• Titelbild
• Editorial
• das erste: K.I.Z. zum Ersten
• das erste: K.I.Z. zum Zweiten
• Masta Ace & Edo G: Der Tag-Team Abend!
• A MOUNTAIN OF ONE
• THE GIFT
• Oi! The Meeting 2010 warm up show
• Oh my SIR Rodigan – can't wait to see you rock again ...
• Ohrbooten
• When the bass gets connected...
• Hot Christmas Hip Hop Lounge
• Edge - the movie
• Mr. Symarip (aka Roy Ellis)
• New Moon over Europe Tour 2009
• Muff Potter
• The Adicts
• Trip Fontaine, Patsy o' Hara
• MITTE02: Dixon, Sevensol
• Snowshower
• Conne Island NYE clash
• Veranstaltungsanzeigen
• review-corner buch: Den Deutschen ins Stammbuch geschrieben...
• review-corner buch: Nur nicht heute Abend lass uns die Worte finden
• review-corner film: Über den Pfad der Tugend und sein Ergebnis
• cyber-report: Offene Springquellen des Reichtums
• interview: Revolutionen haben den Vorteil, daß man sie nicht prognostizieren kann
• ABC: K wie Klassenkampf
• Anzeigen
• das letzte: Wer hat uns verraten?
Vielleicht skizzierst du eingangs den Umschlag in der kapitalistischen,
fetischistischen Gesellschaft. Da sagst du ja, dass der Liberalismus einen
Vernunftkern in sich enthält, dass dieser sich in der Geschichte der
Krisen auflöst und zumindest mit dem Wandel des Fetischs irrationalisiert
und naturalisiert wird. Mit der Perspektive, dass es im autoritären Staat
des NS mündet. Vielleicht umreißt du eingangs diesen Gedanken
kurz.
Die Frage trifft ein Kernproblem kritischer Gesellschaftstheorie in der
Tradition von Marx ebenso wie einer praktischen Gesellschaftskritik. Das
Problem ist, dass es in der liberalen Epoche für Marx noch ganz
selbstverständlich schien, sozialökonomische Krisen als Phasen einer
theoretischen und praktischen Gesellschaftskritik aufzufassen, weil der
Liberalismus die Aussicht auf eine neue Gesellschaft enthielt. Das galt
schon für die Krise von 1873/79 und den folgenden Imperialismus nicht,
schon gar nicht für die Krise von 1929/33 und den folgenden
Nationalsozialismus. Auch gegenwärtige Krisen pauken dem Bürgertum
nicht wie Marx einst gehofft hat Dialektik ein. Man kommt also
mit Marx nicht weiter, wenn man die Kritik der Politischen Ökonomie nur
philologisch rekonstruiert und nicht geschichtlich begreift. Dann gerät
sie zu einer übergeschichtlichen Theorie, aus der die Intention der
Weltveränderung eliminiert ist. Die Theorie von Marx ist auszuführen,
nicht wiederherzustellen. Das kann man schon bei Korsch lernen. Ich muss also
zur Beantwortung der Frage etwas ausholen. Am Anfang meiner wissenschaftlichen
Biographie, während des Studiums, habe ich mit der Kritischen Theorie
angefangen und erstmal Habermas und Adorno kennengelernt und darüber
Zugang zu Marx und Hegel gefunden. Was mich daran interessierte (das war so um
1970), ist das Interesse auf der einen Seite, tatsächlich so etwas wie
Welterkenntnis und Bildung zu erlangen das wollte ich ganz unbedingt
auch im Interesse einer Weltveränderung. Das war ja Konsens unter
relativ vielen Studenten. Ich begann mir die Theorie von Marx so anzueignen,
dass sie nicht dogmatisiert und verfestigt wird, sondern aus ihrer Zeit
begriffen wird. Ich habe angefangen, die verschiedenen Schriften zu lesen,
nicht um sie wiederherzustellen und eine Interpretation zu liefern, sondern als
Fragment zu lesen und das Marxsche Werk zu verflüssigen. Deswegen kommt
dann das Grundinteresse daran, wie eine an Marx anschließende
Gesellschaftstheorie nach Marx möglich ist. In diesem Sinne muss man
natürlich auch Hegel, Ricardo, Smith und ähnliches lesen, um sich
dann wieder der Kritischen Theorie (also Adorno und Horkheimer) und
Lukács zuzuwenden. Ich habe dann bemerkt, dass man so, wie Marx das um
1850 - 1870 macht, den Kapitalismus nicht mehr kritisieren kann. Bei
Lukács und Korsch ist es gerade das Motiv gewesen, den orthodoxen
Marxismus zu kritisieren, um eine Theorie im revolutionären Interesse zu
formulieren. Orthodox in der Weise, dass der Marxismus der Zweiten
Internationalen der Verdinglichung des Imperialismus erlegen ist, und zwar auf
dem Standpunkt des Warenfetischismus und seiner gesellschaftlichen
Naturgesetzlichkeit. Durch diesen unaufgeklärten Fetischismus begreift
jener Marxismus die Ideen einer Produktivkraftentwicklung,
Bürokratisierung und Planwirtschaft als Utopie. Beide [Lukács und
Korsch] sagen, es käme aber darauf an, nicht nur Marx aus seiner Zeit
heraus zu verstehen, sondern überhaupt die Frage zu stellen, wie man den
Übergang vom Liberalismus zum Imperialismus begreifen kann. Und zwar so,
dass die Problematik gefasst wird, daß man zum ersten Mal eine
Gesellschaft hat, die gar nichts mehr verspricht. Die statt ewigen Frieden nur
Kriegsapologie bietet. Die an die Stelle der Idee einer Gleichheit die Idee
einer rassischen Ungleichheit liefert, also eine Anthropologisierung und
Naturalisierung der Gesellschaft. Daher die Frage, wie man da herauskommt.
Meine Aneignung von Marx hat lange gedauert, gerade wegen der Frage, wie man
das aufgrund des o.g. Problems heute weiterentwickeln kann. Die Kritik der
politischen Ökonomie von Marx liefert mit der Krisentheorie und der
Theorie vom Fetischcharakter der Ware einen Schlüssel, um diesen
Strukturwandel vom Liberalismus zum Imperialismus zu begreifen. Also die vorhin
genannte Naturalisierung der Verhältnisse, die auf der einen Seite den
Fetischcharakter der Ware radikalisiert, und auf der anderen Seite auch dazu
führt, dass das, was noch im liberalen Warenfetischismus vorhanden ist
nämlich die Idee eines ewigen Friedens, eines Wohlstands der
Nationen usw. , verloren geht. Dann habe ich mir, von Korsch und
Lukács ausgehend, angesehen, was Rosa Luxemburg dazu formuliert hat, die
den Übergang vom Liberalismus zum Imperialismus auf der Ebene der
Zirkulation untersucht; Zerstörung der Zirkulation heißt dann auch,
wenn man einen Rückgriff auf den ersten Kapital-Band macht, dass mit der
Zirkulation auch die Zirkulationsutopien kassiert werden. Während der
Zweiten Internationale wurde auf der einen Seite der erste Kapital-Band
unproblematisiert durchgegangen. Aber der zweite Kapital-Band ist der
Gegenstand der Imperialismuskritiker gewesen, die teilweise versucht haben, die
Marxschen Reproduktionsschemata zu verbessern, indem sie eine bessere
Berechenbarkeit lieferten und Marx gewissermaßen
Rechenfehler nachwiesen und das so interpretierten, als könnte man
die Reproduktionsschemata so auffassen (was Marx im Übrigen auch selbst
macht), dass das, was dort kapitalistisch beschrieben wird, auch
übertragen werden kann auf eine sog. geplante oder rationale Gesellschaft.
Meine Intention war es, dass man diesen Marxismus nach Marx kritisiert, indem
man einerseits begreift, dass das eine notwendige und plausible Kritik an der
Zeit des Imperialismus war, was aber auch dazu geführt hat, diese
imperialistischen Verdinglichungen noch zu fixieren, woraus auch der orthodoxe
Marxismus entstanden ist, der sich auf die Produktivkraftentfaltung
konzentriert und sich so zu einer Idee des Vereins freier Menschen als einer
bürokratisierten Gesellschaft zuwendet. Mein Interesse an der Kritischen
Theorie ist dann vor allem das gewesen, dass sie in den
dreißiger/vierziger Jahren genau dies zum Thema gemacht und aufgebrochen
hat (z.B. in der Dialektik der Aufklärung), ich denke dadurch auch
im Anschluss an Lukács diesen revolutionären Gehalt nicht
der instrumentellen Vernunft der Produktivkraftentfaltung, sondern der
Dialektik mit eingebracht hat. Deswegen hat mich in meiner Dissertation
über Das Problem des Anfangs in der Kritik der Politischen
Ökonomie immer der Zusammenhang zwischen dem Grundbegriff Arbeit und der
dialektischen Darstellungs- und Forschungsweise bei Marx interessiert,
nämlich unter dem Gesichtspunkt der Aufklärung und
Weltveränderung. Nach meinem Dafürhalten liegt darin der einzige
Schlüssel, diese Theorie auch als auf eine soziale Revolution gerichtete
zu begreifen.
Was den Umschlag des Fetischismus in den autoritären Staatskapitalismus
betrifft, gehst du davon aus, dass die kapitalistische Krisendynamik
stillgestellt wurde oder ist sie virulent geblieben? Ich spiele auf die Debatte
zwischen Pollock und Neumann an, da du dich in deinem Imperialismus-Buch ja gar
nicht auf Neumann, sondern explizit auf Pollock (und auch Horkheimer) beziehst,
der ja stark gemacht hat, dass der Nationalsozialismus eine neue Ordnung'
war, in der die Dynamik des Werts und damit die Krisen stillgestellt
waren.
Was ich bei dem, was Horkheimer und Pollock über den
autoritären Staat geschrieben haben, schlüssig finde, ist der Begriff
des Widerspruchs, der seine Ausprägung erhält in der Darstellung von
Krisen einerseits und von Klassenwidersprüchen andererseits, also dass
dieser Begriff, wie er klassisch bei Marx vorhanden ist, bei der Anwendung auf
den Nationalsozialismus problematisch wird, weil dieser Widerspruch sich immer
auf das Verhältnis von Identität, sprich Wert, und Nichtidentischem,
sprich Gebrauchswert, bezieht. Die Kritische Theorie geht davon aus, dass diese
Widersprüche nicht eliminiert, sondern verdunkelt sind, also dass diese
liberal-kapitalistische Krisenproblematik in dieser Weise nicht mehr existiert.
Wenn man davon ausgeht, dass beim Fortgang vom Liberalismus zum Imperialismus
die Fetischisierung der Verhältnisse radikalisiert wird, dass also
gesellschaftliche Verhältnisse total naturalisiert werden, dann ist der
Widerspruch von Gebrauchswert und Wert nicht eliminiert, aber so egalisiert,
dass der Geist des Widerspruchs gegen widerspruchsvolle Verhältnisse
schwerlich erwachen kann. Das, was daran als Fragestellung zwingend ist, ist
das, was Lukács um 1923 noch von einer Krise erwartet hat, nämlich
dass sie zur praktischen Kritik führt, dass die Alternative bestünde
zwischen einer sozialen Revolution oder einer Katastrophe, dass dies durch den
Nationalsozialismus 1933, also durch den Ausgang der Krise nicht in eine
Revolution, sondern in eine konformistische Revolte, beantwortet wurde. Dieser
Umschlag: dass Marx um 1848 und 1857 noch eine revolutionäre Praxis als
Antwort auf eine allgemeine Krise erwartete, dass1933 aber eine wie
Horkheimer sagt konformistische Revolte resultierte, das ist
aufzuklären. Die Frage ist also, inwiefern der Zusammenhang zwischen
Darstellung und Aufklärung eines Widerspruchs in den Verhältnissen
und eines Widerspruchs gegen die Verhältnisse verändert ist,
inwiefern dies eingeebnet ist. Warum führt diese Krise zum Konformismus
und nicht zum Widerspruch? Das ist die Frage, die 1933 von 1848 oder 1867
unterscheidet, als Marx das Vorwort zur zweiten Auflage des Kapitals
geschrieben hat, in dem steht, dass er hofft etwas süffisant
, dass die aufkommende Krise dem Bürgertum Dialektik einpauken
würde. Das konnte man natürlich 1933 nicht mehr sagen. Und das ist
das, was man zu erklären hat: Warum es angesichts einer realen
Widerspruchsgesellschaft und -ökonomie nicht zur Kritik kommt und die
Krisen nicht mehr die gesellschaftliche Sprengkraft haben wie im 19.
Jahrhundert. Da ist eine Lesart angemessen, bei der man nicht einfach sagen
kann, ich schlage das Kapital auf, lese es und tue so, als sei seitdem
nichts passiert, sondern es sind wirtschafts- und sozialgeschichtlich
die von Lukács auch erwarteten Katastrophen` eingetreten
in der politischen Geschichte ebenso, in der Theoriegeschichte
infolgedessen auch. Man kann nicht so tun, als hätte man ein
jungfräuliches Buch vor sich und würde nun mit Marx unterm` Arm die
Krise von 1933, den Nationalsozialismus und den Antisemitismus begreifen
können. Es kommt drauf an, die Widersprüche bei Marx selbst, die
reichlich vorhanden sind und woran ja die ganze Marx-Exegese und -Philologie
sich abarbeitet, nicht eliminieren zu wollen, sondern aus der Zeit zu
bestimmen. Und da finde ich bis heute sehr lehrreich ohne dass dies auch
ein unproblematisches Buch wäre die Kritik der politischen
Ökonomie aus der Perspektive der Dialektik der Aufklärung
zu lesen. Sich also die Marxsche Kritik anzueignen, die Kritik des Liberalismus
und den Liberalismus selbst in seiner Kontinuität zum Nationalsozialismus
zu begreifen und diesen Zusammenhang zwischen Aufklärungsdialektik und der
Kritik der politischen Ökonomie sich zu erklären. D.h., dass man, wie
ich es in meinen letzten Büchern gemacht habe, wenn man über eine
Gesellschaft schreibt, sie kritisiert und dabei diese Klassiker rezipiert, die
eigene gesellschaftliche Situation, in der man diese Klassiker rezipiert,
selber noch einmal reflektiert. Wenn man das nicht macht, dogmatisiert man
diese Bücher und nimmt ihnen gerade das, was man daraus entwickeln kann.
Wenn man das als historisches Dogma macht, kann man mit Marx alles belegen und
machen, wie es z.B. schon die Marxisten zu seiner Zeit gemacht haben: Aus
seiner Geschichtstheorie eine übergeschichtliche Theorie zu machen. Das
ist genau das, was die Marxphilologie macht, die Marx nicht aus seinem
Forschungsprozess begreift, sondern die versucht, ein Buch, was im Fluss ist
(analog zum Gesamtwerk, das als solches ein Fragment ist), ein
Schlüsselwerk zu machen, als könne man mit nur einem Buch
schlussendlich fertig werden. Das ist eine Omnipotenzphantasie, das ist die
theoretische Liquidierung der Geschichte, der Idee der revolutionären
Weltveränderung im Interesse einer Humanisierung der Welt. Wenn man
glaubt, man würde ein Buch schreiben oder ein früheres Buch nehmen
und daraus eine Theorie machen, die als Theorie abgeschlossen ist. Jede
Theorie, die auf eine Humanisierung der Welt abzielt, ist wie Horkheimer
sagt unabgeschlossen, solange vernünftige Verhältnisse nicht
verwirklicht sind. Wären sie verwirklicht, bräuchte man keine
Gesellschaftstheorie, die die bewußte Gesellschaft erklärt. In
diesem Sinne habe ich in meinen Büchern versucht, den marxschen
Forschungsprozess zu verdeutlichen und auch den Übergang vom Liberalismus
zum Imperialismus und jetzt zum Neoliberalismus zu rekonstruieren also
die historische Kontinuität, die vom Liberalismus zum Neoliberalismus
führt. Dazu konnte die Kritische Theorie natürlich nichts mehr sagen.
Adorno ist 1969 gestorben und der Neoliberalismus kam wirtschafts- und
gesellschaftspolitisch frühestens 1973/1975 auch wenn er
theoretisch längst formuliert war.
Um auf die aktuelle Krisensituation zu sprechen zu kommen: Eine wesentliche
These deiner Bücher, vor allem des Imperialismus-Buches, ist ja, dass sich
mit den Krisen jeweils grundlegende Umbrüche des Kapitalismus vollzogen.
In der Großen Depression 1873-1879 brach der Liberalismus zusammen und
ein organisierter Kapitalismus, der Imperialismus entstand daraus. Und als sich
dann 1929f. wieder eine Krise entwickelte und sich einerseits in den USA der
New Deal als Krisenlösung abzeichnete und andererseits die völkische
Ökonomie in Deutschland. Siehst du in der aktuellen Krise die
Möglichkeit eines ähnlich grundsätzlichen Bruchs in der
kapitalistischen Produktionsweise oder hat sie diese Durchschlagskraft nicht?
Und in welche Richtung könnte der Wandel sich vollziehen?
Bei der jetzigen Krise gilt, was für die vorangegangen der letzten 70
Jahre auch gilt: Der Zusammenhang zwischen Widerspruch in der Sache und
Widerspruch gegen die Gesellschaft ist in der Form wie im 19. Jh. nicht
vorhanden. Ich würde nicht erwarten, dass sie in irgend einer Form
emanzipatorisches Potential hat. Es wird eher das passieren, was Horkheimer
ganz treffend eine konformistische Revolte genannt hat. Wobei es dabei
zwei Ausgangsmöglichkeiten gibt. Entweder man unterstellt, dass das
Individuum in einer Masse untergeht; man kann auch unterstellen und das,
denke ich, ist im Neoliberalismus wahrscheinlicher , dass das Individuum
in einem totalen Individualismus untergeht, so wie es Adorno in den Minima
Moralia beschreibt: dass das Ende des Individuums auch vollzogen werden
kann durch eine total individualistische Gesellschaft. Das wäre das eine,
was ich für diese Krise erwarte.
Das zweite, was diese Krise betrifft, ist: sie ist keine, die in irgend einer
Form zu einer nach-neoliberalen Ordnung führt. Diese Krise ist eine der
ersten Phase des Neoliberalismus, in der versucht worden ist, gegenüber
dem alten Staatsinterventionismus die ehemaligen staatlichen Regulierungen,
also Steuerungen über den Sozialstaat unter dem Stichwort Deregulierung
abzubauen. Man muss begreifen, dass der Staat paradoxerweise seine staatlichen
Regulierungen zurücknehmen wird. Es ist ja ein administrativer Akt. Der
Wettbewerb hat sich ja nicht automatisch durchgesetzt, als eine organische
Entwicklung, sondern durch administrative Deregulierung. So gesehen braucht man
den Staat für die Deregulierung. In der neoliberalen Theorie ist immer
gesagt worden, dass der Wettbewerb, wenn er jenseits des
Staatsinterventionismus realisiert wäre, immer eine zusätzlich durch
sog. Re-Regulierung künstlich vollzogene Einrichtung sein muss, weil wir
seit 120/130/140 Jahren ein hochkonzentriertes Kapital, mit transnationalen
Konzernen usw., haben und keine Ökonomie von Kleinunternehmen auf einem
überschaubaren Markt. Diese Deregulierungen allein führen nicht zum
funktionierenden Wettbewerb, weil man Oligopole hat und eben keinen Wettbewerb.
Wenn man angesichts dieser Situation aber Wettbewerb erzeugen will, kann man
ihn nur haben, indem der Staat Regeln dafür setzt und durchsetzt, die
angesichts dieser Kapitalkonzentration diesen Wettbewerb als administrativen
und künstlichen installieren. Deshalb ist diese Krise der Übergang
von einer Phase der neoliberalen Deregulierung zu einer neoliberalen
Re-Regulierung. D.h., man wird eher erwarten, das auf nationaler und
schwerpunktmäßig auf supranationaler Ebene also in Europa
innerhalb der EU und auf globaler Ebene durch das, was man global
governance nennt, also IWF, Weltbank und ähnlichem, versucht, diesen
freien Kapitalverkehr unter Wettbewerbsregeln zu zwingen, damit er diese
Naturwüchsigkeit auf der einen Seite und die oligopolen Strukturen auf der
anderen Seite nicht mehr hat. Die Hoffnung der neoliberalen Theoretiker ist
die, dass man durch die Re-Regulierung einen Wettbewerb schaffen kann, bei dem
die Einzelnen die man unter der Voraussetzung, dass man die
Verhältnisse insgesamt gar nicht erkennen kann für die
Funktion und Disfunktion des Ganzen verantwortlich sind. Dadurch kommt es zum
Gerede um die berüchtigte Gier, die die Manager, die amerikanischen
Hausbesitzer und die Konsumenten insgesamt befallen haben soll. Diese Gier will
man nun unter die Regeln einer Wirtschaftsethik setzen und gleichzeitig mit
dieser Re-Regulierung wieder feste Regeln schaffen, nachdem die Einzelnen
wieder zweckrational handeln können.
Man wird eher erwarten können, dass das Wettbewerbskonzept, das bisher bei
den Deregulierungen geherrscht hat, eher noch durch solche Re-Regulierungen
radikalisiert wird es wird nicht aufgehoben werden. Das einzige, was
vielleicht eine gewisse Sprengkraft aber in der falschen Richtung
haben könnte: wenn der Staat und die supranationalen Institutionen in der
Form eingreifen wie es im Moment passiert und es nicht zur
Politisierung ökonomischer Widersprüche, sondern zu deren
Individualisierung und Verschärfung kommt. Dass in einem enormen
Außmaß finanzielle Interventionen stattfinden, die über kurz
oder lang bezahlt werden müssen. Wenn dies so ausgeht, wie ich es vermute,
wird es nicht im allgemeinen bezahlt, sondern durch weiteren Sozialabbau. Ich
würde eher erwarten, dass, wenn diese Krise überwunden sein wird
und in irgend einer Weise wird sie bald überwunden sein , die
enorm gestiegene Staatsverschuldung die es nach neoliberalem Dogma gar
nicht geben kann (wegen der postulierten, ausgeglichenen Staatshaushalte)
, dazu führt, dass man auf der einen Seite gezielte
Steuererhöhungen und auf der anderen Seite weiteren Sozialabbau sehen
wird. Mir ist vor wenigen Monaten eine Mitteilung der Universität Chemnitz
aufgefallen, die besagte, dass Professoren errechnet haben, dass der Mensch gar
nicht die Hartz-IV-Regelsätze von 347 Euro benötigt, sondern dass man
auch mit 150 Euro auskommen kann. Das könnte man schon als Beginn der oben
beschriebenen Prognose bezeichnen. Wobei man bei den bisherigen Erfahrungen mit
Arbeitslosigkeit und Armut ganz sicher sein kann, daß sich daraus keine
Revolten ergeben im Sinne sozialistischer Ideen , sondern eher
steigender Konformismus. D.h. ich erwarte, dass die soziale Ungleichheit noch
mehr Anpassung nach sich ziehen wird, also einen steigenden gesellschaftlichen
Autoritarismus.
Welches Potential, denkst du, hat heute der Antisemitismus für eine
Krisenlösung, gerade hinsichtlich der Funktion des Antisemitismus in der
deutschen Krisenlösung im Nationalsozialismus?
Im Nationalsozialismus ist das relativ eindeutig zu beschreiben, was allerdings
die gegenwärtige Krise betrifft, ist das schwieriger. Die neue Ordnung
präsentiert sich oberflächlich, und theoretisch wird das auch
dargestellt, als wie Habermas das bezeichnet neue
Unübersichtlichkeit; das ist übrigens eine theoretische
Bankrotterklärung, eine Verdoppelung der bewußtlosen
Verhältnisse. Die neue Unübersichtlichkeit könnte man auch neue
Unbegreiflichkeit nennen. Wenn wir tatsächlich so eine Ordnung haben, ist
die Konsequenz, dass man eine solche Krise individualisiert, also auf das
Individuum projiziert das entspricht der klassischen
Antisemitismustheorie von Fromm, Horkheimer, Adorno, Fenichel. Die
Verinnerlichung sozialer Herrschaft, Selbstunterdrückung, Masochismus,
Sadismus, kurz: der autoritäre Charakter. Das wäre die eine Seite.
Was zum anderen mit antisemitischen Einstellungen zu tun hat, ist, dass sich
diese Ordnung nicht nur undurchschaubar, sondern auch dogmatisch gibt. D.h. der
Neoliberalismus hebt die klassisch liberale Idee auf, dass der Fremde als
Fremder eigentlich brüderlich als Bürger dieser Weltgesellschaft zu
betrachten ist und nicht als Feind. Diese Aufhebung, sich im Anderen selbst zu
spiegeln und zu reflektieren macht den Neoliberalismus auf Subjektebene aus, so
dass alles, was fremd ist, auch immer als Feind gesetzt werden kann. Das ist
ein Ausdruck davon, dass jede Form von Selbsterkenntnis durch Selbstreflexion
im Andren nicht mehr vorhanden ist. Diese Gesellschaft wird tatsächlich zu
dem, was Hayek gesagt hat: Zu einem sozialdarwinistischen Kampf aller gegen
alle und das der Wettbewerb im Kern nichts anderes ist. Für Hayek bedeutet
das, dass soziale Integration nicht wirklich in kosmopolitischen Normen folgt,
sondern in diesem Kampf; vom Kleinstphänomen (z.B. der
Zulassungsbeschränkung an einer Universität) bis zur mangelnden
Solidarität mit Entwicklungsländern. Das überhaupt die Idee der
Solidarität und der Kosmopolitismus insgesamt verloren geht, oder wenn man
es christlich ausdrücken will: Dass so etwas wie Nächstenliebe nicht
mehr vorhanden ist.
Die mangelnde Selbsterkenntnis, damit einhergehende Selbstunterdrückung
und Verinnerlichung von Herrschaft, führt zunehmend dazu, dass die Welt
gespalten wird in Sieger und Verlierer, Freund und Feind.
Selbstunterdrückung ist Anpassung, ist die Konstitution einer
konformistischen Gesellschaft, die Fremdes ausschließt. Dieses Fremde
fungiert als Projektionsfläche im Doppelsinn: es muss die
unterdrückten eigenen Bedürfnisse repräsentieren, die am Fremden
sadistisch bekämpft werden, und es muss die Herrschaft
repräsentieren, unter der man bewusstlos leidet. Die konformistische
Revolte enthielt diese widersprechenden Tendenzen. Sie verbindet den Aufstand
gegen Herrschaft mit der Bekämpfung eigener utopisch gerichteter
Bedürfnisse, so dass alles beim Alten bleibt. Das ist durchaus das, was in
den Studien zum autoritären Charakter als grundlegend für
Antisemitismus beschrieben wird, ohne dass man sagen muss, dass als Feind nun
wieder der Jude fungiert. Aber die Einstellung, die einmal den Juden zum
Juden gemacht hat, die reproduziert sich im Neoliberalismus, aber es wird eine
andere Ausprägung geben, da ganz schlicht gesagt die
Geschichte sich nicht wiederholen wird. Aber diese pathische Projektion
gesellschaftlicher Strukturen auf Individuen, das ist schon da.
Übrigens ist die Frage nach einer Wahlverwandtschaft von
Nationalsozialismus und Neoliberalismus schon deshalb naheliegend, weil Hayek
1944 in seinem Buch Der Weg zur Knechtschaft den Neoliberalismus als
Gegensatz zum Nationalsozialismus darstellt. Abstrakte Gegensätze
implizieren aber immer, wie Hegel gezeigt und Freud gesagt hat, eine
Wiederkehr des Verdrängten. Aber eine Wiederkehr ist keine
Wiederholung. Manfred Frank hat einmal zutreffend gesagt, man könne die
Opfer beleidigen, wenn man die Differenz von verbrecherischer Vergangenheit und
Gegenwart leugnet, man könne sie aber auch beleidigen, wenn man die
Kontinuitäten unterschlägt und die Gegenwart nicht als
gegenwärtige Vergangenheit aufklärt.
Eine andere Frage, die sich stellt, aber im Buch nicht direkt angesprochen
wird, betrifft das Geschlechterverhältnis. Du beschreibst, dass der
Liberalismus eine vernünftige Gesellschaft versprach, im Gegensatz zu dem,
worin er dann umschlug. Er hält zwar Ausbeutung und Herrschaft aktuell,
aber eben in versachlichter und verdinglichter Form, was ein Vorteil zumindest
gegenüber vormodernen Verhältnissen darstellt. Wie ordnest du vor dem
Hintergrund in der Zeit des Liberalismus das patriarchale Verständnis von
Frauen und das Geschlechterverständnis ein? Ist das eine Form, in der
sich nicht das direkte Ausbeutungsverhältnis erhalten hat? Kannst du
Aussagen darüber machen, wie das im imperialistischen Verständnis
umgeschlagen ist, z.B. bei Nietzsche oder Weininger, wo offener Frauenhass
propagiert wird?
Ich würde sehr scharf unterscheiden zwischen den sozialen
Utopien, die der Liberalismus formuliert, und dem, was dann im Umschlag dieser
Utopien und ihrer bürgerlichen Verwirklichungen passiert. Da kann man
sagen, wenn man es empirisch nimmt, dass diese liberalen Versprechungen nur
für einen sehr kleinen Prozentsatz der Gesellschaft gelten. Der
Bürger, für den Freiheit, Gleichheit und Vernunft gefördert
werden, ist erstmal der Bürger, der über Eigentum und Bildung
verfügt. Empirisch ausgeschlossen ist bei liberalen Theoretikern immer zum
einen das Kind, von dem gesagt wird, es ist nicht im Alter der Vernunft; ebenso
sei die Frau nicht bei Vernunft und Verstand. Weiterhin wird die Arbeiterklasse
von der bürgerlichen Freiheit ausgeschlossen. Die drei werden gemeinsam
unterdrückt, ausgebeutet. Die Kinder vor allem, dann die Frauen, endlich
die proletarisierten Handarbeiter. Wenn man den englischen
Industriekapitalismus, also den losgelassenen Liberalismus in der Ökonomie
nimmt, ist es so, dass relativ lange Zeit die Ausbeutung sich konzentriert hat
auf Frauen und Kinder, weshalb im 19. Jahrhundert die Frage der Emanzipation
der Frau zusammengedacht wird mit der Emanzipation der Kinder und der
arbeitenden Klasse. Und deshalb ist auch die Frauenbewegung jenseits der
bürgerlichen Frauenemanzipation ein Teil der sozialistischen Bewegung
gewesen. In dem Moment, in dem die liberalen Versprechungen nicht mehr
vorhanden sind und die liberale Herrschaft wirklich positiv wird im
Imperialismus, also zu einer Ideologie, die überhaupt nichts mehr
verspricht, werden diese Unterschiede, die im Liberalismus empirisch vorhanden
sind, nochmals naturalisiert und daraus entsteht dann ein regelrechter Hass.
Klassenverhältnisse werden in Rassenverhältnisse umdefiniert und es
verstärkt sich der Hass auf die Frauenemanzipation, die ja unter dem
Liberalismus beginnt und notwendig sozialistisch werden musste, weil das
Geschlechterverhältnis immer weiter naturalisiert wurde. Man kann es auch
Remythologisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse nennen, weil
sich eine Arbeitsteilung entwickelt hatte, die man schon in der Antike hatte:
Die Frau ist im Haus und leitet das Innere, während der Mann das Haus nach
außen vertritt. Das führte dazu, dass die Frauenbewegung sich gegen
die bürgerliche Gesellschaft gerichtet hat, sich dagegen richten musste.
In dem Kontext müsste man also Charles Fourier zustimmen, der ja die
Emanzipation der Frau als Motor gesamtgesellschaftlicher Emanzipation gesehen
hat?
Ja, ganz sicher.
Kannst du kurz umreißen, was die Aufgaben kritischer
Gesellschaftstheorie heute sind und ob du die Perspektive einer positiven
Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise hast.
Letzteres weiß man erst, wenn es passiert ist. Revolutionen haben den
Vorteil, dass man sie nicht prognostizieren kann. Das wäre Sozialtechnik
und damit würde man eine Revolution zum bürokratischen Akt machen.
Das kann man in der Geschichte gut sehen, dass wenn eine Gesellschaft als
unveränderlich erklärt wird, sich diese Aussagen wenige Zeit
später blamieren. Im Osten Deutschlands hat man das auch lange gedacht,
bis zum Oktober 1989: Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs
noch Esel auf. Und in Westdeutschland gab es nach dem November 1989 die
Hoffnung, dass in der DDR eine große Protestbewegung entstehen
könnte wenn es schon im Westen nicht klappt, dann wenigstens im
Osten. Dann ist es doch anders gekommen, es ist eben beides nicht eingetreten.
Dafür gab es die Wiederkehr des Verdrängten. Oder in
Südafrika, viel hoffnungsvoller, die Abschaffung des Apartheidregimes. Das
ist nicht prognostizierbar. Das kann man hoffen und deshalb versucht man ja
auch, sich mit Kritischer Theorie auseinanderzusetzen, das zu verbreiten,
kritische Aufklärung zu betreiben. Also in irgendeiner Form das zu
betreiben, was man so lax politische Arbeit nennt: die Welt zu erkennen, damit
sie human geformt wird durch eine weltverändernde Praxis. Das ist aber
nicht so einfach gegeben.
Was die Aufgaben einer Kritischen Theorie im Moment betrifft, bin ich relativ
skeptisch. Ich denke, es ist schon relativ lange so mindestens seit den
20er Jahren des letzten Jahrhunderts, also beinahe seit 100 Jahren , dass
man, wenn man Kritische Theorie betreibt, sich eigentlich betrügt, wenn
man davon ausgeht, daß sie Teil einer weltverändernden Praxis ist.
Das ist sie nicht. Wenn man feststellt und auch begründen kann, warum die
Krisen zu einem Konformismus führen, also nicht zu einem emanzipatorischen
Widerstand, dann ist die Aufgabe einer Theorie eigentlich erst die, noch
Utopien und Traditionen zu bewahren, die in dieser Gegenwart verleugnet sind
und verspottet werden. Auf das Denken in Deutschland bezogen heißt das
insbesondere, die Tradition der jüdischen Denkerinnen und Denker, die wir
hier haben, doch zu bewahren und nicht verloren gehen zu lassen. Das ist
außerordentlich wichtig, auch angesichts der gegenwärtigen
Hochschulveränderung, weil man sehen konnte, dass der NS, außer dass
er viele Intellektuelle umgebracht hat, auch dazu geführt hat, dass das
kritische und utopisch gerichtete Denken ganz lange verloren gegangen ist, sich
auf kleine Zirkel beschränkt hat, und es galt, die Tradition des 19.
Jahrhunderts der dialektischen Aufklärung, der Perspektive auf Freiheit
und Vernunft sich wieder anzueignen. Dies geht an den Universitäten, auf
denen es ohnehin nur in Nischen vorhanden war, ganz verloren, die Nischen
werden beseitigt; es sind schon lange keine Aufklärungs-, sondern
Reproduktions-Universitäten, die nichts anderes machen, als Menschen auf
das Auswendiglernen, Pauken und Evaluieren auszurichten und nicht auf
Selbstdenken und schon gar nicht auf Kritik. Es hilft auch nicht, vergangenen
Zeiten nachzutrauern: auch die Humboldt-Universität bildete die
Studierenden zur Isolierung von der entfremdeten Welt zu einer
bloß inneren Freiheit bei äußerer Anpassung. Die neue
Wettbewerbsuniversität erzieht angepaßte Menschen, autoritäre
Charaktere, keine denkenden Menschen. Dies ist ein Verlust gegenüber den
alten Nischen, den man nicht einfach in fünf oder zehn Jahren ändern
kann. Deshalb ist im Moment das wichtigste für eine kritische Theorie, der
Zerstörung dieser Denktraditionen entgegenzuwirken und sie zu bewahren.
Nicht als museale Bewahrung, sondern um die Gegenwart begreifen zu können
und in irgendeiner Form kritisieren und überschreiten zu können. Das
ist ihre Aufgabe, ob sie es will oder nicht, da sie von einer
weltverändernden Praxis isoliert ist, die es sowieso gerade nicht gibt.
Mir fällt da immer der schöne, uridealistische Satz von Hegel ein,
den er 1808 formuliert hat: Er würde sich täglich überzeugen,
dass die theoretische Arbeit mehr in der Welt zustande brächte als die
praktische, und wenn das Reich der Vorstellungen revolutioniert sei, würde
die Wirklichkeit dem nicht standhalten.
Das könnte heute, angesichts des Ausbleibens und der Unmöglichkeit
einer weltverändernden, emanzipatorischen Praxis, wieder so sein. Wenn man
sich als kritischer Theoretiker begreift, wäre es Selbstbetrug, wenn man
sich ein Proletariat oder irgendein anders weltveränderndes Subjekt
zurecht konstruiert. Das ist ein Betrug über diese Realität und
verrät die Kritik an diesen Verhältnissen. Das wäre
Hoffnungslosigkeit unter dem Deckmantel der Hoffnung.
Vielen Dank!
Das Interview führte Martin Dornis