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Aktuelles Heft

INHALT #175

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Editorial
• das erste: Wer hat Angst vorm Sozialismus?
Easter Ska Jam 2010
To Rococo Rot
Ashers, Ticking Bombs
Bouncing Souls
„It's a virus.“
welcome to electric island?
OH! OH! OH!
Welcome home!
The Artery Foundation Tour
Shrinebuilder
Good Clean Fun
Fight for Freedom!
Benefizdisco
Katatonia
Sondaschule
electric island - love edition
Inspectah Deck
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• review-corner buch: Hitler war's
• review-corner theater: Die Prinzessin als Anarch
• ABC: M wie Metaphysik
Mit Messer und Axt
• doku: VS wirbt versteckt am schwarzen Brett
• doku: Getrennt in den Farben –Vereint in der Sache
• doku: Wir geben keine Ruhe
• doku: tears please!
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Die Prinzessin als Anarch

Clemens Schönborn inszeniert Medea
am Centraltheater als Schwarze Komödie

Medea Medea – wohl kaum eine Figur aus der griechischen Mythologie erfuhr so viele unterschiedliche Deutungen wie sie, gerade auch im 20. Jahrhundert. Die Barbarin, die ihre Familie tötet, um mit dem Helenen Jason gen Zivilisation zu fliehen, die dort angekommen zur Aussätzigen wird und sich schließlich grausam rächt: der Stoff ist offenbar so polyvalent, bietet sich zur Verhandlung so vieler ungelöster Probleme der Moderne an, dass Regisseure, Filmschaffende und Literaten ihn gerade in jüngerer Zeit immer und immer wieder ganz unterschiedlich zu interpretieren vermochten. Medea, das war traditionell die Kindsmörderin, die falsche Intrigantin, die Zauberin, die Leidenschaftliche, das Monster, der Unmensch, kurz: die Täterin. In jüngeren Zeiten wurde ihr Schicksal mit mehr Nachsicht behandelt, es entstanden differenziertere Interpretationen ihrer Person: War ihre Geschichte nicht auch die einer „Anderen“, die, an den Rand der Gesellschaft gedrängt, das unzivilisierte und archaische, das „naturhafte“ für die griechische Gesellschaft repräsentierte und gerade deshalb geächtet, gefürchtet und verbannt werden musste? War sie nicht die Frau, die in einer von kühler Berechnung geprägten Welt, in der die Liebe für einen Platz an der Sonne verraten wird, die unbedingte „weibliche“ Leidenschaft verkörperte? Ist „ihre“ Geschichte vielleicht ohnehin nur His-Story, aber nicht Her-Story und sie in Wahrheit nur ein praktischer Sündenbock für das Patriachat? Und war nicht ihre spirituelle Tiefe, ihre Verbundenheit mit einer von göttlicher Bedeutung erfüllten, ganzheitlichen Welt des Mythos der schalen Oberflächlichkeit eines aufgeklärten Materialismus, für den Jason und die Seinen stehen, allemal vorzuziehen? Von dieser kulturkritischen Haltung ist vor allem die filmische Adaption des Stoffs von Pier Paolo Pasolini motiviert, die – gleichwohl ästhetisch umwerfend umgesetzt – ihre reaktionäre Stoßrichtung unverhohlen zum Ausdruck bringt, wenn die Kamera sich minutenlang an einem rituellen Menschenopfer weidet.
Einen radikalen Bruch mit all diesen Bedeutungsschichten vollzieht die Medea-Inszenierung von Clemens Schönborn, die derzeit im Leipziger Centraltheater für Furore sorgt. Obwohl das Stück bereits im Januar angelaufen ist, sind auch die Aufführungen im März noch immer ausverkauft – und dass, obwohl in Leipzig viele Stücke bereits nach der dritten Aufführung mit leeren Zuschauerreihen zu kämpfen haben (zum Beispiel das grottenschlechte „Leipzig Büchner Revolte“). Es ist indes nicht schwer, den Grund für den außergewöhnlichen Erfolg der Inszenierung anzugeben; er hört auf den Namen Sophie Rois. Das Centraltheater, das in den letzten Jahren mittels einer konzertierten Werbeoffensive an seiner Corporate Identity feilte und alles tat, um jung, wild, sexy, vital, avantgardistisch und – natürlich! – irgendwie kritisch zu wirken, griff bei Medea auf den gar nicht soo avantgardistischen Trick zurück, das Stück um einen echten Star – besagte Sophie Rois – zu zentrieren. Sich durch das kulturindustrielle Mittel par excellence, die Starinszenierung, die Massen ins Haus zu locken; das scheint im Centraltheater Methode zu bekommen. Der Homepage ist zu entnehmen, dass ab Mai keine geringere als HEIKE MAKATSCH in dem Stück „Paris, Texas“ zu sehen sein wird. Wow! Vielleicht reicht es ja in der nächsten Spielzeit schon für Ben Affleck oder so.
Sophie Rois“ – dem Publikum bekannt aus Funk und Fernsehen – „ist Medea“, so prangte es in großen Lettern auf Leipziger Plakatwänden. Rois prägt dem in der Regel tragisch interpretierten Stück von der ersten Szene an eine ganz unerwartete, ironische Leichtigkeit auf. Durch ihr übertriebenes Spiel, die konsequent nölig-debile Stimme, die sich stets am Rande des Überschlagens befindet und das derbe Gefluche („ihr Wichser, ihr Arschgeigen“) wird das Stück radikal entrümpelt, der Mythos entzaubert und die für realistische Interpretationen so fruchtbaren gesellschaftlichen Konflikte in einer rabenschwarzen Comic-Komödie zum Verschwinden gebracht. Die Reminiszenzen an das Comicgenre sind zahlreich. So lässt Medea die Kinder für den Anschlag auf ihre Rivalin Glauke eine Bombe „Modell Panzerknacker“ basteln: Dynamitstangen und ein Wecker sind eben ein unübertroffener Klassiker, der auch die arglose Glauke um die Ecke bringen wird. Nach vollbrachter Tat kommen die süßen Kleinen dann mit völlig zerzausten, staubigen Haaren wieder auf die Bühne, nur um ihrerseits von ihrer unbekümmerten Mutter gemeuchelt zu werden. Solche Momente und das wunderbar lakonische, ja, zynische Spiel Sophie Rois` tragen diesen kurzen Theaterabend, an dem die äußere Handlung wie im Zeitraffer abzulaufen scheint. Über Medeas Beweggründe, ihr Verhältnis zu den anderen Figuren und die soziale Umwelt erfahren wir nämlich reichlich wenig. Es dreht sich alles um „Rois=Medea“ und alle anderen Figuren werden im Vergleich mit ihr zu Komparsen. Die Protagonistin agiert wie im Egoshooter, unbekümmert schlachtet sie vier Familienmitglieder in einer Minute, was jeweils mit demselben monotonem, abgehackten Geschrei aus dem Off kommentiert wird. Und weiter geht's!
Schönborns Medea ist kaum mehr als eine Max Stirnersche Einzige, ein infantiler, a-sozialer und emotional depravierter Charakter ohne menschliche Bindungen und ohne Gewissen. Die einzige Triebfeder ihres Handelns ist der Wunsch, die ihr von Jason zugefügte narzisstische Kränkung zu rächen, koste es, was es wolle. In einem Interview mit Alexander Kluge interpretierte Rois Medeas Rachefeldzug einmal als „ganz kalt kalkulierten politischen Akt, kein emotionaler, da wo man die Frauen so gerne hinschiebt“. Daran ist zumindest soviel wahr, das die Leipziger Medea keinerlei Anzeichen von „weiblicher“ Verzweiflung zeigt, sondern alle Register einer kaltblütigen Machtpolitik zieht. Der Zweck zu diesen politischen Mitteln ist jedoch immer nur die Befriedigung des eigenen Narzissmus. Hier will ein Mütchen gekühlt werden, sonst nichts. Von Abstraktionsvermögen, Selbsterhaltung, Gruppeninteressen oder gar Idealen ist hier nichts zu spüren und Rois` entgegengesetzte Vermutung, es ginge Medea um die hehre „Menschenwürde“, ist nicht nur reichlich ahistorisch, sondern nach dieser Inszenierung auch völlig unplausibel. Der Diskurs um Individuum und Gesellschaft, Anpassung und Rebellion, Verstand und Vernunft, der irgendwo zwischendrin eingeschoben wird, wirkt daher auch ziemlich deplatziert. Hier werden Medea ein paar adornitisch anmutende Zeilen in den Mund gelegt (à la „Für die Individuen ist es im Bestehenden vernünftiger, sich mit Haut und Haar auszuliefern, als für die Vernunft Partei zu ergreifen“), die suggerieren, sie stehe für mehr als ihren pathologischen Egoismus ein, am Ende gar für „Vernunft“. Zum Glück wird diese Stilisierung des Asozialen zum Subversionsmodell, die zwar im Stück mitschwingt – „Das Geile an dem Medea-Mythos ist: Die bewegt sich völlig außerhalb von Moral“ (Sophie Rois) – nicht weiter ausgeführt und letztlich, wie jede „ernste“ Interpretation des Stoffs von der postmodernen Ironie weggeätzt. Dass die protofaschistischen Allmachts- und Enthemmungsphantasien antiautoritär gestimmter deutscher Kleinbürger das Stück nicht dominieren, das „irgendwie kritische“ Unbehagen des Centraltheaters sich hier also nicht ausleben kann, macht es möglich, den Abend als kurzweilige, bitterböse Unterhaltung zu genießen, bei der Rois es immer wieder schafft, den dafür Empfänglichen ein Schmunzeln ins Gesicht zu treiben. Was das jetzt noch mit der Medea des Mythos zu tun hat? Keine Ahnung.

Johannes Knauss

Die nächsten Aufführungen finden am 2.; 10. und 25. April statt. Es empfiehlt sich, Karten im voraus zu reservieren.

25.03.2010
Conne Island, Koburger Str. 3, 04277 Leipzig
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