• Titelbild
• Editorial
• Bilder im Heft
• das erste: An den Stadtrand abgeschoben
• Chuck Ragan, Fake Problems, Digger Barnes
• From Amen to Z
• It’s all about the skit
• RAEKWON
• Station 17
• electric island
• Joker
• Antitainment
• On, Common Cause
• Veranstaltungsanzeigen
• Einladung an alle aktiven Gruppen im und ums Conne Island
• ABC: R wie Rassismustheorie
• review-corner buch: Das Problem heißt: Antiziganismus
• cyber-report: Nenne eine deutsche feministische Linguistin…
• Kunst der Entfesselung
• doku: Still not lovin‘ Germany
• doku: Veranstaltungen
• sport: Ultras Red Bulls
• Anzeigen
• das letzte: Sommerzeit – Reisezeit
2009 ist ein Jahr deutscher Jubiläen. Im Zentrum der Feierlichkeiten stehen
der sechzigste Jahrestag der BRD-Gründung sowie die sich nun zum
zwanzigsten Mal jährende Friedliche Revolution. Für uns gibt
es dabei nichts zu feiern. Und in Leipzig, dem selbsternannten Nabel der
Wiedervereinigung erst recht nicht.
Durch die Beschwörung eines demokratischen und antidiktatorischen
Aufstands im Jahr 1989 wird ein Mythos geschaffen, der dem nationalen Kollektiv
einen positiven Bezug auf Deutschland ermöglichen soll. Die Zelebrierung
einer quasi zweiten aber diesmal durchweg positiv besetzten
Geburt der BRD geht mit der rhetorischen Gleichsetzung von DDR und
Nationalsozialismus einher. Die Deutschen werden dadurch nicht nur zu
bloßen Opfern zweier Diktaturen stilisiert, vielmehr gelingt es
ihnen, sich von der Verantwortung für die Verbrechen des
Nationalsozialismus weiter zu lösen.
So wird im Jubiläumsjahr 2009 die Erzählung von einem
geläuterten Deutschland, das die Lehren aus der Geschichte gezogen habe
und nun als eine bessere Nation mit unbeschwertem Selbstbewusstsein auftreten
kann, aufs Neue bekräftigt. In der vollzogenen Geschichtsklitterung gibt
es selbstverständlich keinen Platz für widersprüchliche oder gar
negative Aspekte, die dem konstruierten Selbstbild entgegen stehen. Im Rahmen
der Wendefeierlichkeiten werden der brutale Anstieg von Antisemitismus und
Rassismus nach der Wiedervereinigung und die bis heute existenten
menschenverachtenden Einstellungen in der Bevölkerung konsequent
verschwiegen. Auch wird kein Wort über den kapitalistischen Alltag und
seine inhumane Verwertungslogik verloren.
Die Revolution ein Mythos
Exemplarisch für die in Deutschland dominierende historische Deutung der
Geschehnisse von 1989 steht der Ruf aus Leipzig. In dem von zahlreichen
prominenten Politikerlnnen anlässlich des Jubiläums unterzeichneten
Aufruf, heißt es: Die Friedliche Revolution und Wiedervereinigung
gehören zu den großen Daten der deutschen Nationalgeschichte und
können die Identität begründen, die einer selbstbewussten
Bundesrepublik im sechzigsten Jahr ihres Bestehens angemessen ist.
Der Herbst 89 findet als ein wesentlicher Teil der demokratischen
Traditionslinie der Bundesrepublik Eingang in die mythologisierte
Geschichtsdeutung, mit der Nationen ihre Existenzberechtigung verliehen
bekommen. Die imaginierte Gemeinschaft ist dabei auf Erzählungen über
ihr Wesen und ihre Geschichte angewiesen, die von charakteristischen Amnesien,
Umdeutungen und Glorifizierungen geprägt sind. So kann Deutschland mit der
Friedlichen Revolution und deren Höhepunkt am 9.Oktober 1989 in
Leipzig seine vermeintliche bürgerliche Revolution vorweisen.
Die Ereignisse von '89 lassen sich dabei weder als vollends friedlich
beschreiben z.B. kam es in Dresden zu mehreren Auseinandersetzungen
noch ist die Bezeichnung dieser Monate als Revolution eine adäquate
Beschreibung der Geschehnisse.
Gerne wird immer wieder behauptet, im Oktober 1989 sei mit dem unglaublichen
Mut der 70.000 Demonstrantinnen ein ganzes System so ins Wanken gekommen, dass
die DDR-Regierung gestürzt und das geteilte Deutschland geeint wurde. In
dieser nationalen Mystifizierung finden weltpolitische Zusammenhänge und
der historische Vorlauf keine Erwähnung. Es wird ausgeblendet, dass die
Sowjetunion sich im Zuge von Glasnost und Perestroika immer mehr aus den
Angelegenheiten der anderen Staaten des Warschauer Paktes raushielt. Das
entstandene Machtvakuum im Ostblock führte zur allmählichen
Loslösung mehrerer Staaten von der Sowjetunion. Auch die vor den
Ereignissen des Herbstes 89 einsetzende Massenflucht sowie die wirtschaftlich
desolate Lage der DDR, die einen nicht unerheblichen Beitrag zu ihrem Ende
leistete, bleiben unerwähnt.
Zugunsten dieser deutsch-deutschen Legende erfolgt keine differenzierte
Darstellung der damals formulierten sozialen und politischen Begehren. Diese
werden maßlos homogenisiert und auf Forderungen nach bürgerlicher
Freiheit und Demokratie reduziert.
Die Anfänge der Protestbewegung waren eher vom Anspruch einer Reform des
bestehenden Sozialismus geprägt, um diesen in einer ökologischeren,
wirtschaftlich leistungsfähigeren und undogmatischeren Weise zu erhalten.
Dass letztendlich einfach die Staats- und Regierungsform der BRD
übernommen wurde, lässt sich schwerlich als Revolution bezeichnen.
Auch das viel gepriesene demokratische Bewusstsein war eher
oberflächlicher Natur. Der Unmut über mangelnde Konsumgüter oder
der mit dem Anwachsen der Demonstrationen einhergehende Ruf nach nationaler
Wiedererweckung, Wir sind ein Volk! -Parolen und die Nazisprüche
werden heute zum Beweis für die Demokratiefähigkeit der Ostdeutschen
verschwiegen.
Deutschland eine Zumutung
Die notwendige Folge des 2. Weltkriegs bestand in der Teilung Deutschlands in
vier Besatzungszonen. Auch wenn daraus zwei deutsche Staaten hervorgingen,
verschwand doch die Überzeugung bei den Bürgerinnen in Ost und West
nie, Teil einer auf Abstammung beruhenden Schicksalsgemeinschaft zu sein.
Aufgrund dieser Überzeugung schlossen sich die Menschen in BRD und DDR
1989 der aufkommenden nationalistischen Euphorie an, die zur Vereinigung beider
deutscher Staaten führte.
Schon vor der Vereinigung gehörten in beiden Teilen Deutschlands
Diskriminierung und rassistische Gewalt gegenüber als fremd und anders
wahrgenommenen Menschen zum Normalzustand. Nach 1989 kam es im Zusammenspiel
zwischen Stammtisch-Deutschen, Politik und Medien zu einem mörderischen
Aufleben von Rassismus und Antisemitismus. In den Jahren 1991 und 1992 fanden
in verschiedenen Orten Ostdeutschlands, beispielsweise in Rostock- Lichtenhagen
und im sächsischen Hoyerswerda, brutalste Anschläge und
Übergriffe auf Asylbewerberheime und Unterkünfte von
Vertragsarbeiterinnen statt unter dem Beifall der Bevölkerung. In
Westdeutschland kam es ebenfalls zu rassistischen Angriffen, bei denen, wie in
Mölln und in Solingen, zahlreiche Menschen durch Brandanschläge
starben. Weil internationale Medien empört auf die Morde reagierten,
bemühten sich PolitikerInnen und Parteien durch verbale Abgrenzung, ein
positives Image Deutschlands zu wahren.
Doch dass die rassistische Stimmung gesamtgesellschaftlicher Konsens war,
zeigte sich seitdem nicht nur in verbalen und physischen Attacken gegen
Migrantlnnen, sondern auch in der deutschen Gesetzgebung, den kontinuierlichen
brutalen Abschiebevorgängen durch staatliche Behörden, sowie in der
rassistisch-populistischen Rhetorik der Politik.
Der staatliche Rassismus fand 1993 bei der Aushandlung des so genannten
Asylkompromiss` einen neuen Höhepunkt. Das Grundrecht auf Asyl (Art. 16a
GG) ursprünglich als Konsequenz auf die politischen Verfolgungen im
Nationalsozialismus postuliert und in das Grundgesetz aufgenommen wurde
u.a. durch die Dritt-Staaten-Regelung faktisch abgeschafft. Die Volksparteien
entsprechen mit ihren Forderungen und Inhalten bis heute den rassistischen
Einstellungen der Massen und bedienen diese stets aufs Neue. Mit Kampagnen
gegen die doppelte Staatsbürgerschaft oder populistischen Sprüchen
wie Das Boot ist voll bzw. Kinder statt Inder sind SPD und CDU
Teil des diskriminierenden Diskurses.
In großen Teilen der Bevölkerung herrschen bis heute rassistische,
chauvinistische und antisemitische Einstellungsmuster, die mit einer
Idealisierung staatlicher Autorität einher gehen. Infolge dieses Konsens
wird zwischen der eigenen Gemeinschaft und den Anderen, den so genannten
Ausländern, klar unterschieden. Diese Kategorisierung bildet die
Grundlage für eine von Stigmatisierung bis hin zum gewaltsamen
Übergriff reichende Diskriminierung. Migrantlnnen sind maximal als
Arbeitsplätze schaffende Investorinnen oder kurzzeitige Arbeitskräfte
willkommen, die sich aber nicht dauerhaft in Deutschland niederlassen sollen.
Ansonsten wird von ihnen eine Integration und Anpassung gefordert, die nach den
Idealen der deutschen Leitkultur verlaufen muss. In völlig offener und
brutaler Art und Weise äußert sich der Rassismus und Nationalismus
bei der NPD. Wie der Einzug in den Sächsischen Landtag deutlich machte,
kann sie damit die Überzeugungen eines beachtlichen Teils der
Bevölkerung bedienen. Als im Sommer 2007 ein rassistischer deutscher Mob
acht aus Indien stammende Menschen durch Mügeln trieb, war die
Empörung zwar groß, jedoch wollte man nichts von einer rassistischen
Gesellschaft in Sachsen wissen.
Seit der Wiedervereinigung forderten rassistische Übergriffe mehr
als 140 Menschenleben. Im Jubiläumsjahr werden die Demokratie und Freiheit
gefeiert, doch den Opfern rassistischer Gewalt und staatlicher Abschiebepraxis
keine Beachtung geschenkt.
Teil der gesellschaftlich herrschenden Einstellungen sind ebenfalls
antisemitische Denk- und Verhaltensmuster. Zwar fanden diese in
unterschiedlicher Weise Eingang in die Geschichte der DDR und BRD, stellten
aber in beiden deutschen Staaten und damit auch nach der
Wiedervereinigung eine gesellschaftliche Normalität dar.
In der DDR fand aufgrund der historischen Interpretation keine nennenswerte
Auseinandersetzung mit Antisemitismus statt. Die Zeit des Nationalsozialismus
wurde alleinig als vom Kapitalismus forcierter Faschismus begriffen. Der
deutschen Spezifik des Antisemitismus kam damit keine Bedeutung zu. Infolge
dessen wurden die Opfer des Nationalsozialismus hierarchisiert und die
kommunistischen Widerstandskämpferinnen in den Vordergrund gerückt.
Der Gründungsmythos des antifaschistischen Arbeiter- und Bauernstaats
ließ eine Auseinandersetzung mit den Einstellungsmustern des
Nationalsozialismus unnötig erscheinen, obwohl ein Großteil der
Bevölkerung am Holocaust direkt oder indirekt beteiligt war. Der weiter
existente Antisemitismus in der DDR zeigte sich wiederholt durch die
Schändungen jüdischer Friedhöfe und Gedenkstätten.
Ebenfalls bediente die antizionistische Politik und Propaganda der DDR
gegenüber Israel den Antisemitismus in der Bevölkerung.
Die BRD war nach ihrer Gründung vor allem von einer personellen
Kontinuität deutscher Taterlnnen sowie von Verdrängung und Leugnung
der eigenen Verbrechen geprägt. Die weiter existierenden antisemitischen
Denkmuster und Positionen wurden nicht offensiv bekämpft, durften aber
auch nicht mehr öffentlich artikuliert werden. Der primäre
Antisemitismus wird über die Zeit von einem überwiegend
sekundären Antisemitismus abgelöst: Die Shoah und die Erinnerung an
sie wandeln sich dabei in eine Quelle erneuter Ablehnung von Jüdinnen und
Juden, da ein positiver Bezug auf Deutschland nach Auschwitz nicht mehr
möglich ist. Indem man andere Verbrechen als ebenso grausam darstellt oder
einen endgültigen Schlussstrich unter die Geschichte fordert, erlaubt
diese Denkweise eine Verkehrung von Täterinnen und Opfern. Nun seien es
die Deutschen, die unter der Zeit des Nationalsozialismus besonders gelitten
hätten.
Die von Ernst Nolte im Historikerstreit Ende der 80er Jahre formulierte und von
vielen anderen Intellektuellen unterstützte Position, dass die Verbrechen
der Nazis lediglich eine Reaktion auf den bolschewistischen Klassenmord
darstellt, wurde zum Symbol für eine solche Geschichtsrelativierung und
dem Bedürfnis nach einem historischen Schlussstrich unter die deutsche
Geschichte.
Die antisemitischen Kontinuitäten aus BRD und DDR fanden nach der
Vereinigung nicht nur eine Fortsetzung, vielmehr kam es in den Jahren danach zu
einer deutlichen Zunahme. Insbesondere im Osten zeigte sich offener
Antisemitismus in den massiven Protesten gegen die Aufnahme von
Kontingentflüchtlingen Anfang der 90er Jahre: Die Bürgerinnen der
Gemeinden Dolgenbrot und Gollwitz drohten mit Anschlägen auf
Unterkünfte für Jüdinnen und Juden, die aus Russland kommend in
diesen Gemeinden einen ersten Anlaufpunkt haben sollten.
Im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Debatten um die Beurteilung des
Nahost-Konfliktes, der deutschen Geschichte oder ganz aktuell der
Wirtschaftskrise lässt sich weiterhin ein meist latenter und subtiler
Antisemitismus beobachten. Wie der Begriff des sekundären Antisemitismus
deutlich machen will, geht der deutsche Antisemitismus in gesellschaftlichen
Diskursen meist mit einem Geschichtsrevisionismus einher, der von einer
Schlussstrichmentalität über eine Schuldrelativierung bis hin zur
Beschwörung eines deutschen Opfermythos reicht. Symptomatisch für
diesen steht die Friedenspreisrede des Schriftstellers Martin Walser in der
Frankfurter Paulskirche 1998. In der vom Publikum mit Beifall bedachten
Ansprache stellte Walser die individuelle Schuld der Deutschen in Frage und
forderte ein Ende der Erinnerung an die Shoah.
Umdeutung der Geschichte
Wenn heute im Ruf aus Leipzig die Bürgerinnen der DDR zu bloßen
Opfern einer aufgezwungenen SED-Diktatur stilisiert werden, reiht sich dies
nahtlos in den Opfermythos der Deutschen ein.
So ist dort beispielsweise von einem erzwungenen Zustand unter dem
Diktat der sowjetischen Hegemonialmacht zu lesen. Warum die 16 Millionen
Ostdeutschen vierzig Jahre lang im System DDR mitgewirkt haben, wird dabei
nicht geklärt. In gleicher Weise beklagt die deutsche Öffentlichkeit
das physische und moralische Trümmerfeld, das die
nationalsozialistische Diktatur hinterlassen habe und entrüstet sich
über die alliierten Bombenangriffe auf deutsche Städte. Geschlossen
wird dieses Klagelied mit dem Lamentieren über die, gegen den Willen der
Bevölkerung vollzogene, Teilung Deutschlands nach Kriegsende. Dass dieses
Faktum eine historische und zu bejahende Konsequenz darstellt, gerät dabei
völlig aus dem Blickfeld.
Diese parallelisierende Opferinszenierung ist Ausdruck und Sinnbild der
Gleichsetzung von SED Diktatur und Nationalsozialismus, die in zahlreichen
Veröffentlichungen und Feierreden zum Jubiläum vorgenommen wird.
Durch die Gleichsetzung des sowjetischen Gulag mit Auschwitz versucht man sich
von Schuldgefühlen bezüglich der eigenen Vergangenheit zu befreien.
Die Öffnung der Mauer wird dadurch zum zweiten diskursiven Wendepunkt, der
es den Deutschen ermöglicht, die Vergangenheit abzuhaken. Nach der
Überwindung zweier Diktaturen stellt sich Deutschland als
geläuterte Republik dar, die die nötigen Lehren aus der Geschichte
gezogen habe. Als 1999 der damalige Außenminister Joschka Fischer den
Angriff auf Jugoslawien mit der Historie von Auschwitz legitimierte, konnten
diese sogar als spezifisch deutsche Verantwortung ausgelegt werden. Danach
bedurften militärische Auslandseinsätze der BRD dieser
Begründung nicht mehr. Ein ständiger Sitz im Weltsicherheitsrat soll
nun die Rolle Deutschlands als Global Player festigen.
Die Reste eines Unbehagens in bezug auf die deutschen Verbrechen der Shoah
konnten so im Laufe der letzten Jahre beseitigt werden. Heute darf man sich
wieder ungehemmt positiv auf Deutschland beziehen. Die einsetzende
Modernisierung der nationalen Bezüge erleichterte der
Bevölkerungsmehrheit einen ungehinderten Zugriff auf den eigenen
Nationalismus, der spätestens seit der Jahrtausendwende nun offen
artikulierbar wurde. Mit dem Aufruf zum Aufstand der Anständigen
als eine Antwort auf die Nazigewalt, konnte man die so genannte
gesellschaftliche Mitte rein waschen. Indem sich verbal von den Nazis
distanziert wurde, sollte das Bild einer toleranten Mehrheitsbevölkerung
und damit eines weltoffenen Deutschlands gezeichnet werden. Gerne wird darauf
verwiesen, dass dieser neue Nationalismus nur ein harmloser
Verfassungspatriotismus sei, der auf ein multikulturelles
Selbstverständnis wie auf demokratischen Werten aufbaue. Diese Rhetorik
intendiert die Loslösung von der deutschen Geschichte um gleichzeitig ein
positiv besetztes nationales Identitätsangebot zu schaffen. Welchen Erfolg
dieses neue deutsch-nationale Bekenntnis haben kann, zeigte nicht zuletzt das
Fahnenmeer bei Fußball-WM 2006. Eine repräsentative Studie der
ldentity Foundation anlässlich des 60. Geburtstages der BRD belegt diese
Transformation mit Zahlen: 80 Prozent aller Deutschen empfinden Liebe zu ihrem
Vaterland. Der Satz Ich bin stolz ein Deutscher zu sein, der vor wenigen
Jahren in der Öffentlichkeit noch als Naziparole galt, erfährt nun
unabhängig von politischen Spektren breite Zustimmung.
Doch weder funktionieren kollektive Identitäten ohne eine Ausgrenzung,
derer die nicht zur Gemeinschaft gehören sollen, noch hat sich die hiesige
Bevölkerung vollends von ihrem völkischen Verständnis von
Gemeinschaft gelöst. Wenn Deutschland gefeiert wird, dann ist das keine
harmlose Party!
Die Freiheiten eine Farce
Im Herbst 2009 feiert sich Deutschland für den demokratischen Aufstand und
die Befreiung von der zweiten deutschen Diktatur. Doch der damals
erhobene Ruf vieler Zonis nach einem geeinten Deutschland war weniger vom
Wunsch nach Freiheit und Gerechtigkeit, als vielmehr vom schieren Begehren nach
Westautos und Bananen geprägt. Zweifelsohne, 1989 hat für die
Ostdeutschen bürgerliche Freiheiten gebracht. Doch der Schritt vom real
existierenden Sozialismus in den Kapitalismus war keine umfassende
Emanzipation. Zwar werden in der heutigen BRD bürgerliche Grundfreiheiten
gewährt, doch sind diese zwangsläufig an die kapitalistische
Verwertungslogik gebunden. Der Arbeitszwang realsozialistischer Prägung
mutierte zu einem vermittelten Arbeitszwang kapitalistischer Gestalt. So
dominiert heute ein Leistungsfetischismus, der die Individuen in eine
ständige Konkurrenz zueinander drängt. Aber damals wie heute gilt:
Wer nicht arbeiten kann oder will, gehört nicht zur Gesellschaft.
Die staatliche Überwachung, Gängelung und Repression mag vielen
DDR-Bürgerlnnen ein Dorn im Auge gewesen sein. Umfassende Überwachung
im Betrieb, auf öffentlichen Plätzen oder des eigenen Computers wird
heute im wiedervereinigten Deutschland wohlwollend hingenommen im Sinne
von Ordnung, Sicherheit und Effizienz. Bürgerliche Freiheiten gelten auch
in vollen Zügen nur für diejenigen, die im Besitz einer
Staatsbürgerschaft sind.
Mit unserer Kritik streben wir weder die Wiedererlangung
realsozialistischer Verhältnisse an, noch wollen wir uns mit dem
Status Quo zufrieden geben. Die Wendefeierlichkeiten in Leipzig und anderswo
versuchen jedoch die Vergangenheit in der Floskel der zwei deutschen
Diktaturen ad acta zu legen und beschwören den Mythos eines
demokratischen Aufbruchs 1989. Dabei stellen sich ihre Reden von
Freiheit angesichts der heutigen deutschen Zustände für uns
als Zynismus dar. Menschenverachtende Ideologien wie Rassismus und
Antisemitismus, die von der Mehrheit der Deutschen getragen werden, sind Teil
des geläuterten deutschen Nationalgefühls.
Es kann keinen positiven Bezug auf Deutschland geben!
Euer Jubel nervt!
Antifaschistischer Frauenblock Leipzig (AFBL), Antinationale Gruppe Leipzig
(AGL), Emanzipatorische Gruppe Antifaschistlnnen Leipzig (EGAL), Initiative
gegen jeden Extremismusbegriff (INEX), Leipziger Antifa (LeA), Rock am Kreuz
(RaK)
(aktuelle Version vom 17.06.2009, Änderungen vorbehalten)
Arbeitskreis 2009