Mo Di Mi Do Fr Sa So 
00 00 00 00 0102 03 
04 05 06 070809 10 
11 12 13 141516 17 
18 19 2021222324 
25 2627282930

Aktuelle Termine

CEE IEH-ARCHIV

#172, Januar 2010
#173, Februar 2010
#174, März 2010
#175, April 2010
#176, Mai 2010
#177, Juni 2010
#178, Juli 2010
#179, September 2010
#180, Oktober 2010
#181, November 2010
#182, Dezember 2010

Aktuelles Heft

INHALT #174

Titelbild
Demokratie – mühsam
• das erste: The same proce­dure as last year...
Mouse on the Keys & Rocket Science
BLISSTRAIN 2010
Swollen Members
20 Years Hardwax Special
Smoke Blow
Agnostic Front
»in the end, i want you to cry«
Fantasietriologie
Katatonia
Benefizdisco
Madball
War from a Harlots Mouth
Legacy of Blood-Tour
Veranstaltungsanzeigen
• review-corner platte: Zur Problematik der Kleinen Glücksmomente im Großen Falschen
• cyber-report: Übersetzungsfehler? Selber Schuld!
• doku: Der Humbug der Wahlen
• doku: Gemeinsam gegen jeden Extremismus? Nicht mit uns!
Anzeigen
• das letzte: Das behinderte Kind von Gewalt und Politik

LINKS

Eigene Inhalte:
Facebook
Fotos (Flickr)
Tickets (TixforGigs)

Fremde Inhalte:
last.fm
Fotos (Flickr)
Videos (YouTube)
Videos (vimeo)



Zur Problematik der Kleinen Glücksmomente im Großen Falschen

Tocotronic haben ein neues Album heraus-
und mich um den Verstand gebracht

Tocotronic war mir immer eine Nasenlänge voraus, oder anders gesagt, spürte meine Gedanken, bevor ich sie begrifflich fassen konnte, in ihrer Musik auf. Die rotzige Deutschrockattitüde der 90er entdeckte ich mit 14, es waren die späten 90er und Tocotronic längst keine Neuheit mehr. Ich weiß noch, ich hatte die Platte Es ist egal, aber in die Hände gekriegt, meine Freundin Anna und ich saßen vor ihrem schlechten Ghettoblaster und hörten Der schönste Tag in meinem Leben. Ich verstand kein Wort. Nein, nicht inhaltlich, sondern der Sound war so schlecht, dass ich mein Ohr an die Box halten und immer wieder zurückspulen musste um die Worte zu verstehen. Ich glaube, das lag nicht nur am Ghettoblaster, auch die Hunderttausend weiteren Male, die ich mir das Lied in der letzten Dekade angehört habe (schon zehntausend Mal dies Jahr), wollte die Qualität einfach nicht besser werden. Seither ist aus diesem Geschrammel mit Gefühl meine Medizin, ja mein Valium geworden. Mein nicht von mir geführtes, liebes Tagebuch.
Ja wie soll ich erklären, was mir Tocotronic, oder besser: ihre Musik, bedeutet. Wie jenen das heilige Frösteln erklären, das mich überfällt, wenn ich durch den verschneiten Park laufe, mir die Zweige der Äste anschaue und dabei in mein Ohr geflüstert wird, dass dies keine Rätsel sind, die vor jedem Gefühl, jedem kurzen Glück in diesem Großen Falschen erschaudern, weil es nicht richtig sein kann. Am Ende bleibt doch zwischen der Wahrheit, dass man nur dieses eine Leben hat und es voll auskosten sollte und der Einsicht, dass wir uns in einer Gesellschaft bewegen, die sich nicht das Glück der Menschheit zum Ziel gesetzt hat, kein Kompromiss. Wenn ich Tocotronic höre, lösen sich für einen Moment die Widersprüche des Lebens auf: Ich verspüre ein Bedürfnis nach Einssein mit allem und doch ich weiß, ich bin alleine und ich finde es sogar gut. Wenn ich Tocotronic höre, fällt diese Dichotomie plötzlich in Eins. Kapitulation. Keine Lanze breche ich mir mehr ab für sinnlosen Widerstand, den ich gegen solch romantische Gefühlsregungen verspüre und lasse es zu: Mein Schön ist dein Schön.
Jeder bildet mit der Zeit seinen persönlichen Musikgeschmack heraus. Das muss nicht extravagant, darf sogar teilweise peinlich sein. Meine Freundin und ihr Freund hören etwa nichts, was keinen Flow hat. Bei mir ist das, was alles zusammenhält, dass es nie ungebrochen klingen darf. Was ich damit meine, ist: Ich kann wenig Musikalisches genießen, was nicht durch irgendetwas eine Art Brechtsche Verfremdung erwirkt. Auf Momente der Einfühlung Momente der Distanz folgen zu lassen, nehmen mir die Angst, eingelullt zu werden von einer Gemeinschaft, die mich einzunehmen sucht. Eine schräge Gitarre, eine lakonische Stimme, ein paar Disharmonien und ich fühle mich sicher vor Authentizität, Illusion und Einfühlung. Diese gewollte Künstlichkeit ist es letztendlich, die mich dazu bringt, laut mitsingen zu können (aber nicht mit anderen): Und ich weiß sie singen nicht für mich und ich weiß doch trotzdem glaube ich, dass ich sie verstehen kann, obwohl ich bin eine Frau.

Zu Tocotronic und ihrer Jugendbewegung

Wie soll man sich als Fan einer Band äußern, die keine Fans mag, und „doch genau den Nerv einer bestimmten Gruppe von Menschen trifft“, wie meine Mitbewohnerin sagt. Tocotronic wehrt sich gegen Kleinkünstler, gegen die Do-It-Herself-Gemeinde der Indie-Szene, die sie doch mit gebildet haben, gegen Sexisten als reine Männerband, gegen racist friends als nicht besonders critical Weiße, gegen Deutschland als Deutschrockband. Ich habe die Distanz zur Band immer gewahrt, mehr weil ich keinen Drang verspürte, mich auch mit den „Privatmenschen hinter den Musikern“ zu beschäftigen, als aus bewusster Reflexion. In meiner weiteren Jugend mochten meine FreundInnen, bis auf Anna und später Mareike, sie nicht besonders. Sie hörten Puff Daddy, Pur oder Robbie Williams, später Egotronic, Belle and Sebastian. Und sie fühlten sich teilweise ausgeschlossen durch Tocotronic, wie Janna mir Jahre später gestand. Und so kam es: Ich versteckte meine Musiksammlung konsequent vor BesucherInnen meines Zimmers. Nach Leipzig zu kommen und zu merken, dass Tocotronic in einen politischen Diskurs ums Antideutschsein verwickelt ist, tatsächlich eine Jugendbewegung mitbegründet hat und darum viele ihnen mit Sympathie oder Skepsis begegnen, war eine neue Erfahrung. Ich habe den Namen von Lowtzow erst vor etwa ein, zwei Jahren mit der Musik in Verbindung gebracht, die ich schon so lange als tägliches Brot zu mir nehme. Und doch ist das alles ja keine Entschuldigung: Es gibt sie, die Tocotronic-Gemeinschaft, die, wie Georg sagt, „wie jedes Produkt, das der Verwertung im System obliegt, auch das [machen], was sie am Besten können: Sprich Musik für all jene, deren Kampf darin besteht zu überlegen, kaufe ich mir ein zweites Billy-Regal, soll ich heute Abend auf die ASTA Party gehen und wenn ja, was ziehe ich aus dem Wust der H&M Kollektion an? Dass sie in jedem zweiten Interview betonen, dass sie mit deutscher Identifikation nichts und wieder nichts zu tun haben, gehört einfach zum Spiel. Es ist eine zwingend notwendige Symbiose: Ohne die Deutschen – Kein Tocotronic und umgekehrt.“
Es ist richtig: Ironie ist auch eine Strategie, sogar eine recht deutsche. Ironie schützt nicht vor Mittäterschaft, wenn etwa zum Sampler „Move against G8“ beigetragen wird und somit ignoriert wird, wen man sich als HörerIn, als KollegIn, als BewegungsgenossInnen einkauft. Reicht es da, hinterher einfach alles wieder zu relativieren, in dem man leise summt: „Im Zweifel für die Zwischenstufen“ und „Im Zweifel fürs Zerreißen der eigenen Uniform“? Ist dieser Diskursrock nicht schon die Verwässerung der Kritik; und wann beginnt Mitschuld? Wieder Georg: „Wenn Sie sich dabei [diesem Sampler] wohlfühlen, dann bedarf es keiner weiteren Diskussion über die Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung mit dem wesentlichen Problem – welches Deutschland heißt.“ Wo mache ich mich schuldig an Akzeptanz oder sogar Kooperation mit falschen Verhältnissen? Wenn ich Deutsch spreche, obwohl Deutsch nicht mehr gesprochen werden sollte, wenn ich in eine Kneipe gehe, obwohl ich weiß, dass dort viele Leute sich durch das Tragen bestimmter Halstücher zumindest ignorant gegenüber Attentaten an Israelis zeigen, wenn ich in Liedtexten zweideutig bleibe, wo Eindeutigkeit gefordert wäre (wie in „Stürmt das Schloss“ oder „Ein leiser Hauch von Terror“)? Dies ist sicher eine Frage, die sich jeweils am konkreten Fall und nicht durch eine abstrakte Formel klären lässt. Einerseits sollte Konsequenz und das Unterscheiden von richtig und falsch nicht aufgeweicht werden, wie es durch die Postmoderne und nicht erst seither so gerne geschieht. Und andererseits sind doch bei einer Band die eigene Musik, die eigenen Texte bedeutender als die Frage, wer vor einem in diesem Club gespielt hat.

Zu „Schall und Wahn“

Das neue Album, Schall und Wahn, habe ich jetzt dreizehn Tage am Stück gehört. Und es gewinnt an Qualität hinzu. Es ist nicht nur meine Meinung sondern die vieler Tocotronic-HörerInnen, wie ich bei einer Internetrecherche feststellen musste, dass Tocotroniclieder mit der Zeit nur besser werden. Dasselbe sagte auch ein Freund, den ich gerne gestern mitten in der Nacht angerufen hätte, um ihm zu sagen, dass ich mich geirrt hatte: Mein Lieblingslied auf der neuen Platte ist nach einigen Tagen der intensiven medikamentös-intravenösen Verabreichung dieser Musik, der 12. und letzte Track (Gift). Anstatt ihn anzurufen, und mich kurz danach zu schämen, hörte ich es mir nochmal an: Dieses acht minutenlange Lied steigert sich auf ruhigste Art in eine Ekstase hinein, die mich selbst in Momenten großer Wut oder Enttäuschung (und ja, die gab es schon seit das neue Album am 22. Januar erschien) satt und friedlich stimmt- zu recht sprechen hier Jan Müller und Dirk Lowtzow von einer „neuen Opulenz“ in ihrer Musik. Noch schöner wird mit der Zeit nur der Refrain von Gesang des Tyrannen. Und auch meine Aussage, die neue Platte sei postmodern, möchte ich an dieser Stelle gerne relativieren (womit ich schon in das Argumentationsmuster der Band selbst übernehme: Feststellen, Fixieren, Relativieren/Ironisieren): Im Zweifel für den Zweifel erschien mir zu Beginn falsch in seiner Aussage. Im Zweifel für die Wahrheit hätte es heißen müssen, rief ich aus und ward sauer. Aber jetzt habe ich etwas erlebt, womit ich den Ausspruch augenblicklich zu begreifen glaubte, und mir wird klar: Nein, in Momenten, wo richtig und falsch nicht so sauber trennbar sind, muss es heißen: Im Zweifel für Verzärtelung und für meinen Knacks, für die äußerste Zerbrechlichkeit, für einen Willen wie aus Wachs. Dieser Song übrigens wird von der Band selbst als Lowtzows persönlichstes Werk beschrieben (Interview auf motor.de), weshalb er dort auch alleine, nur mit Gitarre und der Streicherbegleitung des für dieses Album hinzugezogenen Neue Musik-Komponisten Thomas Meadowcraft zu hören ist (die Streicher sind evtl. auch der Hauptgrund für das Besondere an Gift).
Die in Foren viel beklatschte neu-alte Albernheit und der „Klamauk“ dieses Albums, die ich zu Beginn nicht sehen wollte, die mir durch die Drastik und Dramatik der Texte verstellt waren, bahnen sich inzwischen ganz von selbst ihren Weg zu meiner Stimmung, die sich unweigerlich aufheitert: Ja, bitte oszillieren Sie. Der Graf von Monte Schizzo singt nunmal seinen Hit so.
Mit Zitaten geht die Band wie immer nicht gerade schüchtern um: Von Neil Young bis Baudelaire, William Faulkner und Shakespeare über Adorno bis zu Yves Saint-Laurent wird von einem berühmten Mann zum nächsten gesprungen. Talent borrows, genius steals? Dies wäre vielleicht doch zu viel des Guten. Oder etwa nicht? Vielleicht trägt es sich eher so zu, wie Jan Wigger auf Spiegel Online feststellt: „Ob Tocotronic sich jemals wieder auf etwas festnageln lassen? Nevermore.“ Das wäre allerdings schade. Es ist doch zu leicht, „Menschen aller verfügbaren Geschlechter und Zwischenstufen, natürlich aber auch alle außerirdischen Zwitterwesen“ (tocotronic.de) auf Konzerte einzuladen, sich dann aber problemlos in der Männerdomäne Musikindustrie zu bewegen, ohne dies zu problematisieren. Sich also für das eine auszusprechen, aber doch nicht dafür einzustehen.
Jetzt bin ich froh, mich nicht mehr inhaltlich-interpretierend mit etwas auseinandersetzen zu müssen, was ich gar nicht so genau besehen wollte. Das neue Album bleibt ab heute unter Verschluss, bis niemand es mehr hört. Wer Kritik will, soll sich der kritischen Theorie zuwenden, wer klamaukige Witze mag, soll sich friends anschauen, wer die richtige politische Praxis sucht, kann weiter suchen. Das alles können die Hamburger Jungs (oder tocotronic boys, die sie noch immer sind) nicht bringen. Wieviel Bedeutung hinter den Liedern steht, bleibt offen, oder (wie im Welt-Interview von Laura Ewert zu Tage tritt) vielleicht sogar leer.
Am Ende kann man sich alle Hintergründe der Band erarbeiten und die Interviews anhören, man kann sie persönlich nervig und steif oder witzig und spritzig finden, das alles tritt doch zurück hinter das, was es eigentlich nur ist: Nämlich einfach Rockmusik. Wie war das nochmal? Es gibt nur cool und uncool und wie man sich fühlt? Heißt das, es gibt nur Wahr und Falsch und Privatsache? Hauptsache ist (es reimt sich), es ist Musik, also Privatsache; und Verständnis ist, wie Lowtzow sagt, keine Kategorie, die hier von Bedeutung ist. Ich bitte Sie: Genießen Sie!

Virginia Spuhr

18a.gif

Auftretende Lieder in der Reihenfolge ihres Erscheinens im Text
(mehrfaches Auftreten ist nicht gekennzeichnet)

- Es ist egal, aber.
- Der schönste Tag in meinem Leben.
- Du bist ganz schön bedient.
- Wehrlos.
- Liebes Tagebuch.
- Das sind keine Rätsel.
- Freiburg.
- Kapitulation.
- Die Folter Endet nie.
- Imitationen.
- Meine Freundin und ihr Freund.
- Die Sache mit der Team Dresch Platte.
- Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst.
- Racist Friend.
- Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein.
- Harmonie ist eine Strategie.
- Aber hier leben, nein danke!
- Im Zweifel für den Zweifel.
- Stürmt das Schloss (SDS).
- Ein leiser Hauch von Terror.
- Schall und Wahn.
- Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit.
- Gift.
- Gesang des Tyrannen.
- Bitte, oszillieren Sie.
- Gegen den Strich.
- This boy is tocotronic.
- Es ist einfach Rockmusik.
- Ich mag dich einfach nicht mehr so.
- Hauptsache ist.

Ich danke Georg D. für die Zitate

 

22.02.2010
Conne Island, Koburger Str. 3, 04277 Leipzig
Tel.: 0341-3013028, Fax: 0341-3026503
info@conne-island.de, tickets@conne-island.de