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Aktuelles Heft

INHALT #176

Titelbild
Editorial
• das erste: Am Anfang war die Tat
Rockwell
The Chariot, I Wrestled A Bear Once, The Eyes of a Traitor
Im zweiten Anlauf…
TRASH – A never ending Story
Motorcitydubs
These Boots Are Made For Stomping...
Turbostaat
Die Welt ist sehr chaotisch geworden
Johnossi
la familia y amigos festival
Nichts Neues im Westen? Doch!
The Casting Out
Alkaline Trio
The Sonic Boom Foundation
The Bronx & Mariachi El Bronx
Veranstaltungsanzeigen
• doku: Mit der Rolle in der Wolle
• doku: In Bewegung – know your feminist history
• doku: And we're running down the backstreets – Oi! Oi! Oi!
• ABC: S wie Surrealismus
• review-corner film: Dreamworks statt teamWorx!!!
• kulturreport: Deutlich auf der Seite des Guten
Die verkürzte Deutschlandkritik
• doku: Eskalation in Sachsen
Anzeigen
• das letzte: Antirassismus

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Am Anfang war die Tat

Kreuz

Es gab eine Zeit, da durfte das „große Ganze“ – sprich die Welt des christlichen Abendlandes – ausschließlich durch Geistliche erklärt werden. Christliche Vorschriften, Dogmen und der Oberguru der Kreuzanbeter waren unhinterfragbar, wer es wagte sich dem angeblichen göttlichen Willen zu widersetzen, riskierte seine gottgegebene Existenz und den Eintritt in die höllischen Folterkammern der christlichen Saubermänner. Das Angesicht der göttlichen Schöpfung von frevlerischen Elementen zu säubern, war bekanntermaßen jahrhundertelang das Ziel der Moral-Monopolisten, die es sich nicht nehmen ließen „Ketzer“ und „Hexen“ nach Lust und Laune zu quälen. Die Periode der Inquisition kann als Hochphase dieser göttlich legitimierten Barbarei begriffen werden. Beliebte Praxis war dabei die sogenannte „peinliche Befragung“, die unter Verwendung bestialischster Folter „Geständnisse“ der Angeklagten erzwingen sollte.
Betrachtet man also die Geschichte der römisch-katholischen Kirche, wird deutlich, dass die scheußlichsten Verbrechen im Namen des lieben Gottes begangen werden konnten, dass also die Mitgliedschaft in der Glaubensgemeinschaft nicht automatisch für humanistische Gesinnung und das moralische Verhalten ihrer Mitglieder bürgt. Eine Sekte, die angetreten war, die Liebe des christlichen Gottes mithilfe eines sakrosankten Regelkatalogs unter die Menschen zu bringen, wurde zur Institution, die in Gottes Namen über Jahrhunderte hinweg den millionenfachen Massenmord entfesselte.

Im Zuge der europäischen Aufklärung wurde allmählich der christliche durch den Tugendterror der bürgerlichen Revolutionäre abgelöst und die gesellschaftliche Bedeutung der Kirche schrittweise geringer. Trotz Säkularisierung, der prozesshaften Trennung von Kirche und Staat, muss die katholische Sekte aber immer noch als gesellschaftlich relevanter Faktor betrachtet werden. Sicherlich hat das Wort des Papstes nicht das Gewicht, wie die päpstlichen Verfügungen vor vierhundert Jahren, dennoch begreift sich der alte B.XVI als Stellvertreter Gottes und steht einer 1,1 Milliarden starken Glaubensgemeinschaft vor. Der katholische Männerbund lässt es sich daher auch nicht nehmen, zu gesellschaftlichen Debatten Stellung zu beziehen. Seien es die Stammzellenforschung, die Gentechnologie oder die Diskussionen um Abtreibungen. Dass die Positionen oft alles andere als progressiv sind, muss hoffentlich an dieser Stelle, nicht gesondert betont werden.
Eine Frage, die jedoch nicht so ohne weiteres übergangen werden darf, ist die, warum 2010 Jahre nach Christus (sic!) immer noch Milliarden an die Märchen der Bibel und die Existenz Gottes glauben? Sicherlich, die Frage nach dem Sinn des Lebens ist in der widersprüchlichen Welt von heute immer noch aktuell. Wie sich moderne Menschen die eigene und die Existenz der Welt aber angesichts der katastrophalen Geschichte und der unvermindert fortwirkenden himmelschreienden Barbarei, in die auch die Kirche zutiefst verstrickt war und ist, immer noch mit dem lieben Gott erklären können, bleibt mir ein Rätsel.

Kein Geheimnis hingegen ist die Tatsache, dass sich die Kirche, zumindest in den Industrieländern, in einer tiefen Krise befindet – schwindende Mitgliederzahlen, immer weniger Priesteramtsanwärter, leere Gotteshäuser usw.. Abgesehen von evangelikalen Strömungen, die den tristen Gottesdienst in aufputschende Massenevents verwandeln und neben charismatischen Vorbetern auch quasi-epileptische Anfälle sprich Live-Teufelsaustreibungen oder „talking in tongues“ zu bieten haben, ist es um den Zustand der christlichen Massensekten schlecht bestellt. Das alte „Opium des Volkes“ knallt nicht mehr so richtig. Nicht nur, dass sie kaum noch zufriedenstellende Antworten auf die komplexen Fragen der Gegenwart zu bieten haben, sie demontieren sich auch zusehends selbst.
Gerade der Vatikan hat seit einiger Zeit derbe Imageprobleme, die seinem Anspruch, als globale moralische Autorität anerkannt zu werden, beständig unterminieren. Auch die Devatte um „Missbrauchsfälle in katholischen Einrichtungen“ dürfte nicht gerade positiv zu seinem Ansehen beitragen. Dabei scheint gerade der Anspruch, moraliche Instanz zu sein, dem Themenkomplex der sexualisierten Gewalt zusätzliche Brisanz zu verleihen. Warum aber ist sexuelle Gewalt im Kontext der Kirche verwerflicher als in anderen Bereichen der Gesellschaft?

Wie schon erwähnt, beharren der Vatikan und seine Außenstellen darauf, den modernen Gesellschaften moralische Weisungen zu geben und Verhaltensvorschriften aufzustellen. Dass auch sexualmoralische Dogmen stets von Neuem artikuliert werden, ist also einerseits nicht verwunderlich, andererseits höchst absurd. Schließlich handelt es sich bei den selbsternannten Sex-Experten um, in Sachen Sexualität, unerfahrene Zeitgenossen, deren Altersdurchschnitt es zudem verdient biblisch genannt zu werden. Dass sich Popstar Benedikt und sein Männerbund dennoch als Hüter der Sexualmoral aufspielen, könnte daher als besonders perfide Form pathisch projektiven Verhaltens analysiert werden. Das, was sie sich selbst an sexueller Befriedigung nicht zugestehen wollen, verachten sie um so mehr an denjenigen, die sich ausleben. Und das uneingestandene sexuelle Verlangen ihres „schwachen Fleisches“ bekämpfen sie, indem sie ihre Triebenergie zum Schreiben lustfeindlichen Singsangs sublimieren. Schließlich zähle ja sowieso nur die enthaltsame Liebe zum lieben Gott. Kein Zufall, dass Menschen Komplexe bekommen, wenn sie sich – auf Befriedigung im jenseitigen Paradies hoffend – zu weltlicher Enthaltsamkeit verpflichten und eine Karriere als katholische Kleriker anstreben. Dass Kirchenmänner mit pädophilen Neigungen, also manifestem sexuellem Interesse an Kindern, in katholischen Einrichtungen die Möglichkeit bekommen, diese zu befriedigen, ist traurigerweise immer noch möglich.
Pädophilie, heutzutage offiziell als „Störung der Sexualpräferenz“ begriffen, muss zwar nicht per se zu sexuellen Übergriffen führen, bekommt im Internats- oder Gemeindekontext jedoch oft beste Voraussetzungen wirkmächtig zu werden. Schließlich besteht zwischen Kirchenvertretern und Kindern ein enges Vertrauens- bzw. Abhängigkeitsverhältnis, welches Erstere mit gleichgeschlechtlichen pädophilen Vorlieben rücksichtslos ausnutzen konnten und können. Diese christliche Nächstenliebe im schlechtesten Sinne erscheint dabei aus katholischer Perpsektive besonders verwerflich. Zunächst muss es jedem „rechtgläubigen“ Katholiken als schlimmste Sünde erscheinen, dass ein Mann Gottes überhaupt (gleich-)geschlechtliche Begierden hat und auch noch Kinder sexuell anziehend findet. Der sexualisierte Gewaltakt stellt, dieser christlichen Sichtweise zufolge, nämlich nicht nur ein Vergehen gegen das kindliche Individuum, sondern gleichzeitig eine Sünde gegen Gottes Schöpfung dar. Der sexuelle Missbrauch ist dabei also nicht nur ein extremer Vertrauensmissbrauch gegenüber dem Opfer (und seinen Eltern), sondern auch einer gegenüber der Institution Gottes und erscheint daher als besonders verachtenswert.
Zu den bereits angedeuteten Faktoren, die sexuelle Übergriffe in katholischen Einrichtungen begünstigen bzw. nicht effektiv verhindern, gehört aber auch der Umgang der Kirche mit eventuellen und konkreten Verdachtsfällen. Wie in letzter Zeit deutlich wurde, scheint ein (mutmaßlicher) Täter in gewisser Hinsicht auf seine Glaubensbrüder zählen zu können. Offenbar wurde sexualisierte Gewalt einerseits nicht effektiv ver- und die staatliche Verfolgung von Tätern andererseits systematisch behindert. Es hat sich herausgestellt, dass die Kreuzanbeter wieder einmal auf verschworene Glaubensgemeinschaft machen, strafrechtliche Vorgaben ignorieren und sich damit gewissermaßen mal wieder „über dem Gesetz“ wähnen. Ein Funken des alten universellen Herrschaftsanspruchs scheint dabei aufzublitzen.
Gerade der innerkirchlichen Intransparenz und dem systematischen Verschweigen schwerwiegender Verbrechen scheint die Vehemenz der aktuellen Kritik an der katholischen Kirche zu entspringen. Und die Massenmedien übernehmen die Rolle der Inquisition light: die Kirche wird peinlich befragt.
Wie aber die aktuelle Debatte öffentlich geführt wird, verweist auch auf den Zustand der Gesellschaft. Die Auseinandersetzung wird auf den Zusammenhang von Zölibat und Pädophilie beschränkt und Priester als Monster schlechthin dargestellt. Dass bisher kein direkter Zusammenhang zwischen der zölibatären Lebensweise und pädophilem Verhalten hergestellt werden konnte, wird ignoriert und die Debatte um sexualisierte Gewalt auf die Institution der katholischen Kirche verengt. So als ob nicht die Mehrzahl der sexuellen Übergriffe im sozialen Nahfeld (Familie, Bekannte) der Kinder geschehen und als ob nicht Väter, Onkel und Brüder – unabhängig von ihrer jeweiligen Konfession – Kinder missbrauchen und damit die Hauptgruppe der Täter bildeten. Dies soll lüsterne Kirchendiener keineswegs entschuldigen, nur vielmehr darauf hinweisen, wie heuchlerisch mit dem Problemfeld öffentlich umgegangen wird. Schließlich leben wir in gesellschaftlichen Verhältnissen, die unablässig patriarchale, sexistische Strukturen (re-)produzieren und damit Umgebungen schaffen, die sexualisierte Gewalt gegen die Schwächsten der Gesellschaft begünstigen. Gewalt gegen Kinder und Schutzbefohlene ist nicht ein besonderes Problem der Kirche, sondern eines der Gesellschaft im Allgemeinen.

Dass sexueller Missbrauch in den Reihen der Kirche als besonders perfide wahrgenommen wird, wurde oben darzustellen versucht. Dass die Debatte jedoch nicht auf die Forderung nach der Reformierung der katholischen Kirche reduziert werden darf, da sonst grundlegende Strukturen und Dynamiken der gegenwärtigen Gesellschaft fälschlicherweise ausgeblendet werden, muss gesellschaftkritischen Theoretiker_Innen bewusst sein. Schließlich gehört es zu den Erkenntnissen der psychoanalytisch fundierten Kritik des modernen bürgerlichen Subjekts, dass jedes Individuum heutzutage dazu gezwungen ist, seine sexuellen Bedürfnisse mehr oder weniger erfolgreich zu unterdrücken, zu verdrängen oder in irgendeiner Art und Weise zu sublimieren. Welche Probleme sich aus dieser Verdrängung uneingestander Triebe und Bedürfnisse ergeben und welche katastrophalen Konsequenzen das Misslingen dieser Unterdrückung haben kann, muss einer Gesellschaftskritik bewusst sein, die vor dem objektiven Wahnsinn nicht kapitulieren will.

Sicherlich: Religion ist Massenwahn – wie Freud in Das Unbehagen in der Kultur schreibt – die ihrem Anspruch, die Welt lückenlos zu erklären, nicht ansatzweise gerecht werden kann. Zu unterstellen, dass nur komplexbehaftete Individuen (und damit auch Pädophile) Zuflucht in den Irrlehren der Kirchen suchen würden, wäre aber viel zu kurz gegriffen. Denn schließlich sei, so Marx in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, „(d)as religiöse Elend (...) in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur (...).“ Die Persistenz des religiösen Bedürfnisses enthält, auf verquere Art und Weise, immer auch den Hinweis, dass die Welt, wie sie ist, eben noch nicht die beste aller möglichen sein kann – die Misere der Massen und die (strukturelle) Gewalt gegen Kinder erinnern daran. Dass die Lösung der gegenwärtigen Weltprobleme aber nicht im naiven Predigen der Nächstenliebe bestehen kann, erkannten nicht nur Freud und Marx, sondern auch Adorno: „Sie zu predigen, halte ich für vergeblich: keiner hätte auch nur das Recht, sie zu predigen, weil der Mangel an Liebe (...) ein Mangel aller Menschen ist ohne Ausnahme, so wie sie heute existieren. Liebe predigen, setzt in denen, an die man sich wendet, bereits eine andere Charakterstruktur voraus als die, welche man verändern will. Denn die Menschen, die man lieben soll, sind ja selber so, dass sie nicht lieben können, und darum ihrerseits keineswegs so liebenswert. Es war einer der großen, mit dem Dogma nicht unmittelbar identischen Impulse des Christentums, die alles durchdringende Kälte zu tilgen. Aber dieser Versuch scheiterte; wohl darum, weil er nicht an die gesellschaftliche Ordnung rührte, welche die Kälte produziert und reproduziert. Wahrscheinlich ist jene Wärme unter den Menschen, nach der alle sich sehnen, außer in kurzen Perioden und ganz kleinen Gruppen (...) bis heute überhaupt noch nicht gewesen. “ (Adorno, Erziehung nach Auschwitz)

Im Bewusstsein, dass längst nicht alles gesagt werden konnte, soll der Text hier seinen Abschluss finden. Das Ziel bleibt eine sich selbst bewusste Gesellschaft, in der mündige, frei assoziierte Individuen ohne gesellschaftliche Rollenzwänge mit anderen Menschen auf der Basis freiwilliger Übereinkunft nach Lust und Laune pimpern können. Von mir aus kann dann auch der alte sadistische Sack im Himmel zugucken, obwohl sich zu diesem Zeitpunkt dieses himmlische Hirngespinst – samt seiner, zugegebenermaßen von mir diagnostizierten, sadistischen Verhaltensstörung – hoffentlich längst in Wohlgefallen aufgelöst haben dürfte.

Paul Sandkorn

22.04.2010
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