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Aktuelles Heft

INHALT #170

Titelbild
Editorial
• das erste: Vereint im deutschen Geist der dialogbereiten Toleranz
Oaklands Seele
Codes in the Clouds, Pg.lost
Shuffle Me!
Prolls mit Verstand
Apoptygma Berzerk
Paradise Lost, Samael, Ghost Brigade
Dritte Wahl
Sechs Jahre ITS YOURS! Party
Vadim Imaginashun-Tour
The Living End
Miss Platnum
Friska Viljor
US Bombs
The Adicts
Jochen Distelmeyer
Fucked Up
Hot Water Music
Imperial Never Say Die! Club Tour 2009
electric island: KANN & friends
Masta Ace
Muff Potter
A Storm of Light, Minsk
Full Speed Ahead, Backfire
• ABC: E wie Emanzipation
• review-corner platte: Ja! Ich rede gern mit mir selbst!
• kulturreport: Like a virgin?
• doku: Post aus Honolulu
• doku: Über Fundamentalkritik und die feinen Unterschiede
• doku: Watch out for a new generation to push things forward!
• doku: Radio Blau von Abschaltung bedroht
• leserInnenbrief: Mit Schaum vor dem Mund
Anzeigen
• das letzte: 100 Zahnstocher inkl. Gebrauchsanweisung

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Mit Schaum vor dem Mund

Einige Anmerkungen zum Text: „20 Jahre antideutsch-antifaschistischer Widerstandskampf“

Streitbare Positionen sind bekanntlich die besten, weil über sie zu reden ist. Zugleich setzt man sich damit der Gefahr aus, missverstanden zu werden. Was allerdings im Text „20 Jahre antideutsch-antifaschistischer Widerstandskampf“ zu lesen war, ist weniger als streitbar einzuordnen. Vielmehr schillert der Text zwischen billiger Polemik und einem Bewerbungsschreiben für die FDP. Bitter ist dies deshalb, weil der gesamte Text auf Unterstellungen und bewusst eingebauten Missverständnissen basiert. Und es macht den Eindruck, dass hier der Argwohn regiert hat. Zufall oder gar Unkenntnis ist zumindest unwahrscheinlich.

Im Einzelnen: Wenn der Autor zu Beginn des Textes die Vorzüge bürgerlicher Freiheit aufzählt und u.a. seine eigene Studiendauer als Argument in Anschlag bringt, bleiben zwei Tatsachen unerwähnt. Erstens: geschenkt. Niemand würde diesen Vorzügen der bundesdeutschen Demokratie widersprechen, auch nicht die Organisatoren der Kampagne „Still not lovin` germany“. Zweitens: Die erwähnten Vorzüge, beispielsweise das lange Studium, das „ungeregelte Arbeitsleben“ usw. gelten nicht für alle. Die Scheuklappen bildungsbürgerlicher Privilegien haben beim Autor offenbar jeden Blick für die Realität verstellt. Die erwähnten Vorzüge gelten nur für jene, die das entsprechende kulturelle und finanzielle Kapital mitbringen. Sie abzufeiern, bedeutet also nichts weiter, als die eigene privilegierte Position zu verteidigen und jede gesellschaftskritische Position, die geradezu danach verlangt, nicht nur die eigene Haustür und das eigene Konto zu betrachten, im gleichen Moment über Bord zu werfen.

Das bereits erwähnte „geschenkt“ greift auch für den folgenden Teil des Textes. Nach meiner Beobachtung einiger Veranstaltungen bestreitet keine der dem AK 09 angehörenden Gruppen, dass es mit der DDR nicht weit her und nach ihr zu rufen glatter Unsinn ist. Weil dem Autor mit dem Aufruf oder sonstigen Schriften keine zählbaren Textpassagen zur Hand waren, musste er alte Register ziehen und die beiden Schwarzbücher benennen, die aber auch nichts mit der Kampagne zu tun haben. Dann wird gleich noch zusammen mit dem AK 09 INEX verhaftet, die ja sorglos die Totalitarismustheorie anfeindet. Es gibt einen unübersehbaren Unterschied zwischen einem zeitgenössischen Extremismusbegriff, der auf spezifische (und zugleich billige) Weise Ordnung ins politische Chaos bringt und einem Werkzeug zur historischen Analyse, wie es der Totalitarismusbegriff (präzise angewendet) darstellt. Hier riecht es sowohl nach Unkenntnis als auch nach fataler Sippenhaft. Übrigens: Wann „Radikale Linke“ an der Macht gewesen sein sollen, bleibt des Autors Geheimnis. Die DDR-Staatsregierung so zu bezeichnen und damit anzudeuten, heutige Linke kämen aus dem gleichen Stall, ist grob fahrlässig und historisch rundum blödsinnig. Was hat Erich Honnecker, die alte vaterlandstreue Dachlatte, mit einem mithin antideutschen, radikalen Linken im Jahr 2009 zu tun?

Es kommt noch dicker. Fraglos ist die BRD nicht mehr jene volksdeutsche Gemeinschaft, als die sie einst an den Start gegangen zu sein glaubte. Niemand bezweifelt das, und niemand ist traurig darüber. Von dieser Einsicht aus allerdings, die Kritik an den deutschen Zuständen, an Ausgrenzung, Abschiebung, Benachteiligung usw. fallen zu lassen und gar wild psychologisierend zu unterstellen, dass wir doch alle „insgeheim“ froh über die EU-Außengrenzen sind, ist eine fatale und ungeahnt herablassende bzw. selbstgerechte Position. Sicher, aus dem gemachten bildungsbürgerlichen Nest mag dies alles genau so aussehen, es sagt schließlich mehr über den Autor selbst aus, als über angenommene linke Zustände. (Nebenbei: Solche Argumentationen im Sinne eines „Eigentlichen“, dass man nur nicht zuzugeben sich traut, sind altbekannte Schleifen, die immer dann kommen (müssen), wenn die eigene Position einem unheimlich wird und man sich damit im eigenen sozialen Milieu einsam fühlt...)
Ist es nicht gerade die Stärke einer linken Position über die eigene, konsumgesättigte Perspektive hinaus zu gehen? Freilich geht es den meisten Linken sozial und finanziell relativ gut. Man muss hier noch nicht einmal die Geste für die Ausgebeuteten in aller Welt bemühen (so berechtigt sie sei), vielmehr reicht ein Blick auf die nächstbeste Förderschule beispielsweise, um zu erkennen, dass es nicht alle Menschen so leicht haben, wie der Autor selbst und dass es deshalb auch nicht an der Zeit ist, die Zustände in der BRD zu feiern.

Wenn der Text dann auf die „historische Urteilskraft“ zu sprechen kommt, haben die nunmehr ideologischen Scheuklappen dem Autor die Sicht offenbar vollständig genommen. Dass AntirassistInnen von 9/11 „düpiert“ wurden, wie eine Fußballerin von einem Beinschuss düpiert wird, ist ein mindestens bizarres Argument. Es soll wohl andeuten, dass viele Linke die Welt und ihre Problemlagen falsch interpretiert hatten und es bis heute nicht merken. Wenn man sich unbesehen auf die massenmediale Repräsentation der Welt und ihrer „Krisenherde“ einlässt, mag es so aussehen, als sei der islamische Terrorismus die Gefahr schlechthin. Es wäre müßig, Gegenargumente aufzubauen. Es gibt deren zu viele...

Eine letzte Anmerkung: Der Autor beklagt zurecht, dass die Linke ein Problem hat, ihre Position zu finden. Sie wird zerrieben zwischen den Ideologien des Westens und der historisch gesehen untragbaren Alternative des ehemaligen Ostens. Soweit so gut. Aber wenn dann den durchaus streitbaren Antonio Negri und Michael Hardt in den Mund gelegt wird, sie würden die Gemeinschaft „verherrlichen“ und alles „zerschmettern“ wollen, was sich dieser nicht fügt, wird es dreist und – Entschuldigung – billig. Es stimmt zwar, das die beiden zu einfach Freund und Feind unterscheiden, die Gemeinschaft retten wollen sie deshalb noch nicht. Das Argument geht an Hardt und Negri etwa soweit vorbei, wie die Behauptung, Westerwelle wäre ein ausgemachter Sozialist. (Als kleine Hilfestellung: Mulititude heißt etwa Vielheit und ist durchaus mit Bedacht gewählt.) Zugleich sind die beiden postmarxistischen Autoren die perfekten Pappkameraden, das ideale Beispiel für die ach so schlimme „Postmoderne“, die außer Schaum nichts produziert. Vielleicht ist es an der Zeit, sich den ideologischen Schaum vor dem Mund abzuwischen und sich neben den Klassikern auch Texte jüngeren Datums anzuschauen. Formulierungen wie „postmoderner Begriffsschaum“ gehören zum Topos der Sandkastenspiele, getreu dem Motto: Du hast meine Burg kaputt gemacht, dann mach ich deine kaputt. Es sind Worthülsen, die mehr von einer identitären Suche nach einer intellektuellen Heimat zeugen. Diese Schulendebatten (die Freudomarxisten gegen die Postmodernen gegen die...) sind im Übrigen ein Phänomen des akademischen Mittelbaus, der um Pfründe kämpft. Die jeweils zugeordneten Autoren und Autorinnen geben dafür nur sehr bedingt Anlass, dafür waren sie meistens zu schlau. Schließlich: Was ist eigentlich das Gegenteil von Begriffsschaum? Wahrheiten? Essenzen? Es wäre, um dies abzuschließen, an der Zeit, genau dieses bornierte Schulendenken aufzugeben (und neben Marx und Adorno auch andere, „böse“, postmoderne Texte zu lesen) – nicht nur, um den eigenen Horizont ein wenig zu lüften...

Dr. Benwey

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26.10.2009
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