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Aktuelles Heft

INHALT #175

Titelbild
Editorial
• das erste: Wer hat Angst vorm Sozialismus?
Easter Ska Jam 2010
To Rococo Rot
Ashers, Ticking Bombs
Bouncing Souls
„It's a virus.“
welcome to electric island?
OH! OH! OH!
Welcome home!
The Artery Foundation Tour
Shrinebuilder
Good Clean Fun
Fight for Freedom!
Benefizdisco
Katatonia
Sondaschule
electric island - love edition
Inspectah Deck
Veranstaltungsanzeigen
• review-corner buch: Hitler war's
• review-corner theater: Die Prinzessin als Anarch
• ABC: M wie Metaphysik
Mit Messer und Axt
• doku: VS wirbt versteckt am schwarzen Brett
• doku: Getrennt in den Farben –Vereint in der Sache
• doku: Wir geben keine Ruhe
• doku: tears please!
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• das letzte: Die Linke Wange auch noch hinhalten

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Wer hat Angst vorm Sozialismus?

Schwan

Die kapitalistische Welt ist kein Planschbecken, sondern ein gewaltiger Ozean, ein alles umschließendes Gewässer in ständiger Bewegung, ein hochkomplexes System mit verschiedenen Strömungen, Kreisläufen und todbringenden Gewalten. Das Leben in dieser „Schmutzflut des Gegenwärtigen“ (Adorno) ist dementsprechend nichts für Nichtschwimmer. Denn wer nicht kräftig mit den Armen rudert, wird von der unsichtbaren Hand des Weltmarktes in den Abgrund gerissen und dem Vergessen überantwortet.
Oberflächlich betrachtet ist dieses Weltmeer eine schöne, vielseitig glitzernde Welt, einige sagen es wäre die beste aller möglichen und alles andere Barbarei. Denn was kümmern „uns“, sagen sie, „die Anderen“? Was kümmern „uns“ die paar Milliarden von Ertrunkenen, Ertränkten und Überflüssiggemachten? Schließlich sitzen „wir“ doch alle im selben Boot und blinde Passagiere gehen eben ab und zu mal über Bord. „Das ist“, sagt der sozialdarwinistische Sprech, „doch ganz natürlich“. Und außerdem sitzen, dem nationalistischen Narrativ zufolge, nicht nur „wir“, sondern auch „die Anderen“ in ihren jeweiligen Booten.
Um auf diesem Meer der Konkurrenz von Kähnen, Kuttern und Galeeren nicht unterzugehen, heißt es nun mal: „Rudern, rudern, rudern!“ Zweifel am Kurs oder die Warnung vor möglichen Kollisionen im globalen Konkurrenz-Gepatsche sind nur was für wasserscheue Landratten. „Volle Kraft voraus!“ tönt es von den Kommandobrücken und Ruderplätzen: die Plätze auf den Galeeren sind heißbegehrt.
Wer sich hingegen mit dem Ruderleben nicht abfinden will und sich zu den Ausrufen – Rudern ist scheiße! und Die Ruderer nehmen den Ruderlosen die Ruderplätze weg! – gedrängt sieht und den, von der Ruder-Routine verklebten Ohren, zu bedenken gibt, dass der Ozean ein menschenverschlingendes, giftiges Gebräu ist, welchem auch nicht durch staatliche Herumruderei beizukommen sei, dem wird allzuoft vorgehalten Seemannsgarn zu spinnen und die braven Rudernden nur unnötig seekrank machen zu wollen. Schwachsinn! Lasst die Maschinen rudern und die Menschen das Leben auf der Insel genießen! ruft er den Routinierten entgegen. „Warum erinnerst du uns auch noch an den Maschinenraum?“ krakeelen sie zurück. „Willst du uns Angst machen? Sollen wir etwa auch noch unseren Ruderplatz verlieren?“
Das Weltmeer und die Ruderei, sagen sie, sei eben nun mal die unabänderliche Natur, mit der man sich zu arrangieren habe und eine Alternative sei sowieso nicht in Sicht. Oder aber es wird „zugegeben“, dass einige „unter falscher Flagge“ segelten und die ansonsten reinen Gewässer vergiften würden. Dementsprechend wäre es um die Wasserqualität besser bestellt, meinen sie, wenn endlich die Blutegel, Finanzhaie und gierigen Kraken ausgerottet werden würden.
Doch nicht nur unter der Oberfläche soll es, dem Massenwahn zufolge, von finsteren Gestalten und wilden Freibeutern wimmeln. Nein auch im Rumpf des eigenen Bootes würden sich, so heißt es, zunehmend Parasiten einnisten: im Sozialstaat sei der Wurm drin! Ein gefräßiges, asoziales Untier habe es sich in den Vorratskammern des nationalen Kahns gemütlich gemacht und reiße genüßlich ein riesiges Loch in die Außenwand der Haushalts-Schiffskombüse, während es sich auf dem Kreuzfahrtschiff BRD über die Untiefen und Strudel des Ozeans hinwegschippern lasse.
Schluss-mit-Kuschelkurs-Kreuzfahrt-Navigator Westerwelle will dieses Sündenbabel der Dekadenz, diesen verspeckten Madensumpf im Bauch der Leistungsgesellschaft nun, allen Unkenrufen zum Trotz, trockenlegen, um das milliardenschwere Haushaltsleck zu flicken. Der Sozialstaat muss abspecken! Alle in Alarmbereitschaft! Mobilmachung zur Vollbeschäftigung?! Wer warm baden und den süßen Nektar des Wohlstands kosten will, soll, sagt der FDP-Chef, gefälligst schwitzen. Auch mal das Deck zu schrubben könne man von den Hängemattlern verlangen – Schneeschippen gegen soziale Kälte: „Alles andere ist Sozialismus.“

Viele haben zu dem unkämpften politökonomischen Kampf-Begriff „Sozialismus“ einige schlaue Dinge gesagt. Hier nur soviel: Einerseits gilt es zu unterscheiden, ob sich das „Label“ Sozialismus selbst gegeben oder ob es in der Parteienkonkurrenz der politischen Konzeption des Gegners in denunziatorischer Absicht zugeschrieben wird. Andererseits muss zwischen verschiedenen nationalstaatlichen Entwicklungen und gesellschaftshistorischen Kontexten differenziert werden. Festzuhalten bleibt aber: Erstens gab und gibt es viele (selbsternannte) Sozialismen und sozialistische Staaten aber nur einen kapitalistischen Weltmarkt. Und zweitens kommen nur geschichtsblinde Populisten auf die Idee die bundesdeutsche Sozialstaatlichkeit mit „dem Sozialismus“ zu verwechseln.

Fest steht auch, dass die (moderne) Hochseeschifffahrt in ökonomischer und militärischer Hinsicht, maßgeblich zur Durchsetzung dieses nunmehr globalisierten kapitalistischen Marktes beitrug. Und das sich ausgefeilte Hochseetechnologie auf „Imperialismus“ reimt, weiß man spätestens seit den „alten Römern“. Diese bauten bekanntermaßen nicht nur ausgklügelte (Ab-)Wassertransportsysteme, sondern nutzten auch die technologischen Vorteile ihrer Militär- und Handelsflotte zur Stabilisierung ihres Herrschaftsbereiches. Doch zurück zum oben gezeichneten Bild!

Die Turbulenzen des aktuellen Weltmeerbebens lassen auch den amerikanischen Flugzeugträgerstaat – den die Antiimps als das „neue Rom“ verteufeln – nicht unberührt. Der neue Captain aka Imperator Obama muss zusehen, wie sich Staatsverschuldung (neue Schulden für 2010: 1.600.000.000.000 Dollar), Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen unter einen Hut bekommen lassen, ohne den versprochenen sozialen Frieden im Schiff aus dem Blick zu verlieren. Dass es den Ruderlosen und Seekranken auf dem amerikanischen Dampfer im Schnitt dreckiger geht als den deutschen Süßwassermemmen ist bekannt. Dass Ruderlosigkeit und Seekrankheit im Auf und Ab der vor sich hin blubbernden Ozeanökonomie auch für die amerikanische Schiffsbesatzung dramatische Auswirkungen haben kann, weiß Obama. Dass er das Gesundheitssystem der USA reformieren und damit Millionen von Amerikanern ein Mindestmaß an sozialer Absicherung im Krankheitsfall ermöglichen will, finden viele zum Kotzen.

Am schrillsten tönt es aus den Reihen der sogenannten „Tea Party“-Bewegung, die gegen Obamas Reformpläne kräftig Dampf ablässt. Tee galt, bevor er zur preiswerten international gehandelten Massenware wurde, vielen als Symbol britischen Snobismus und imperialistischer Dekadenz. In Anlehnung an die sogenannte „Boston Tea Party“ – bei der im Jahr 1773 als „Indianer“ verkleidete Amis aus Protest gegen die Kolonial- und Steuerpolitik der britischen Krone, die Schiffe der East India Trading Company stürmten und den Rohstoff des britischen Nationalgetränks ins Hafenbecken kippten –, formiert sich seit einiger Zeit eine rechtsgerichtete „Graswurzelbewegung“, die den, wie sie sagen, „sozialistischen“ Umtrieben in Washington in die Suppe spucken will. Um vor der Verkremlung des Weißen Hauses zu warnen bedienen sie sich der krudesten Parallelisierung. Das auf den ersten Blick sympathische Mißtrauen gegen das „big government“ Washingtons, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als reaktionärer Populismus. Sah man zu Zeiten W. Bushs Protestplakate, die ihn mit Adolf Hitler verglichen, kann man heute Obamas Antliz neben dem von Stalin oder dem des „Führers“ bewundern. Schließlich waren ja beide irgendwie Sozialisten, oder?

Dass Obama mit sozial populären Forderungen seinen Wahlkampf bestritt, ist klar. Wenn man sich nun aber sein wichtigstes innenpolitisches Reformprojekt ansieht, wird deutlich, dass er zwar den „Change“, den Wandel versprach doch im Alltagsgeschäft der Realpolitik angekommen, eher seine Wandlungsfähigkeit unter Beweis stellt. Sein Populismus scheint unweigerlich einem Pragmatismus zu weichen, der Kompromissbereitschaft signalisiert, um der Blockadepolitik der Republikaner samt Tea-Party entgegenzusteuern. Ohne eine Änderung der Steuerpolitik wird sich die quasi-sozialstaatliche Gesundheitsreform aber wohl kaum finanzieren lassen.
Dass höhere Steuern gewissermaßen „automatisch“ die Luke Richtung sozialistischer Planwirtschaft aufstoßen, ist das Schreckensszenario mit dem die Obama-Gegner Stimmung machen. Die ressentimentbeladene „Obama=Socialism“-Propaganda scheint sich aus einem Mix aus Rassismus, evangelikalem Konservatismus und einer tiefsitzenden, aus der Zeit der Blockkonfrontation stammenden, „Kommunismus“-Paranoia zu speißen.
Die Prediger der Obamaphobie berufen sich auf das hohe Gut der „Freiheit“. Sie fordern die Freiheit von staatlichen Zwangsabgaben und gesetzlichen Pflichtversicherungen, sowie die Freiheit zum eigenen finanziellen Ruin im Krankheitsfall. Statt auf soziale Sicherheit, die letztlich im Sinne des sozialen Friedens die Reproduktion der Prekarisierten garantieren soll, setzen sie auf die Bereitschaft individuelle Risiken einzugehen: Liberalismus eben.

Dass es nicht nur bei abstrusem Schildchen-Hochhalten und Verbalradikalismus im Namen der Freiheit geht, verdeutlich der Selbstmordanschlag des US-Bürgers Andrew Joe Stack III, der am 18. Februar diesen Jahres mit seinem Kleinflugzeug in die US-Steuerbehörde in Austin (Texas) raste und dabei einen Steuerbeamten tötete und Dutzende verletzte. Getrieben von einem krankhaften Hass auf das amerikanische Finanzsystem inszeniert er sich in seinem Abschiedsbrief als Märtyrer im Kampf gegen die Steuer-Diktatur USA und stößt damit unter den pseudo-revolutionären Tee-Beuteln („Wir sind ein Tsunami!“) und amerikanischen Konservativen teils auf offene Zustimmung. Gegen „alle da oben“ und die „aufgeblasene(n) Polit-Ganoven“ sei, so heißt es in dem Pamphlet, eben „Gewalt (...) die einzige Antwort“.

Eines lassen die beiden Pseudo-Sozial(ismus)-Debatten über „Gerechtigkeit“ und „Freiheit“ in Zeiten der aktuellen Krise auf jeden Fall erkennen. Es zeigt sich das regressive Potential, das auch in vergleichsweise liberalen Gesellschaften immer noch schlummert, und dass die Apologie der Arbeits- und Staatsfetischismen nicht selten in paranoider Abwehr möglicher Alternativkonzepte gipfelt, die maßgeblich zur Verwässerung des Sozialismus-Begriffes beiträgt. Was aber Freiheit jenseits des manifesten Massenwahns bedeuten könnte, hat Adorno in seinem Aphorismus Sur l`eau in aller Vorsicht zum Ausdruck gebracht:



Paul Sandkorn

22.03.2010
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