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• das letzte: Konkret inkonkret
Luigi Nonos' Musiktheater Al gran sole carico d'amore (Unter der
großen Sonne von Liebe beladen) nennt sich bewusst nicht Oper, sondern
szenische Aktion. Das Thema der Revolutionen wird nämlich weder in
einen Handlungszusammenhang eingebettet, noch verfällt das Werk zum
musikalisch untermalten und chronologisch aufgearbeiteten Geschichtsunterricht.
Das Libretto besteht vielmehr aus einer zunächst verwirrenden
Aneinanderreihung historischer oder literarischer Zitate: Marx und Lenin kommen
ebenso zu Wort wie Brecht oder Pavese. Also langweilig-gestriges längst
archiviertes, weil totes Gerede über den Kommunismus?
In der Tat hört man beim Aufgehen des Vorhanges ein nicht
identifizierbares Rauschen vom Tonband, vereinzelte Stimmen verhallen und auf
der Bühne steigt nach kurzer Zeit der Chor aus Holzsärgen, bäumt
sich auf, muss aber vorerst kraftlos wieder zurücksinken. Die zwei
Mädchen in ihren Betten, welche das Plexiglashaus im Vordergrund der
Bühne bewohnen, haben jedoch ihren Spaß, verehren die Popikone Che
Guevara und toben wild und lebendig über die Bühne: sie spielen
Revolution und da gefällt ihnen das Schießen natürlich am
besten. Jedoch wird der Spaß unterbrochen durch die klagenden Laute einer
Frau in soldatischen Kleidern, die Texte von Tanja Bunke, welche mit Che
Guevara in Bolivien kämpfte, singt. Die Teddybären werden verbrannt
und die Mädchen bewaffnet. Vier weiblichen Solostimmen legt Nono die
meisten Zitate in den Mund, denn von den Revolutionen wird hier zumeist aus
weiblicher Perspektive erzählt und diese erschließt sich dem
Zuschauer in wirklich neuer Weise, scheinen doch die Überväter Marx
und Co. die Stimmen der Frauen in den meisten Fällen übertönt zu
haben. Wer spricht schon von Tanja Bunke, wer von Louise Michel, wer liest
heute Gorkis Mutter oder die Brechtsche Bühnenversion? In Nonos'
Oper stehen sie im Zentrum, die Frauen, aber nicht als Figuren; sie sind
vielmehr Ideengeber für ein Aufbegehren gegen doppelte Unterdrückung,
durch die allgemeinen Repressions- und Unterdrückungsorgane, aber auch
durch die Übermacht der männlichen Revolutionsführer,
personifiziert zum Beispiel im Chorführer Lenin. Werden nun trotzdem
Klischees bedient? Wird diese weibliche Seite der Revolution spezifisch
weiblich dargestellt? Schaut mal her hier: das schwache Geschlecht probt den
Aufstand? Nein, was erklingt ist die Hoffnung (Für dieses weite und
hilfsbereite Herz trunken von Solidarität ist die einzig
atembare Luft die Menschenliebe.), die Wut (Wenn sie mich am Leben
lassen, werde ich nicht aufhören, nach Vergeltung zu schreien
),
auch die revolutionäre Rhetorik (Moncada war die Mutter der
Revolution.). Gleichzeitig reiht sich die oder der Einzelne in der
Gemeinschaft ein. So nimmt der Chor den Gesang der Solostimmen immer auch auf,
mitunter schwillt er zu beängstigendem, aber auch mitreißendem
Gesang an. Die Oper konzentriert sich auf die Frauengestalten, aber sie zeigt
sie meistens im Kollektiv, parallel dazu erscheinen auch in der Partitur Zitate
von Kampfliedern, italienischen Arbeiterliedern oder der kubanischen
Nationalhymne Prozesse der Identifikation mit revolutionären Ideen.
Dabei bleibt Nonos' Musik immer klar, das Orchester wird sparsam, zuweilen aber
unerbittlich eingesetzt: die Übergänge von dem marschmäßen
Aufruf des Schlagzeugs zum Aufstand zu dessen brutaler Niederschlagung sind
fließend. Im zweiten Teil verdichtet sich das Werk erst zu seiner wahren
Größe und auch auf der Bühne findet Regisseur Peter
Konwitschny, nachdem der erste Teil ab und zu etwas auf der Stelle trat und die
Bilder nicht immer zwingend gerieten (die Frauen der Pariser Commune sahen bei
ihrem Kaffeekränzchen noch ein bisschen unbedarft aus), zu einer
bezwingenden Einheit zwischen Szene und Musik: Zunächst ein Bild privater
Sehnsucht nach Zärtlichkeit mit den poetischen Texten Cesare Paveses. Doch
die hohen Spitzentöne von Tanja Andrij, die man zunächst für
Lustjauchzer halten kann, fahren einem ins Mark und verwandeln sich zu
Schmerzens- oder Entsetzensschreien. In dieser Szene wird auch eine der wenigen
mehr oder weniger individuellen Figuren etabliert: die Mutter nach
Gorki/Brecht, hinreißend gespielt und gesungen von Iris Vermillion. Die
Sorge, wie sie ihren Sohn ernähren soll, macht sie unter großen
Kämpfen zur Revolutionärin, die sich an der Seite ihres Sohnes in die
Menge einreiht und an einem Aufstand (stellvertretend für die russischen
Revolutionen oder die Turiner Arbeiteraufstände) teilnimmt. Dabei muss sie
mit ansehen, wie ihr Sohn erschossen wird. Eingezwängt werden diese
Aktionen in die sogenannte Repressionsmaschine, die viermal in Nonos Partitur
als brutale und unerbittliche Attacke des Orchesters notiert ist. Konwitschny
und sein Ausstatter Helmut Brade verkleinern den Bühnenraum immer mehr,
die zwei hohen grauen Wände rücken immer näher, zwängen die
Menschen auf der Bühne ein, unterdrücken zunächst
jegliches Aufbegehren, und erdrücken dann auch alle Lebenden. Der
Vorhang fällt, nur noch eine Türe bleibt offen und wieder hört
man aus der Ferne Frauenstimmen. Nono war überzeugter Kommunist. Der letze
Satz des Librettos lautet: Also kämpfen wir! 1975, zur
Uraufführung in Mailand, muss er das als Aufruf verstanden haben. In
Leipzig sind nun die Stimmen der Vergangenheit zu uns gedrungen. Die zeitliche
Distanz hat auch ironische Kommentare einfließen lassen: die Thesen von
Marx sind uns von einer Märchenfee didaktisch näher gebracht worden.
Doch jetzt lässt Konwitschny die Tür unerbittlich zufallen. Keine
Hoffnung? Die allgemeine Niederlage? Die Schönheit setzt sich der
Revolution nicht entgegen. Der Schrei des Soprans als Wunsch nach Ausbruch,
Veränderung, nach lebenswertem Leben; neben aller Brutalität gewinnt
die Musik dabei eine ungemein berührende Kraft. Dieser Schrei erreicht
auch heute noch seine Hörer. Deshalb hat man es hier mit einem der
Höhepunkte der Opernliteratur des 20. Jahrhunderts zu tun, in einer Reihe
mit Bergs Wozzeck, Reimanns Lear oder Zimmermanns
Soldaten. Die letzte Vorstellung fand am 19. Dezember statt.
Alexander Ring