie ihre
Triebenergie zum Schreiben lustfeindlichen Singsangs sublimieren.
Schließlich zähle ja sowieso nur die enthaltsame Liebe zum lieben
Gott. Kein Zufall, dass Menschen Komplexe bekommen, wenn sie sich auf
Befriedigung im jenseitigen Paradies hoffend zu weltlicher
Enthaltsamkeit verpflichten und eine Karriere als katholische Kleriker
anstreben. Dass Kirchenmänner mit pädophilen Neigungen, also
manifestem sexuellem Interesse an Kindern, in katholischen Einrichtungen die
Möglichkeit bekommen, diese zu befriedigen, ist traurigerweise immer noch
möglich.
Pädophilie, heutzutage offiziell als Störung der
Sexualpräferenz begriffen, muss zwar nicht per se zu sexuellen
Übergriffen führen, bekommt im Internats- oder Gemeindekontext jedoch
oft beste Voraussetzungen wirkmächtig zu werden. Schließlich besteht
zwischen Kirchenvertretern und Kindern ein enges Vertrauens- bzw.
Abhängigkeitsverhältnis, welches Erstere mit gleichgeschlechtlichen
pädophilen Vorlieben rücksichtslos ausnutzen konnten und können.
Diese christliche Nächstenliebe im schlechtesten Sinne erscheint dabei aus
katholischer Perpsektive besonders verwerflich. Zunächst muss es jedem
rechtgläubigen Katholiken als schlimmste Sünde erscheinen,
dass ein Mann Gottes überhaupt (gleich-)geschlechtliche Begierden hat und
auch noch Kinder sexuell anziehend findet. Der sexualisierte Gewaltakt stellt,
dieser christlichen Sichtweise zufolge, nämlich nicht nur ein Vergehen
gegen das kindliche Individuum, sondern gleichzeitig eine Sünde gegen
Gottes Schöpfung dar. Der sexuelle Missbrauch ist dabei also nicht nur ein
extremer Vertrauensmissbrauch gegenüber dem Opfer (und seinen Eltern),
sondern auch einer gegenüber der Institution Gottes und erscheint daher
als besonders verachtenswert.
Zu den bereits angedeuteten Faktoren, die sexuelle Übergriffe in
katholischen Einrichtungen begünstigen bzw. nicht effektiv verhindern,
gehört aber auch der Umgang der Kirche mit eventuellen und konkreten
Verdachtsfällen. Wie in letzter Zeit deutlich wurde, scheint ein
(mutmaßlicher) Täter in gewisser Hinsicht auf seine
Glaubensbrüder zählen zu können. Offenbar wurde sexualisierte
Gewalt einerseits nicht effektiv ver- und die staatliche Verfolgung von
Tätern andererseits systematisch behindert. Es hat sich herausgestellt,
dass die Kreuzanbeter wieder einmal auf verschworene Glaubensgemeinschaft
machen, strafrechtliche Vorgaben ignorieren und sich damit gewissermaßen
mal wieder über dem Gesetz wähnen. Ein Funken des alten
universellen Herrschaftsanspruchs scheint dabei aufzublitzen.
Gerade der innerkirchlichen Intransparenz und dem systematischen Verschweigen
schwerwiegender Verbrechen scheint die Vehemenz der aktuellen Kritik an der
katholischen Kirche zu entspringen. Und die Massenmedien übernehmen die
Rolle der Inquisition light: die Kirche wird peinlich befragt.
Wie aber die aktuelle Debatte öffentlich geführt wird, verweist auch
auf den Zustand der Gesellschaft. Die Auseinandersetzung wird auf den
Zusammenhang von Zölibat und Pädophilie beschränkt und Priester
als Monster schlechthin dargestellt. Dass bisher kein direkter Zusammenhang
zwischen der zölibatären Lebensweise und pädophilem Verhalten
hergestellt werden konnte, wird ignoriert und die Debatte um sexualisierte
Gewalt auf die Institution der katholischen Kirche verengt. So als ob nicht die
Mehrzahl der sexuellen Übergriffe im sozialen Nahfeld (Familie, Bekannte)
der Kinder geschehen und als ob nicht Väter, Onkel und Brüder
unabhängig von ihrer jeweiligen Konfession Kinder missbrauchen und
damit die Hauptgruppe der Täter bildeten. Dies soll lüsterne
Kirchendiener keineswegs entschuldigen, nur vielmehr darauf hinweisen, wie
heuchlerisch mit dem Problemfeld öffentlich umgegangen wird.
Schließlich leben wir in gesellschaftlichen Verhältnissen, die
unablässig patriarchale, sexistische Strukturen (re-)produzieren und damit
Umgebungen schaffen, die sexualisierte Gewalt gegen die Schwächsten der
Gesellschaft begünstigen. Gewalt gegen Kinder und Schutzbefohlene ist
nicht ein besonderes Problem der Kirche, sondern eines der Gesellschaft im
Allgemeinen.
Dass sexueller Missbrauch in den Reihen der Kirche als besonders perfide
wahrgenommen wird, wurde oben darzustellen versucht. Dass die Debatte jedoch
nicht auf die Forderung nach der Reformierung der katholischen Kirche reduziert
werden darf, da sonst grundlegende Strukturen und Dynamiken der
gegenwärtigen Gesellschaft fälschlicherweise ausgeblendet werden,
muss gesellschaftkritischen Theoretiker_Innen bewusst sein. Schließlich
gehört es zu den Erkenntnissen der psychoanalytisch fundierten Kritik des
modernen bürgerlichen Subjekts, dass jedes Individuum heutzutage dazu
gezwungen ist, seine sexuellen Bedürfnisse mehr oder weniger erfolgreich
zu unterdrücken, zu verdrängen oder in irgendeiner Art und Weise zu
sublimieren. Welche Probleme sich aus dieser Verdrängung uneingestander
Triebe und Bedürfnisse ergeben und welche katastrophalen Konsequenzen das
Misslingen dieser Unterdrückung haben kann, muss einer Gesellschaftskritik
bewusst sein, die vor dem objektiven Wahnsinn nicht kapitulieren will.
Sicherlich: Religion ist Massenwahn wie Freud in Das Unbehagen in der
Kultur schreibt die ihrem Anspruch, die Welt lückenlos zu
erklären, nicht ansatzweise gerecht werden kann. Zu unterstellen, dass nur
komplexbehaftete Individuen (und damit auch Pädophile) Zuflucht in den
Irrlehren der Kirchen suchen würden, wäre aber viel zu kurz
gegriffen. Denn schließlich sei, so Marx in der Kritik der Hegelschen
Rechtsphilosophie, (d)as religiöse Elend (...) in einem
der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation
gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten
Kreatur (...). Die Persistenz des religiösen Bedürfnisses
enthält, auf verquere Art und Weise, immer auch den Hinweis, dass die
Welt, wie sie ist, eben noch nicht die beste aller möglichen sein kann
die Misere der Massen und die (strukturelle) Gewalt gegen Kinder
erinnern daran. Dass die Lösung der gegenwärtigen Weltprobleme aber
nicht im naiven Predigen der Nächstenliebe bestehen kann, erkannten nicht
nur Freud und Marx, sondern auch Adorno: Sie zu predigen, halte ich
für vergeblich: keiner hätte auch nur das Recht, sie zu predigen,
weil der Mangel an Liebe (...) ein Mangel aller Menschen ist ohne
Ausnahme, so wie sie heute existieren. Liebe predigen, setzt in denen, an die
man sich wendet, bereits eine andere Charakterstruktur voraus als die, welche
man verändern will. Denn die Menschen, die man lieben soll, sind ja selber
so, dass sie nicht lieben können, und darum ihrerseits keineswegs so
liebenswert. Es war einer der großen, mit dem Dogma nicht unmittelbar
identischen Impulse des Christentums, die alles durchdringende Kälte zu
tilgen. Aber dieser Versuch scheiterte; wohl darum, weil er nicht an die
gesellschaftliche Ordnung rührte, welche die Kälte produziert und
reproduziert. Wahrscheinlich ist jene Wärme unter den Menschen, nach der
alle sich sehnen, außer in kurzen Perioden und ganz kleinen Gruppen (...)
bis heute überhaupt noch nicht gewesen. (Adorno, Erziehung nach
Auschwitz)
Im Bewusstsein, dass längst nicht alles gesagt werden konnte, soll der
Text hier seinen Abschluss finden. Das Ziel bleibt eine sich selbst bewusste
Gesellschaft, in der mündige, frei assoziierte Individuen ohne
gesellschaftliche Rollenzwänge mit anderen Menschen auf der Basis
freiwilliger Übereinkunft nach Lust und Laune pimpern können. Von mir
aus kann dann auch der alte sadistische Sack im Himmel zugucken, obwohl sich zu
diesem Zeitpunkt dieses himmlische Hirngespinst samt seiner,
zugegebenermaßen von mir diagnostizierten, sadistischen
Verhaltensstörung hoffentlich längst in Wohlgefallen
aufgelöst haben dürfte.
Paul Sandkorn