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Tocotronic war mir immer eine Nasenlänge voraus, oder anders gesagt,
spürte meine Gedanken, bevor ich sie begrifflich fassen konnte, in ihrer
Musik auf. Die rotzige Deutschrockattitüde der 90er entdeckte ich mit 14,
es waren die späten 90er und Tocotronic längst keine Neuheit mehr.
Ich weiß noch, ich hatte die Platte Es ist egal, aber in die
Hände gekriegt, meine Freundin Anna und ich saßen vor ihrem
schlechten Ghettoblaster und hörten Der schönste Tag in meinem
Leben. Ich verstand kein Wort. Nein, nicht inhaltlich, sondern der Sound
war so schlecht, dass ich mein Ohr an die Box halten und immer wieder
zurückspulen musste um die Worte zu verstehen. Ich glaube, das lag nicht
nur am Ghettoblaster, auch die Hunderttausend weiteren Male, die ich mir das
Lied in der letzten Dekade angehört habe (schon zehntausend Mal dies
Jahr), wollte die Qualität einfach nicht besser werden. Seither ist
aus diesem Geschrammel mit Gefühl meine Medizin, ja mein Valium
geworden. Mein nicht von mir geführtes, liebes Tagebuch.
Ja wie soll ich erklären, was mir Tocotronic, oder besser: ihre Musik,
bedeutet. Wie jenen das heilige Frösteln erklären, das mich
überfällt, wenn ich durch den verschneiten Park laufe, mir die
Zweige der Äste anschaue und dabei in mein Ohr geflüstert
wird, dass dies keine Rätsel sind, die vor jedem Gefühl, jedem
kurzen Glück in diesem Großen Falschen erschaudern, weil es nicht
richtig sein kann. Am Ende bleibt doch zwischen der Wahrheit, dass man nur
dieses eine Leben hat und es voll auskosten sollte und der Einsicht, dass wir
uns in einer Gesellschaft bewegen, die sich nicht das Glück der Menschheit
zum Ziel gesetzt hat, kein Kompromiss. Wenn ich Tocotronic höre,
lösen sich für einen Moment die Widersprüche des Lebens auf: Ich
verspüre ein Bedürfnis nach Einssein mit allem und doch ich
weiß, ich bin alleine und ich finde es sogar gut. Wenn ich Tocotronic
höre, fällt diese Dichotomie plötzlich in Eins.
Kapitulation. Keine Lanze breche ich mir mehr ab für
sinnlosen Widerstand, den ich gegen solch romantische
Gefühlsregungen verspüre und lasse es zu: Mein Schön ist dein
Schön.
Jeder bildet mit der Zeit seinen persönlichen Musikgeschmack heraus. Das
muss nicht extravagant, darf sogar teilweise peinlich sein. Meine Freundin
und ihr Freund hören etwa nichts, was keinen Flow hat. Bei mir ist
das, was alles zusammenhält, dass es nie ungebrochen klingen darf. Was ich
damit meine, ist: Ich kann wenig Musikalisches genießen, was nicht durch
irgendetwas eine Art Brechtsche Verfremdung erwirkt. Auf Momente der
Einfühlung Momente der Distanz folgen zu lassen, nehmen mir die Angst,
eingelullt zu werden von einer Gemeinschaft, die mich einzunehmen sucht. Eine
schräge Gitarre, eine lakonische Stimme, ein paar Disharmonien und ich
fühle mich sicher vor Authentizität, Illusion und Einfühlung.
Diese gewollte Künstlichkeit ist es letztendlich, die mich dazu bringt,
laut mitsingen zu können (aber nicht mit anderen): Und ich weiß
sie singen nicht für mich und ich weiß doch trotzdem glaube ich,
dass ich sie verstehen kann, obwohl ich bin eine Frau.
Zu Tocotronic und ihrer Jugendbewegung
Wie soll man sich als Fan einer Band äußern, die keine Fans mag, und
doch genau den Nerv einer bestimmten Gruppe von Menschen trifft, wie
meine Mitbewohnerin sagt. Tocotronic wehrt sich gegen
Kleinkünstler, gegen die Do-It-Herself-Gemeinde der Indie-Szene,
die sie doch mit gebildet haben, gegen Sexisten als reine Männerband,
gegen racist friends als nicht besonders critical Weiße, gegen
Deutschland als Deutschrockband. Ich habe die Distanz zur Band immer gewahrt,
mehr weil ich keinen Drang verspürte, mich auch mit den
Privatmenschen hinter den Musikern zu beschäftigen, als aus
bewusster Reflexion. In meiner weiteren Jugend mochten meine FreundInnen, bis
auf Anna und später Mareike, sie nicht besonders. Sie hörten Puff
Daddy, Pur oder Robbie Williams, später Egotronic, Belle and Sebastian.
Und sie fühlten sich teilweise ausgeschlossen durch Tocotronic, wie Janna
mir Jahre später gestand. Und so kam es: Ich versteckte meine
Musiksammlung konsequent vor BesucherInnen meines Zimmers. Nach Leipzig zu
kommen und zu merken, dass Tocotronic in einen politischen Diskurs ums
Antideutschsein verwickelt ist, tatsächlich eine Jugendbewegung
mitbegründet hat und darum viele ihnen mit Sympathie oder Skepsis
begegnen, war eine neue Erfahrung. Ich habe den Namen von Lowtzow erst vor etwa
ein, zwei Jahren mit der Musik in Verbindung gebracht, die ich schon so lange
als tägliches Brot zu mir nehme. Und doch ist das alles ja keine
Entschuldigung: Es gibt sie, die Tocotronic-Gemeinschaft, die, wie Georg sagt,
wie jedes Produkt, das der Verwertung im System obliegt, auch das
[machen], was sie am Besten können: Sprich Musik für all jene, deren
Kampf darin besteht zu überlegen, kaufe ich mir ein zweites Billy-Regal,
soll ich heute Abend auf die ASTA Party gehen und wenn ja, was ziehe ich aus
dem Wust der H&M Kollektion an? Dass sie in jedem zweiten Interview
betonen, dass sie mit deutscher Identifikation nichts und wieder nichts zu tun
haben, gehört einfach zum Spiel. Es ist eine zwingend notwendige Symbiose:
Ohne die Deutschen Kein Tocotronic und umgekehrt.
Es ist richtig: Ironie ist auch eine Strategie, sogar eine recht
deutsche. Ironie schützt nicht vor Mittäterschaft, wenn etwa zum
Sampler Move against G8 beigetragen wird und somit ignoriert wird, wen
man sich als HörerIn, als KollegIn, als BewegungsgenossInnen einkauft.
Reicht es da, hinterher einfach alles wieder zu relativieren, in dem man leise
summt: Im Zweifel für die Zwischenstufen und Im Zweifel
fürs Zerreißen der eigenen Uniform? Ist dieser Diskursrock
nicht schon die Verwässerung der Kritik; und wann beginnt Mitschuld?
Wieder Georg: Wenn Sie sich dabei [diesem Sampler]
wohlfühlen, dann bedarf es keiner weiteren Diskussion über die
Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung mit dem wesentlichen Problem
welches Deutschland heißt. Wo mache ich mich schuldig an Akzeptanz
oder sogar Kooperation mit falschen Verhältnissen? Wenn ich Deutsch
spreche, obwohl Deutsch nicht mehr gesprochen werden sollte, wenn ich in eine
Kneipe gehe, obwohl ich weiß, dass dort viele Leute sich durch das Tragen
bestimmter Halstücher zumindest ignorant gegenüber Attentaten an
Israelis zeigen, wenn ich in Liedtexten zweideutig bleibe, wo Eindeutigkeit
gefordert wäre (wie in Stürmt das Schloss oder Ein
leiser Hauch von Terror)? Dies ist sicher eine Frage, die sich jeweils am
konkreten Fall und nicht durch eine abstrakte Formel klären lässt.
Einerseits sollte Konsequenz und das Unterscheiden von richtig und falsch nicht
aufgeweicht werden, wie es durch die Postmoderne und nicht erst seither so
gerne geschieht. Und andererseits sind doch bei einer Band die eigene Musik,
die eigenen Texte bedeutender als die Frage, wer vor einem in diesem Club
gespielt hat.
Zu Schall und Wahn
Das neue Album, Schall und Wahn, habe ich jetzt dreizehn Tage am
Stück gehört. Und es gewinnt an Qualität hinzu. Es ist nicht nur
meine Meinung sondern die vieler Tocotronic-HörerInnen, wie ich bei einer
Internetrecherche feststellen musste, dass Tocotroniclieder mit der Zeit nur
besser werden. Dasselbe sagte auch ein Freund, den ich gerne gestern mitten
in der Nacht angerufen hätte, um ihm zu sagen, dass ich mich geirrt
hatte: Mein Lieblingslied auf der neuen Platte ist nach einigen Tagen der
intensiven medikamentös-intravenösen Verabreichung dieser Musik, der
12. und letzte Track (Gift). Anstatt ihn anzurufen, und mich kurz
danach zu schämen, hörte ich es mir nochmal an: Dieses acht
minutenlange Lied steigert sich auf ruhigste Art in eine Ekstase hinein, die
mich selbst in Momenten großer Wut oder Enttäuschung (und ja, die
gab es schon seit das neue Album am 22. Januar erschien) satt und friedlich
stimmt- zu recht sprechen hier Jan Müller und Dirk Lowtzow von einer
neuen Opulenz in ihrer Musik. Noch schöner wird mit der Zeit nur
der Refrain von Gesang des Tyrannen. Und auch meine Aussage, die neue
Platte sei postmodern, möchte ich an dieser Stelle gerne relativieren
(womit ich schon in das Argumentationsmuster der Band selbst übernehme:
Feststellen, Fixieren, Relativieren/Ironisieren): Im Zweifel für den
Zweifel erschien mir zu Beginn falsch in seiner Aussage. Im Zweifel
für die Wahrheit hätte es heißen müssen, rief ich aus und
ward sauer. Aber jetzt habe ich etwas erlebt, womit ich den Ausspruch
augenblicklich zu begreifen glaubte, und mir wird klar: Nein, in
Momenten, wo richtig und falsch nicht so sauber trennbar sind, muss es
heißen: Im Zweifel für Verzärtelung und für meinen
Knacks, für die äußerste Zerbrechlichkeit, für einen
Willen wie aus Wachs. Dieser Song übrigens wird von der Band selbst
als Lowtzows persönlichstes Werk beschrieben (Interview auf motor.de),
weshalb er dort auch alleine, nur mit Gitarre und der Streicherbegleitung des
für dieses Album hinzugezogenen Neue Musik-Komponisten Thomas Meadowcraft
zu hören ist (die Streicher sind evtl. auch der Hauptgrund für das
Besondere an Gift).
Die in Foren viel beklatschte neu-alte Albernheit und der Klamauk dieses
Albums, die ich zu Beginn nicht sehen wollte, die mir durch die Drastik und
Dramatik der Texte verstellt waren, bahnen sich inzwischen ganz von selbst
ihren Weg zu meiner Stimmung, die sich unweigerlich aufheitert: Ja, bitte
oszillieren Sie. Der Graf von Monte Schizzo singt nunmal seinen Hit so.
Mit Zitaten geht die Band wie immer nicht gerade schüchtern um: Von Neil
Young bis Baudelaire, William Faulkner und Shakespeare über Adorno bis zu
Yves Saint-Laurent wird von einem berühmten Mann zum nächsten
gesprungen. Talent borrows, genius steals? Dies wäre vielleicht
doch zu viel des Guten. Oder etwa nicht? Vielleicht trägt es sich eher so
zu, wie Jan Wigger auf Spiegel Online feststellt: Ob Tocotronic sich
jemals wieder auf etwas festnageln lassen? Nevermore. Das wäre allerdings
schade. Es ist doch zu leicht, Menschen aller verfügbaren
Geschlechter und Zwischenstufen, natürlich aber auch alle
außerirdischen Zwitterwesen (tocotronic.de) auf Konzerte einzuladen,
sich dann aber problemlos in der Männerdomäne Musikindustrie zu
bewegen, ohne dies zu problematisieren. Sich also für das eine
auszusprechen, aber doch nicht dafür einzustehen.
Jetzt bin ich froh, mich nicht mehr inhaltlich-interpretierend mit etwas
auseinandersetzen zu müssen, was ich gar nicht so genau besehen wollte.
Das neue Album bleibt ab heute unter Verschluss, bis niemand es mehr hört.
Wer Kritik will, soll sich der kritischen Theorie zuwenden, wer klamaukige
Witze mag, soll sich friends anschauen, wer die richtige politische
Praxis sucht, kann weiter suchen. Das alles können die Hamburger Jungs
(oder tocotronic boys, die sie noch immer sind) nicht bringen. Wieviel
Bedeutung hinter den Liedern steht, bleibt offen, oder (wie im Welt-Interview
von Laura Ewert zu Tage tritt) vielleicht sogar leer.
Am Ende kann man sich alle Hintergründe der Band erarbeiten und die
Interviews anhören, man kann sie persönlich nervig und steif oder
witzig und spritzig finden, das alles tritt doch zurück hinter das, was es
eigentlich nur ist: Nämlich einfach Rockmusik. Wie war das nochmal?
Es gibt nur cool und uncool und wie man sich fühlt? Heißt
das, es gibt nur Wahr und Falsch und Privatsache? Hauptsache ist (es reimt
sich), es ist Musik, also Privatsache; und Verständnis ist, wie
Lowtzow sagt, keine Kategorie, die hier von Bedeutung ist. Ich bitte Sie:
Genießen Sie!
Virginia Spuhr