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Auszug aus der Filmbesprechung in der Interventionen-Broschüre (http://interventionen.conne-island.de/09.html):
Shoah, der Titel von Claude Lanzmanns neunstündiger
Dokumentation, meint Zerstörung oder Vernichtung
und ist die jüdische Bezeichnung für die systematische
Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden während des
Nationalsozialismus. Lanzmann, 1925 in Frankreich geboren, Philosoph und Freund
Sartres, hat für die Produktion dieses Filmes 11Jahre benötigt
1974 bis 1985. Er hat dreieinhalb Jahre in 14 Ländern recherchiert,
fünf Jahre lang gedreht; das Material von über 350 Std. wurde in vier
Jahren geschnitten. Aufgrund dieser Zahlen könnte man davon
ausgehen, Lanzmann habe akribisch Daten und Fakten aneinandergereiht, um so das
volle Ausmaß der Vernichtung begreifbar machen zu wollen. Genau das zeigt
Shoah nicht mit Absicht.
Du sollst dir kein Bildnis machen. Dieser eigentlich religiösen Regel
scheint Lanzmann gefolgt zu sein, weil er sich des Problems bewußt war,
das die Schilderung und Vermittlung des Holocausts durch ästhetische
Aneignung nach sich ziehen kann. Er selbst schrieb in einem Essay über die
Fernsehserie Holocaust von 1978: Der Holocaust ist insofern
beispiellos, als er einen Flammenkreis um sich herum errichtet, eine Schranke,
die nicht überschritten werden kann, weil ein bestimmtes absolutes
Entsetzen nicht vermittelt werden kann. Wer vorgibt, diese Linie zu
überschreiten, macht sich eines schweren Vergehens
schuldig. Sein Film überschreitet die Linie nicht, er
bestimmt sie.
Die Dokumentation wirkt anfangs konfus. So als seien die Sequenzen aus
Interviews, Landschaftsbildern und Darstellungen der Vernichtungslager beinahe
zufällig aneinandergereiht.Aber eben diese scheinbare Konfusion ist es,
die verhindert, eine Unmittelbarkeit darzustellen, wie es in Dokumentationen
sonst üblich ist, sondern sie etabliert vielmehr eine fortwährende
Reflektion, und entkommt so dem Problem, eine bloße Historisierung zu
werden. Sie zwingt den Betrachter, sich mit dem Unvorstellbaren
auseinanderzusetzen, ohne gleichzeitig in das fast zwangläufige Paradox zu
geraten, es sich vorstellbar zu machen, welches allen medialen Rezeptionen der
Shoah innewohnt. Sie will keine Vergangenheit rekonstruieren, um sie dadurch
gewollt oder nicht gewollt fassbar zu machen. Viele, wenn nicht
alle Dokumentationen und Filme, die das gleiche Thema behandeln, machen diesen
Fehler, sie machen fassbar, was unfassbar ist, lassen das Unbegreifbare
begreifen. Saul Friedländer nennt diese Art der historischen
Wissensbildung über die Shoah: die Fassungslosigkeit zu
domestizieren [und so] wegzuerklären. Was würde auch all das Wissen darum bringen, die grauenhafte
Erfahrung bliebe doch nur äußerlich.
Die Wahrheit von Shoah bleibt unbegriffen, notwendigerweise. Diese
neun Stunden sorgen gerade nicht dafür, einem zu vermitteln, man
könne das Thema, die industrielle Vernichtung der europäischen
Jüdinnen und Juden, nun abhaken im Gegenteil, die Dokumantation
arbeiten gegen diesen allgemeinen Trugschluß. Sie kämpft gegen die
ständige Argumentation, man hätte die Vergangenheit aufgearbeitet und
somit bewältigt, nun, da man sich so viel Wissen über sie
angeeignet habe. In Bezug auf die reine Faktizität sagte der Historiker
Raul Hilberg noch 2006, wir wüssten noch nicht einmal 20% über den
Holocaust.Weil Lanzmann das schon 1974 ahnte, wollte er es bewusst unterbinden,
beim Betrachter ein Gefühl der Wissensättigung auszulösen.
Ein Jahr lang las ich [...], was ich in den Archiven auftreiben konnte.
[...] Und ich habe einen Begriff vom Ausmaß meiner Unkenntnis bekommen.
[...] Sie wissen nichts, Sie kennen ein Ergebnis: Sie wissen, daß sechs
Millionen Juden umgekommen sind, das ist alles. Lanzmann hat
das Dilemma begriffen, daß reine Tatsachenaneinanderreihung nur der
Verdinglichung des Bewußtseins über den Holocaust vorschub geleistet
hätte, aber eine Dokumentation nicht ohne Tatsachen auskommt.
Deshalb sind es auch nicht die im Film vermittelten Fakten, sondern ihre Art
der Darstellung, die die Singularität des Holocausts verdeutlichen.
Andi