• Titelbild
• Editorial
• Bilder im Heft
• das erste: An den Stadtrand abgeschoben
• Chuck Ragan, Fake Problems, Digger Barnes
• From Amen to Z
• It’s all about the skit
• RAEKWON
• Station 17
• electric island
• Joker
• Antitainment
• On, Common Cause
• Veranstaltungsanzeigen
• Einladung an alle aktiven Gruppen im und ums Conne Island
• ABC: R wie Rassismustheorie
• review-corner buch: Das Problem heißt: Antiziganismus
• cyber-report: Nenne eine deutsche feministische Linguistin…
• Kunst der Entfesselung
• doku: Still not lovin‘ Germany
• doku: Veranstaltungen
• sport: Ultras Red Bulls
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• das letzte: Sommerzeit – Reisezeit
Die Lust an der Freiheit
In Peter Weirs Film Der Club der toten Dichter, der für viele Mitte
der siebziger Jahre Geborenen eine ähnliche Bedeutung als
pädagogischer Utopielieferant gehabt haben dürfte wie für
ältere Generationen Die Feuerzangenbowle, spielt Robin Williams den
linkscharismatischen, penetrant gutherzigen Lehrer John Keating, dessen
Dauergrinsen für seine Schüler inmitten der repressiven
Atmosphäre ihres Elite-Internats Vorschein einer durch Einbildungskraft
beseelten besseren Wirklichkeit ist. In Wahrheit ist er eher ein emotionaler
Fitnesstrainer und verkörpert gegenüber den abgehalfterten
pädagogischen Autoritäten, die der subjektiven Befindlichkeit ihrer
Schüler mit Gleichgültigkeit begegnen und nur auf Leistung pochen,
den guten Papa, der jedem Zögling ein Sei Du selbst! mit auf den
Weg gibt und dessen Kompetenz weniger in seinen Fähigkeiten als in seiner
ganzen Person besteht. Konsequent agiert er mit vollem
Körpereinsatz, wirft sich beim Gedichtrezitieren mit geröteten Wangen
in die Brust, ermuntert die Schüler, auf das Lehrerpult zu steigen, um zu
sehen, wie die Welt von dort oben aussieht, und gibt euphorisierende Parolen
von sich wie ein Fähnleinführer. Einige von Keatings Fans
gründen die Geheimgesellschaft Club der toten Dichter, um im Geiste
ihres Lehrers ohne institutionellen Zwang Gedichte lesen und schreiben zu
können. Als im Zuge ihrer Partisanenaktivitäten ein Schüler
verunglückt, gibt die Schulleitung dem progressiven Pädagogen die
Schuld. Bevor dieser seinen Abgang hat, erklimmt der schüchternste
Zögling das Pult und verabschiedet sein Idol mit den Worten Oh
Captain, mein Captain.
Aufmerksame Zuschauer haben sich schon seinerzeit gefragt, worin denn die
Schulkritik dieses Films bestehen soll, war es doch ganz einfach der letzte
Schrei pädagogischer Modernisierung, der hier als das Andere der
schlechten Realität ausgegeben wurde. Heute ist aus dem Film noch der
letzte Rest widerständigen Potentials gewichen. Selbst an den
Universitäten grinst jeder Juniorprofessor wie Robin Williams, und
strukturkonservative Dozenten werden von Bachelor-Studenten gefragt:
Warum machen wir denn keine Gruppenarbeit? Der Individualforscher, der
seinen Genuss an einsamer Arbeit über den Büchern findet, ist ersetzt
worden durch den Motivationstrainer, für den noch die verbindlichste
Erkenntnis ein Ereignis ist und der den Examenskandidaten, deren Anzahl
ein Kriterium für seine Evaluation darstellt, die Wahrheit aufschwatzen
muss wie ein Focus-Abonnement. Dabei lässt sich von John Keating lernen,
wie es sich mit der Lust am freien Denken verhält, mit der die von
staatlicher Gängelung befreite entfesselte Universität der
Gegenwart so gerne wirbt. Im Modus der Konfrontation vom Zwang der Institution,
die aus den Schülern keine guten Menschen, sondern brave
Schulabgänger machen will, mit der Herzenswärme des Charismatikers,
der den Schülern nicht in seiner sozialen Rolle, sondern als durch
freiwillige Hingabe sanktionierter Guru begegnet, stellt der Film nicht Norm
und Freiheit, sondern zwei Modelle von Autorität gegenüber.
Die Autorität der Institution ist repressiv, jedoch in ihrer Repression
egalitär: Für sie zählt nur, was der Einzelne leistet und wie
gut er gehorcht, aber nicht, wer er eigentlich ist. Die Autorität
des Charismatikers dagegen appelliert an jeden Einzelnen persönlich und
drängt nicht auf Einhaltung von Regeln, sondern auf Gehorsam ohne Befehl;
nicht auf abstrakte Uniformität, sondern auf individuellen Konformismus.
Sie ist weniger Verbots- als Schutzmacht: Nicht der Schüler hat ihr
gegenüber Leistungen zu erbringen, um belohnt zu werden, sondern sie
schenkt dem Schüler Wärme und Vertrauen, um ihn nicht als
Schüler, sondern als ganzen Menschen zu verpflichten. Solche
Autorität produziert keine Freiheit, sondern refraktäres Ketzertum,
das sich, wie die Schlussszene des Films zeigt, im selben Moment, da es sich
gegen die Autorität der Institution erhebt, der im Captain
personifizierten charismatischen Herrschaft umso blinder ausliefert. Im System
der repressiven Institution hätte aus dem schüchternen
Außenseiter womöglich ein autonomes Individuum werden können,
weil Abstraktion und Vereinzelung demjenigen, der ihnen standzuhalten und sie
zu reflektieren vermag, zu einem starken Ich verhelfen können, das sich
gegen den Prozess seiner Hervorbringung im Namen seines eigenen Prinzips wehrt.
Der paternalistische Charismatiker dagegen, der gegen die Institution aufmuckt
wie der Bürger gegen den Staat, weil es ihm um die Menschen in
ihrer Eigentlichkeit geht, sistiert diesen Prozess. Indem er seinen
Zöglingen den Zwang zur Vereinzelung erspart, ohne an dem institutionellen
System etwas zu ändern, erkauft er sich ihre persönliche
Hörigkeit, in der sich ihr unverwechselbares Selbst realisieren soll.
Deshalb leuchten seinen Schülern vor jeder Stunde die Augen in ehrlicher
Vorfreude: Von paternalistischer Autorität gewährte Freiheit
verschafft Lust, weil sie Protektion verschafft. Substantielle Freiheit dagegen
macht Angst: vor dem Ausschluss aus der Gesellschaft; davor, dass die
nächsten Menschen einem plötzlich die fernsten werden, ja dass man
selbst ein anderer werden könnte. Kants Begriff der Aufklärung wollte
den Menschen helfen, sich vor dieser Freiheit nicht allzu sehr zu
fürchten.
Freiheit als Zumutung
Der einschlägige Passus in Kants Beantwortung der Frage: Was ist
Aufklärung? gilt aufgeklärten Linken heutzutage als Ausweis
von Kants Verhaftung in bürgerlicher Ideologie:
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst
verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen,
sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht
am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt,
sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. ... Faulheit und Feigheit
sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die
Natur längst von fremder Leitung freigesprochen ..., dennoch gerne
zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu
deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.
Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der
für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät
beurteilt, usw.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. ... Dass
der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze
schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem, dass
er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür
sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie
gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm
gemacht haben, und sorgfältig verhüteten, dass diese ruhigen
Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie
sie einsperreten, wagen durften: so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die
ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar
eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl
endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch
schüchtern, und schreckt gemeinigleich von allen ferneren Versuchen ab.
Arrogant und oberlehrerhaft, so der geläufige Einwand, fertigt hier ein
Bürger, der von falschem Bewusstsein keine Ahnung hat, die den
Individuen zur zweiten Natur gewordene Heteronomie als Resultat von
Faulheit und Feigheit, mithin als individuell zurechenbare Schuld
ab. Gerade die Insistenz auf der individuellen Zurechenbarkeit von
Unmündigkeit, die Kant mit all jenen verbindet, auf die
aufgeklärte Linke sich gern berufen, macht jedoch die
Radikalität seines Autonomiebegriffs aus und ermöglicht ihm
Einsichten, die sich heute wie eine Beschreibung des bildungspolitischen Status
quo lesen. Nicht zufällig nennt Kant als Beispiele für
Vormünder die Gelehrten, Seelsorger und Ärzte. Im Gegensatz zu
Bürokraten und Deputierten kommt ihnen Autorität nicht als
Äußerliches, mit ihrem sozialen Status Verbundes zu, sondern
realisiert sich in ihrem persönlichen Wesen, ihrem pädagogischen oder
schamanischen Eros. Sie schützen, was sie beherrschen, und unterwerfen,
indem sie fördern, heilen oder trösten. Im Begriff des
Vormunds, der Autoritäten bezeichnet, die sich für diejenigen
einsetzen, die sie entmündigen, ist dieser Doppelcharakter aufbewahrt. Wer
im Fall des Normverstoßes mit Strafe droht, unterstellt beim anderen
immer auch eine, wenngleich zu unterdrückende, Fähigkeit zum
Widerstand. Die Vormundschaft hingegen bedeutet ihren Schützlingen, sie
könnten nur in Eintracht mit ihr die ersehnte Freiheit erlangen, nicht
aber gegen oder ohne sie. Der Normautorität muss man nur
gehorchen, seinem Vormund hat man Dankbarkeit entgegenzubringen.
Angesichts der trüben Melange von institutioneller Herrschaft und
Vormundschaft, auf welche Aufklärung zu regredieren droht, kann den
aufrechten Gang (zu Kants Zeit noch unverbrauchte Metapher bürgerlicher
Freiheit) nur lernen, wer das Fallen riskiert. Der Vorwurf der Faulheit
und Feigheit gegen die im Stande der Unfreiheit Verharrenden verleugnet
nicht den internalisierten Zwang Kant selbst konzediert, die
Unfreiheit sei den Menschen beinahe zur zweiten Natur geworden
, sondern appelliert daran, dass es jedem, ohne Ansehen von Stand und
Geschlecht, prinzipiell möglich sei, Verhältnisse abzuschaffen, die
den Naturzwang verewigen, und sich aus diesen zur Mündigkeit
herauszuarbeiten. Aus Furcht vor dieser Zumutung, aus der Ahnung, dass
Sicherheit und Gewalt miteinander verfilzt sind, Freiheit also Unsicherheit
bedeuten könnte, kehren die zum autoritären Widerstand
aufgestachelten Schüler in Peter Weirs Film der Institution den
Rücken, statt sie hinfällig zu machen, und werfen sich Keating in die
Arme, der so tut, als ließe sich der Gegensatz zwischen Pflicht und
Glück durch einen reinen Willensakt aufheben: durch Bekenntnis zur
Autorität des Charismatikers, der die Personalunion von Kopf, Herz und
Hand verkörpert.
Institutionalisierter Universalismus
Wilhelm von Humboldts Reflexionen zur universitären Bildung, deren
Integrität keinen Schaden dadurch nimmt, dass Annette Schavan sich auf sie
beruft, sind der Versuch, den institutionellen Rahmen zu bestimmen, in dem sich
ein durch keine Vormundschaft eingeschränkter Begriff geistiger Autonomie
mit seinen spezifischen Denk- und Erkenntnisformen verwirklichen könnte.
Humboldt geht dieser Frage auf drei Ebenen nach: anhand des Verhältnisses
der Forschenden untereinander, des Verhältnisses von Lehrern und
Schülern sowie zwischen Universität und Staat. Trotz rhetorischer
Berufung auf die angeblich den Endzweck aller Bildung ausmachende
moralische Kultur der Nation bestimmen seine Ausführungen
Über die innere und äußere Organisation der höheren
wissenschaftlichen Anstalten in Berlin geistige Bildung weder als
instrumentelles Wissen noch als organischen Ausdruck einer Nationalkultur,
sondern als einen nicht absichtlich, aber von selbst
zweckmäßig vorbereiteten Stoff, der seinen immanenten
Konstitutionsgesetzen folge, die ihrerseits nur mit der subjektiven
Bildung vermittelt, zu sich selbst kommen könnten. Die objektive
Wissenschaft existiert demnach nicht als außerhalb oder über den
Subjekten Vorhandenes, sondern erlangt ihre universale Verbindlichkeit allein
dadurch, dass die Subjekte in ihrer Unterschiedlichkeit und
Widersprüchlichkeit sie immer wieder aufs Neue aus sich heraus
hervorbringen. Deshalb ist Wissenschaft an der Universität im Gegensatz
zur Schule, die es nur mit fertigen und abgemachten Kenntnissen zu tun
hat, stets als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem zu
behandeln. Die berühmte Formel von der Einsamkeit und Freiheit hat
nichts Heroisches, sondern drückt präzise aus, dass Zusammenarbeit
auf dem Gebiet geistiger Erkenntnis nicht als Teamwork auf der Basis von
Arbeitsteilung und Ersetzbarkeit funktionieren kann, sondern nur als sich
immer selbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichtsloses
Zusammenwirken und zwar nicht bloß, damit einer ersetze,
was dem anderen mangelt, sondern damit die gelingende Tätigkeit des einen
den andern begeistere und allen die allgemeine, [...] in den Einzelnen nur
einzeln oder abgeleitet hervorstrahlende Kraft sichtbar werde. Die besten
Traditionen des bürgerlichen Liberalismus leben in dieser Konzeption fort
als Vorstellung, dass die Konkurrenz der je Einzelnen deren Fähigkeiten
und Erkenntnisse nicht auf ein schlecht Allgemeines hin nivelliere, sondern sie
in ihrem Wahrheitsgehalt, der eben nie einzeln oder abgeleitet,
sondern nur als ungezwungenes und absichtsloses Allgemeines sich
verwirklichen kann, überhaupt erst hervortreten lasse. Deshalb besteht
zwischen Lehrern und Schülern weder ein Verhältnis autoritärer
Unterordnung noch eine kumpaneihafte Partnerschaft. Die nicht wegzurechnende
Sachautorität des Lehrers gegenüber den Schülern, die soziale
und intellektuelle Distanz zwischen beiden, wird vielmehr als Voraussetzung
autonomer Erkenntnis bejaht: [S]ein Geschäft hängt mit an ihrer
Gegenwart ...[E]r würde, wenn sie sich nicht von selbst um ihn
versammelten, sie aufsuchen, um seinem Ziele näherzukommen durch die
Verbindung der geübten, aber eben darum auch leichter einseitigen und
weniger lebhaften Kraft mit der schwächeren und noch parteiloser nach
allen Richtungen mutig hinstrebenden.
Weit davon entfernt, die Diskrepanz zwischen Lehrern und Schülern
autoritär aufzuheben, wird diese zum Konstituens einer Gewaltenteilung, in
der sich Lehrer und Schüler wechselseitig helfen, indem sie die
Borniertheit des je anderen kontrollieren und korrigieren: Die notwendige
intellektuelle Verhärtung und Einseitigkeit des Lehrers findet ihr
Korrektiv in der Parteilosigkeit des Schülers, deren notwendige
Blindheit ihrerseits durch den geistigen Widerstand des Lehrers in die
Schranken gewiesen wird, damit die Erkenntnis, der beide dienen, sich nicht
willkürlich oder nach autoritativen Normen, sondern ihrer eigenen Logik
gemäß entfalten kann. Eben dieses Prinzip wechselseitiger Korrektur
und Kontrolle bestimmt auch das Verhältnis zwischen Universität und
Staat. Von ihrer inneren Konstitution her sind die wissenschaftlichen Anstalten
von aller Form im Staate losgemacht, da sie nichts anderes als das
geistige Leben der Menschen vorstellen, dessen universaler Gehalt sich in
ihren Institutionen konkretisiert. Der Staat muss sich daher immer
bewusst bleiben, ... dass die Sache an sich ohne ihn unendlich besser gehen
würde und dass er von den Universitäten nichts fordern darf,
was sich unmittelbar und geradezu auf ihn bezieht. Dies ist jedoch kein
Plädoyer für eine autonome Universität im Sinne einer von
staatlicher Direktive lediglich freigesetzten Cliquenherrschaft, wie sie sich
derzeit unter dem Alibi einer entfesselten, in Wahrheit eingefrorenen
und destruktiv gewendeten Konkurrenz zu verwirklichen droht. Die Verwaltungs-
und Antragsprosa, aus der Humboldts bildungspolitische Schriften
hauptsächlich bestehen, zeugt im Gegenteil für sein Bewusstsein, dass
universitäre Autonomie, solange der Staat fortbesteht und die
Perspektive seiner Abschaffung nimmt Humboldt nicht in den Blick , eben
nur durch staatliche Reglements hindurch, und nicht durch staatlich
sanktionierte Freisetzung der Universitäten als dem Kampf aller
gegen alle ausgelieferte Zwangskollektive, gewährleistet werden kann. Der
universitären Freiheit droht nämlich nicht bloß Gefahr vom
Staat, sondern auch von den Anstalten selbst, die, wie sie beginnen,
einen gewissen Geist annehmen und gern das Aufkommen eines andern ersticken.
Als den Subjekten, die ihn konstituieren, fremd gegenübertretende
Kontrollmacht ist der Staat nicht nur Gefahr für die sich in
absichtslosem Zusammenwirken realisierende universitäre Freiheit,
sondern auch Korrektiv gegenüber der den wissenschaftlichen Anstalten
gerade wegen ihrer Autonomie notwendig innewohnenden Tendenz zur
korporatistischen Abschottung, zu einer den Geist nicht belebenden,
sondern erstickenden Konkurrenz.
Partikularismus und Anti-Etatismus
Eine solche erstickende Konkurrenz, welche die Universitäten von
staatlichen Reglements entfesselt, um sie ohne Planungssicherheit dem
Kampf um die aus staatlicher wie privater Quelle sich speisenden Finanzmittel
auszusetzen und ihre Flexibilität und Kreativität zu
fördern, wird heute unter dem Deckmantel der Liberalisierung gerade durch
Rückzug des Staates staatlich verordnet. Die durch die
Föderalismusreform und dann durch die von den einzelnen Bundesländern
autonom durchgeführten Universitätsreformen gewonnene
Freiheit macht aus den Universitäten, gerade indem sie ihnen ihr
angeblich einengendes staatlich-administratives Korsett nimmt und sie als
Marktsubjekte setzt, erst recht Agenten des Staates, die sich ihre
Abhängigkeit als Autonomie zueignen, um sie in
Eigenverantwortlichkeit als gegeneinander losgelassene Cliquen zu exekutieren.
Deshalb ist der neue universitäre Geist anti-individualistisch und
anti-etatistisch zugleich: Weil sie im Kampf um den ohnehin immer kärgeren
Anteil am Kuchen, der zur Reproduktion der eigenen Klientel notwendig ist, ein
Profil, mithin einen höchst individuellen Konformismus ausbilden
müssen, dessen Originalität umso preiswürdiger ist, umso
ungebrochener er sich als individuelles Abbild unmittelbarer Herrschaft zu
erkennen gibt, wird der Staat mit seiner schwerfälligen Bürokratie,
welche die Eigeninitiative hemme, ebenso zum Feind wie der
Individualforscher, der keine Drittmittel einwirbt, oder der professorale
Gelehrte, der auf der Autonomie des Erkenntnisgegenstands gegenüber den
Sachzwängen des Lehrbetriebs beharrt. Die von Humboldt avisierte
Konkurrenz in Freiheit arbeitender Individualforscher, die einander umso mehr
begeistern, umso strenger sie sich der sie trennenden Distanzen bewusst
sind, wird dadurch ebenso neutralisiert wie der universalistische Anspruch
einer Erkenntnis, die ihre Verbindlichkeit dadurch erhält, dass sie, wie
Humboldt sagt, aus dem Innern stammt, also stets nur vermittelt durch
die geistige Erfahrung des Einzelnen sich artikuliert. An die Stelle der
anonymen staatlichen Institutionen, welche die Ausbildung zueinander im
Widerspruch stehender, im Streit der Disziplinen miteinander kommunizierender
Schulen erst ermöglicht haben, tritt die in
Promotionsverträgen kodifizierte Protektion durch die Cliquen, die
nicht einmal mehr für verschiedene Ideologien stehen, sondern nur noch
Agenten des Selbsterhaltungszwangs sind, den sie in ihren Teammitgliedern
verewigen, indem sie sie nach außen hin vor ihm schützen.
Angesichts dessen kann es nicht verwundern, dass die gesamte
dekonstruktivistisch aufgemöbelte Logik linksautonomer
Herrschaftskritik, wonach es kein Außerhalb der Macht gebe,
Wissen immer auch Herrschaftswissen und jede Erkenntnis
zwangsläufig perspektivisch sei, vom kurrenten akademischen Betrieb
widerstandslos absorbiert werden kann, dessen Abbild die Kulturwissenschaften
sind. Der schlechte Partikularismus, der sich in solcher Hypostasierung der
Perspektiven Bahn bricht und jeden Versuch der Vermittlung zwischen
Besonderem und Allgemeinem, jedes Festhalten an einem Begriff universaler
Wahrheit, die sich im je Individuellen aufsuchen lasse, als repressiv verwirft,
ist Ausdruck eines Zustands, der nach Adornos Worten kein Privileg mehr
duldet und doch gänzlich in dessen Bann steht. Gerade weil es sich die
Herrschaft als universale wünscht, erscheint dem
neidbeißerischen Bewusstsein jedes Privileg als zu liquidierender Rest:
Privilegien erscheinen ungerecht, nicht weil sie partikular sind, sondern weil
sie der ersehnten negativen Gleichheit im Weg stehen, in der kein anderer
bekommen darf, was man selbst entbehrt. Erst wenn die Herrschaft
tatsächlich universal wäre, käme es endlich gar nicht mehr
darauf an, welche Disziplin man mit welcher Erkenntnisabsicht betreibt oder
welcher Schule man angehört, weil allein die Zugehörigkeit zu
ihr, und nicht ihr konkreter Wahrheitsgehalt, für den geistigen
Selbsterhalt relevant wäre. Die Sehnsucht nach solch universaler
Herrschaft auf dem Gebiet des Geistes ist es, die sich im Pochen auf den
Perspektiven Geltung verschafft, das keine Widersprüche kennt, die
stets auf unteilbare Wahrheit verweisen, sondern nur noch Unterschiede, die
beliebig teilbar sind. In einem solchen Milieu teilbarer Wahrheiten koexistiert
eine autoritäre Bürokratie, die im Modulsystem ja nicht verschwindet,
sondern erst recht ganz unmittelbar als Überwachungsapparat eingesetzt
wird, mit zahllosen dispersen Clustern und Sonderforschungsbereichen,
die im Kampf um die Verteilung der Budgets in blinder Anarchie immer zugleich
mit- und gegeneinander agieren. Wie der Staat nicht mehr als Ordnungsmacht in
den Blick kommt, sondern nur noch wahlweise als Objekt forschungspolitischer
Beutemacherei oder als temporär abrufbarer Büttel zur Restitution
universitärer Disziplin, so ist den Arbeits- und Forschungsbereichen ihr
spezifischer Gegenstand längst äußerlich geworden, bloßes
Ticket für die Fortsetzung der Fahrt auf der geisteswissenschaftlichen
Geisterbahn. Keiner erwartet sich mehr etwas, keiner streitet mehr für
oder gegen etwas, denn alle wollen vor allem eins: dabeibleiben, und loben sich
deshalb gegenseitig ob der Vielfalt ihrer Perspektiven. Die
intellektuelle Ödnis, die derlei Pluralismus mittlerweile hinterlassen
hat, zeugt deutlich von der Gewalt, die in ihm weiterlebt.
Kanon und Universalität
Wo die Vielheit und die Logik der Differenz den bestimmten
Widerspruch als Ort der Wahrheitserkenntnis und der Diskurs den
wissenschaftlichen Streit ersetzt hat, tritt an die Stelle des Kanons, gegen
dessen alleinige Vorherrschaft an den Universitäten in den sechziger
Jahren mit guten Argumenten protestiert worden ist, nicht etwa die vielberufene
transdiziplinäre Freiheit, sondern die Ordnung des Handbuchs, die
jede Erkenntnis in positives Wissen transformiert und den Wahrheitsgehalt des
curricularen Kanons dadurch ebenso liquidiert wie die Hoffnung auf dessen
Überwindung. Ein Kanon im emphatischen Sinn, wie er den protestierenden
Studenten der sechziger und siebziger Jahre ja noch unmittelbar präsent
gewesen ist, kodifiziert nicht einfach totes Wissen, sondern stellt die nach
Maßgabe des bürgerlichen Bildungsbegriffs sedimentierte Tradition
als lebendige geistige Erfahrung vor, an der sich jeder abzuarbeiten hat, auch
und gerade wenn das Korsett dieses Bildungsbegriffs, der in Deutschland stets
nur als Karikatur existiert hat, überschritten werden soll. Noch 1966 hat
der wahrlich nicht des Philistertums verdächtige Karl Otto Conrady seiner
Einführung in die Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, deren
Neuauflage die Hälfte der kurrenten Handbuchproduktion
überflüssig machen würde, einen Kanon zur kritischen
Lektüre beigefügt. Kritik indessen, wenn der Begriff denn mehr
als eine Phrase sein soll, meint die Fähigkeit zur Unterscheidung und zum
Urteil, die abstirbt, sobald die Bereitschaft dazu erlahmt, sich auf
Gegenstände der Erkenntnis überhaupt noch einzulassen, statt sich
besserwisserisch über sie zu stellen. In der notwendig bornierten
Normativität des bürgerlichen Bildungskanons ist wie immer auch
entstellt die Adresse nicht nur auf einen universalen Wahrheitsbegriff, sondern
auf einen universalen Begriff der Menschheit enthalten, den jede Kritik, die
nicht zur Diffamierung verkommen will, anerkennen und zur Verwirklichung
drängen muss. Wie im Ideal des Weltbürgertums virtuell die
klassenlose Weltgesellschaft angelegt ist, liegt im bürgerlichen
Bildungsbegriff, von dem die empirischen Bürger hierzulande nie etwas
wissen wollten in Deutschland hat es, nach Maßgabe seines eigenen
Begriffs, im Grunde nie ein Bürgertum gegeben , ein Verständnis
von Bildung beschlossen, dessen Realisierung die Aufhebung der Klasse, in deren
Schranken es entstand, immer schon voraussetzt. Das mittlerweile geschwundene
Bewusstsein um diesen Zusammenhang ist es, das schon Vertreter der
68er-Bewegung Adorno und Horkheimer als bürgerlichen Restbestand
ihres Denkens ankreideten und das heutige Elitejunioren der Kritischen Theorie
als Signum ihrer Unwissenschaftlichkeit und ihres Anachronismus
attestieren.
In Wahrheit war der bürgerliche Restbestand des Denkens Kritischer
Theorie stets ein bürgerlicher Überschuss: die Idiosynkrasie
gegenüber jenem Hass auf Bildung und Geist, in dem sich 68er wie Dieter
Kunzelmann völlig zurecht mit dem Volk, auf das sie sich beriefen,
einig glaubten, und ihre Unwissenschaftlichkeit entsprang dem
Bewusstsein, dass die Wissenschaft wie so vieles andere in
einer Welt, in der alle Menschen glücklich wären, vielleicht gar
nicht mehr nötig wäre, oder zumindest eine völlig andere
Bestimmung erhielte. Eben dieser Erfahrungsgehalt Kritischer Theorie verdankt
sich aber selbst dem emphatischen, und daher kritischen, Rekurs auf jene
Tradition, welche die leninistsischen, maoistischen oder sonstwie
volksaufständischen Kämpfer im Namen des guten, lediglich zu
organisierenden Pöbels schon in den sechziger Jahren mit
postpubertärer Brutalität für alle Zeit ersticken wollten.
Spätestens nachdem Kunzelmann in einem an Perfidie und antisemitischem
Ressentiment schwerlich zu überbietenden Flugblatt Professor Adorno
angesichts seines Vorhabens, auf dem Höhepunkt der Studentenrevolte einen
Vortrag über Goethes Iphigenie zu halten, als anachronistischen
Bildungsbürger dem Amoklauf des nicht nur studentischen Mobs
überantwortet hatte, hätte jedem nicht ganz abgestumpften
Zeitgenossen klar sein müssen, welcher Ungeist diesen Aufbruch
beseelte. Es ist derselbe Ungeist, auf den sich Leute wie Peter Sloterdijk, dem
ausgerechnet das dummfeministische Busenattentat auf Adorno nicht als
faschistische Hetze, sondern als Geburtsstunde der Kritik erscheint, oder
Norbert Bolz, der Harald Schmidt als wahrhaftigen Adorno feiert, inzwischen mit
jener Dreistigkeit berufen, die sich allein dem Wissen um die Einigkeit mit der
Mehrheit verdankt. Noch die Popularität des in sich linksradikal
apostrophierenden Zirkeln begeistert herumgereichten Dietmar Dath dürfte
sich der Tatsache verdanken, dass dieser sich selbst als Leninist
bezeichnet, zugleich aber auch jene wohlorientierte Bildungsentsorgung
betreibt, die sich Postmoderne nennt und keinen Kanon, sondern nur
Archive, keine Werturteile, sondern nur situierte Sprechorte
kennt. Fast schon ist es bedauerlich, dass deren Protagonisten, anders als
manch alte Leninisten, nicht einmal ungebildet sind, sondern im Gegenteil
derart viel wissen, dass sie mit ihrer Bildung nichts anderes anfangen
können, als ein endloses Recycling zu betreiben. Obwohl sie sich nicht
mehr in Imitation kleinbürgerlicher Patzigkeit gegen den Geist, der nicht
satt mache, ergehen, sind sie sich mit den linken Volkstribunen einig in der
Verachtung des Ballastes, der Bildung heißt und gegen dessen normativen
Anspruch man sich wehrt wie das Baby gegen den Strampelanzug. Deshalb ist es
kein Widerspruch, sondern konsequent, dass ein Leninist gleichzeitig bei
der Zeitung für Deutschland angestellt sein, in der Phase 2
publizieren und Bücher über Buffy schreiben kann, ohne dass
irgendjemand ihn höflich darauf hinweist, dass er sich zum Narren macht.
Deshalb auch ist es Zeichen von Konsequenz, und nicht von Opportunismus, dass
es ehemalige Protagonisten der 68er-Bewegung sind, die sich heute mit dem
gleichen Eifer an die Entfesselung der Uni machen, mit dem sie einst
deren Besetzung betrieben haben. Endlich können sie mit gutem Gewissen und
der Mehrheit im Rücken zu Ende bringen, was sie damals mit schlechtem
Gewissen und gegen die Mehrheit durchsetzen wollten: mit dem ideologischen
Unrat des bildungsbürgerlichen Humanismus, von dem es zweifellos noch
immer reichlich gibt, gleich auch diesen Humanismus selbst zu entsorgen.
Deshalb schließlich ist es konsequent und muss in Kauf genommen werden,
wenn die wenigen, denen es ernst ist um den Begriff der Universität und
dessen Wahrheitsgehalt, sich als Konservative titulieren lassen
müssen, ist doch jede Kritik, die sich nicht selbst verraten will,
zumindest in dem einen Sinn notwendig konservativ, dass sie sich an
Gegenständen entzündet, an denen das denkende Subjekt sich einmal
selbst entzündet, für die es sich begeistert oder über die es
sich erzürnt hat und deren Erfahrung es treu bleiben will. In diesem Sinne
ist die Universitätskritik der Kritischen Theorie der Universität
treu geblieben, weil sie negativ festhält, was in Erinnerung zu bringen
heute schon als Verrat am universitären Betrieb gilt: das Glück der
Erkenntnis und damit den Begriff des Glücks selbst.
Magnus Klaue