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Allgemeinwohl und Freiheit

Weiter währende Fragen des Frühsozialismus

      „Der Straßenschänken Laut, der Bürgersteige Kot;
      Platanen blattlos, in der schwarzen Luft halbtot;
      Ein Omnibus, Orkan aus Schmutz und Eisenteilen,
      Knirscht, seine Massen unrecht auf vier Rädern weilen,
      Und langsam grünes Auge, rotes Auge gafft;
      Arbeiter unterwegs zum Club, der eine pafft
      Dem Polizisten mitten ins Gesicht den Knaster;
      Sehr üble Häuser, feuchte Mauern, glitschiges Pflaster;
      Asphalt zerstört, Kanal verstopft durch Regenguss:
      Dies ist mein Weg – jedoch das Paradies zum Schluss.“

      (Paul Verlaine)
Als Frühsozialismus wird diejenige vormarxistische sozialistische Strömung bezeichnet, die mit der Französischen Revolution einsetzte. Bei allen Unterschieden waren sich die Frühsozialisten in ihrem Streben nach einer Assoziation einig, in der die Menschen nicht mehr getrennt, sondern gemeinsam produzieren und in der sie die Industrie, deren rasante Entwicklung damals begonnen hatte, zum Zwecke des allgemeinen Wohlstands bewusst in Dienst nehmen wollten. Ziel war „die Vereinigung und die Zusammenarbeit aller zum Vorteil eines jeden“(1) und schließlich ein Zustand, „wo jeder Mensch ohne Angst unter seinem eigenen Weinstock und Feigenbaum sitzt“(2). Als Übel machten die Frühsozialisten die Unterminierung und ungerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums in der Form des Privateigentums aus, die bedinge, dass die Menschen getrennt voneinander und damit letztlich kontraproduktiv dem Reichtum hinterherliefen, statt gemeinsam und konzertiert dafür zu sorgen, dass der gesellschaftliche Reichtum an Genussmitteln gedeiht und die Natur menschengerecht eingerichtet wird.
So sehr der Frühsozialismus auch in der Tradition der Aufklärung stand und ein Versuch ihrer Radikalisierung war, und so sehr er sich auch dem Diesseits zuwandte, so wenig verabschiedete er sich von Paradiesvorstellungen. Haben bürgerliche Aufklärer, beispielsweise Immanuel Kant, der Aufklärung im Diesseits einen Weg geschlagen, indem sie Glauben und Wissen voneinander trennten und der Religion einen privaten, unpolitischen Bereich zuwiesen, so haben revolutionäre Anarchisten, Sozialisten und Kommunisten den religiösen Glauben radikal aufgehoben – und zwar in ihren Diesseitsutopien. Teilweise, ohne das zu verhehlen: „Tatsächlich wäre die Verwirklichung der universellen Assoziation die soziale Verwirklichung des Christentums, die Ankunft des Himmels und seiner Gerechtigkeit auf Erden, das wieder gewonnene Paradies.“(3)
Die Frage, ob eine diesseitig gewendete religiöse Erlösungsvorstellung, zumal durch die reflexartige wie reflexionslose Beteuerung, dass man nicht religiös sei, jenen militanten Voluntarismus evoziert hat, der später in den Verbrechen des real existierenden Sozialismus waltete, ist zu wichtig, als dass sie hier nebenbei verhandelt werden könnte. Ihre große Bedeutung, gerade wenn man vom revolutionären Geist getrieben ist und seiner Reflexion bedarf, sei an dieser Stelle nur angezeigt.

Soziale Frage, universalistische Antwort
      „Solange irgendwo in der Welt ein Mensch, ein einziger Mensch schreit: ‚Ich habe Hunger, mich friert!‘, hat sich die Gesellschaft noch nicht konstituiert.“
      (Richard Lahautière)(4)
Nachdem die amerikanische und die französische Revolutionen die politische Gleichberechtigung auf ihre Fahnen geschrieben hatten, trat der Frühsozialismus an, um soziale Gerechtigkeit und sozialen Wohlstand für alle zu erkämpfen. Und zwar für alle Menschen weltweit. Der Frühsozialismus verfolgte ein antinationales, universalistisches Programm. So erhofft beispielsweise einer der französischen Frühsozialisten, dass die Grenzlinien auf Erden verschwinden(5), und der englische Frühsozialist Robert Owen mokiert sich über den „Lokalpatriotismus, der dem Glück der Menschheit so entgegensteht“ und erhofft, dass „aus der ganzen menschlichen Rasse endlich ein Volk“ wird(6): „Das Ziel ist die universelle Assoziation, das heißt eine Assoziation, die alle Menschen der Erde [...] umfasst.“(7)



Rationalisierung der Produktion
      „Die Wissenschaft von der politischen Ökonomie ist nichts anderes bzw. sollte nichts anderes sein als die Wissenschaft vom menschlichen Glück [...] Wie schafft man das größte Angebot der wertvollsten Produkte mit dem geringsten Aufwand an Arbeitsleistung und mit größtem Nutzen für alle – das ist das Problem, welches die Wissenschaft aufgefordert ist zu lösen.“
      (Robert Owen)(8)
Im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts hatte eine Entwicklung von Wissenschaft und Industrie eingesetzt, die diejenige vorangehender Jahrtausende exorbitant übertraf. Hatte die Entwicklung vom Rad bis zur Dampfmaschine (1705) Jahrtausende in Anspruch genommen, folgten binnen kurzer Zeit Spinnmaschine (1769), mechanischer Webstuhl (1784), Drehbank (1800), Dampfschiff (1800), Lokomotive (1814), Elektromotor (1834), Telefon (1861) und so fort. Entwicklungen, die eine immense Steigerung der Produktivkraft bedeuteten. Nach der Erfindung der Spinnmaschine konnte plötzlich ein Arbeiter so viel produzieren wie zuvor zweihundert. Logisch wäre in etwa gewesen, dass sich die Arbeitszeit der Baumwollspinner um circa das Hundertfache verringert hätte, ihre Freizeit entsprechend gewachsen und gleichzeitig doppelt so viel Kleidung hergestellt worden wäre. Jedoch nicht etwa der plötzlich greifbare Traum des antiken Dichters Antipatros wurde wahr, wonach dereinst die Müllerin ihre Hand schonen, ausschlafen und den Morgen umsonst genießen könne, weil kunstvolle Maschinen ihre Arbeit verrichten würden. Stattdessen wuchs mit der Industrie eine Klasse, die elendig schuftete und lebte: das Proletariat. Dieses Paradox schrie (und schreit bis heute) zum Himmel, war aber all den schlauen und wortgewandten Philosophen dieser Zeit kaum eine Zeile wert. Hier hakten die Frühsozialisten zurecht ein: „Allein der Anblick der Armen, die die Städte bevölkern, beweist, dass alle philosophische Aufklärung nichts als Nebelbildung ist.“(9)
Die Frühsozialisten hatten eine ganz simple und nahe liegende Idee, um das Elend zu mildern; die gesamtgesellschaftliche Produktion müsse radikal anders organisiert werden, sie darf nicht mehr dezentral vonstatten gehen: „Ich glaube, dass man alle Produktionszweige als Glieder einer einheitlichen gesellschaftlichen Produktion ansehen muss, die von einem einheitlichen Willen geleitet wird. Ich glaube, dass es die Gesellschaft sein muss, die die Arbeit verteilt und leitet, die Werkstätten einrichtet und versorgt und alle Arbeiter einsetzt. […] Die Gesamtheit der natürlichen und industriellen Produkte wird in riesigen Speichern gesammelt und gleichermaßen an alle Arbeiter oder alle Bürger verteilt [...].“(10) Diese Hoffnung – bei gleichzeitigem Vertrauen in die Möglichkeiten der Industrie – einigt den Frühsozialismus. Zum Beweis: „Die Konkurrenz fabriziert blindlings“, konstatiert Gracchus Babeuf zum Ausgang des 18. Jahrhundert und verlangt, dass „die Produktion [...] nicht mehr blind abläuft“; sofern die Industrie genossenschaftlich organisiert wird, bringt sie „mir und allen, deren Arbeit sie erleichtert, Muße, und diese Muße ist dann keine unheilvolle Arbeitslosigkeit mehr, sondern angenehme Freizeit.“(11) Claudi-Henri Saint-Simon ein Vierteljahrhundert später: „Bis heute wirkten die Menschen gewissermaßen nur individuell und isoliert auf die Natur ein. Mehr noch, ihre Kräfte rieben sich zum großen Teil individuell auf [...] Man bedenke jedoch, welche Stufe erreicht werden könnte, wenn die Menschen [...] sich organisierten, um ihre vereinten Anstrengungen der Natur zuzuwenden [...].“(12) Ein weiteres Vierteljahrhundert später möchte Théodore Dézamy der „Reichtümer“ und des „Überflusses“ halber „alle Tätigkeiten, Anstrengungen, Talente und Energien zentralisieren, konzentrieren, kombinieren, vereinigen und in Übereinstimmung bringen“.(13) Noch Theodor W. Adorno lässt nicht von der Idee ab: „In einer Welt, die so geplant wäre, dass alles, was man tut, in einer durchsichtigen Weise dem Ganzen dient und nicht mehr darin besteht, dass unsinnige Tätigkeiten ausgeführt werden, würde ich gerne zwei Stunden am Tag den Lift bedienen.“(14)
Entsprechend den beiden Idealen, die die Frühsozialisten verbinden, nämlich zum einen Gerechtigkeit (sowohl hinsichtlich der Verteilung der Arbeit als auch der Verteilung der Güter) und zum anderen eine rationale, gemeinschaftlich organisierte Produktion, ergeben sich Fragen hinsichtlich der freien Entfaltung des Individuums, die die Frühsozialisten in ihrem Industrialisierungs-, Wissenschafts- und Rationalisierungsoptimismus nicht scharf genug betrachtet haben.



Allgemeinheit und Individuum
      „Welches ist die der Demokratie entgegen gesetzte Lehre? Antwort: Der Liberalismus [...]. Der Liberalismus erhebt die Souveränität des Individuums zum Prinzip. Er geht [...] vom Individualismus aus, um beim Egoismus und bei der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen anzukommen.“
      (Albert Laponneraye)(15)
Der Frühsozialismus setzte nicht ein mit dem Kampf für die freie Entfaltung des Individuums, sondern zuvörderst gegen „das uralte Komplott des Teils gegen das Ganze“(16) und für eine gerechte Gemeinschaft. Zu damaligen Zeiten war der Kampf gegen die Beherrschung und Ausbeutung der Allgemeinheit durch Einzelne auch notwendig. Jedoch kann das Gegenteil, die Herrschaft der Allgemeinheit über die Einzelnen, nicht das Ziel sein. Einige Frühsozialisten aber traten genau dafür ein. Es ginge um die „Ausrottung des egoistischen Genießens“, darum, „die Menschheit der eigenen Person vorzuziehen“ und darum, „an das allgemeine Interesse vor seinem eigenen zu denken“; errungen werden müsse „der Sieg des gemeinsamen Interesses über das individuelle Interesse“.(17) Bei einigen anderen Frühsozialisten lässt sich aber auch der Anspruch finden, „sowohl die Harmonie des Ganzen als auch den größtmöglichen Zustand individueller Freiheit“(18) herstellen zu wollen. Aber wie? Dazu später.
Friedrich Nietzsche hatte davor gewarnt, dass mit dem sozialistischen Ruf nach absoluter Gerechtigkeit eine neue „Schreckensherrschaft“ entstehen würde, in der das Individuum zu einem „zweckmäßigen Organ des Gemeinwesens umgebessert“ würde.(19) Wie vorausschauend – könnte man meinen. Aber Nietzsche hatte nicht vorausschauen müssen; ein Frühsozialist hatte ebenjene Dystopie längst schwarz auf weiß hinterlassen: „In einem früher erwähnten Vergleich verwies ich bereits darauf, dass der Mensch im gesellschaftlichen Organismus genau dasselbe ist wie ein Glied im menschlichen Organismus. Hat uns denn das Studium des menschlichen Körpers nicht mit mathematischer Genauigkeit bewiesen, dass es in keinem Wesen ein Glied, ein Organ gibt, das jemals einem anderen Glied, einem anderen Organ absichtlich zu schaden vermöchte und der Gesundheit und dem gemeinsamen Leben zuwider oder von ihm unabhängig zu wirken imstande wäre, das sich jemals weigern oder auch nur zögern würde, seine Funktion zu erfüllen und der Harmonie und Gesundheit des Lebewesens zu dienen, kurz, das sich entschließen könnte, dem Gemeinwohl böswillig zu schaden?“ Der Einzelne im Dienst des Allgemeinen. Und wenn nicht? „Wenn aber ein Organ von diesem physiologischen Gesetz abweicht? Dann ist es irgendwie unpässlich, krank oder verletzt.“(20) Und was macht man mit kranken Organen? Man bessert sie aus, oder man tauscht sie aus. So denken auch andere Frühsozialisten, etwa Owen: Wenn „das Verhalten irgendeiner Person schädlich für das Wohlergehen des Gemeinwesen ist“, so muss man sie „ausstoßen“.(21) Dabei denken die Frühsozialisten nicht nur an Herrscher und Ausbeuter. Nichts weniger als ein „Kapitalverbrechen“ sei es etwa, wenn „sich jemand auf die faule Haut legt“, so Babeuf.(22) Durch „Müßiggänger“ befände sich „die Gesellschaft in Gefahr“, warnt Lahautière ein paar Jahrzehnte später.(23) Filippo Buonarroti macht einen praktischen Vorschlag: „Faulheit, Luxus und Liederlichkeit“ seien mit „Zwangsarbeit“ zu bestrafen.(24) Gar kein Halten kennt Laponneraye: „Der Müßiggänger aber muss abgestoßen werden wie nutzloser Ballast, wie ein gefährlicher Aussätziger; denn überall, wo es Müßiggänger gibt, herrschen Laster und Verderbtheit.“(25)
Solche Positionen würden abstrakt negiert werden, wenn das grundlegende Problem gesellschaftlicher Konstitution und die Schwierigkeit seiner Lösung nicht ernst genommen wird. Wie können Gerechtigkeit und individuelle Freiheit zugleich garantiert werden? Konkreter: Wie kann gerecht produziert werden, also so, dass die gesellschaftlich notwendige Arbeit auf allen und nicht wenigen Schultern lastet, ohne die Einzelnen in die Pflicht zu nehmen? Wie kann der Reichtum der Gesellschaft gerecht auf ihre Mitglieder verteilt werden, ohne Einzelne zu begrenzen?
Da können sich Ideologiekritiker oder Dekonstruktivisten noch so idealistisch gebärden und versuchen, Kategorien wie Arbeit oder Gerechtigkeit als kapitalistische Ideologien oder Konstrukte aufzulösen – schließlich, in der Gesellschaft ihrer Wahl, würden sie ihnen als Tatsachen doch wieder auf die Füße fallen, wahrscheinlich ob ihrer Schmähung als Verarmung und Ungerechtigkeit. Dann doch lieber die weniger naiven Konzeptionen der Frühsozialisten.

Verwaltete Welt
      „Die sozialistische Schule schlägt einen Organisationsplan der Gemeinde vor.“
      (Victor Considerant)(26)
Die kapitalistische Variante der Produktions- und Verteilungsweise haben Frühsozialisten und später Karl Marx und andere ausführlich kritisiert. But: „Sometimes the solution is worse than the problem“.(27) Wie kann die gesamtgesellschaftliche Produktion und Distribution rational verwaltet werden, ohne dass eine mehr oder weniger totale Verwaltung gesellschaftlichen Lebens die Folge ist und diese Verwaltung zur monströsen Befehlsinstanz der Gesellschaft, d.h. zu einem Staat wird, der die Gesellschaft lenkt und in das Prokrustesbett plangemäßer Einheit pfercht? Eine ehrliche Antwort eines Frühsozialisten: „Die Regierung wird als oberste Leitungsbehörde der Produktion eingesetzt und dafür mit großer Macht ausgestattet.“(28) Und so kam es – im real existierenden Sozialismus. Darüber hinaus gibt es Umschreibungen, die netter klingen, aber in der Praxis vielleicht gar nichts anderes bedeuten würden, als einen Regierungsapparat mit großer Macht aufzubauen. Charles Fouriers Phalanxsystem etwa bedürfe „einer Verwaltung, die mit der obersten Leitung der Unternehmung beauftragt ist“.(29) Friedrich Engels spricht von einer „Verwaltung von Dingen“ und einer „Leitung von Produktionsprozessen“.(30) Bei Marx bilden „planmäßige Kontrolle“(31) und „Buchführung“(32) wichtige Bestandteile des angestrebten Zustands. So bald Marx aber Gefahr läuft, diesen und dessen Konsequenzen genauer darzulegen, flüchtet er sich in euphemistische Formulierungen. In der Kritik des Gothaer Programms etwa drückt er sich um das Problem, ob die Verwaltung der Produktion und Distribution einem gewaltigen Staat gleichkäme, einfach drum herum und schreibt statt Staat „Gesellschaft“(33), als würde sich das Problem auf der Ebene der Sprache lösen lassen.(34) Doch das Problem des Staates würde mit Wegfall des Kapitals zuvörderst größer. Es bedürfte zwar einerseits weniger Staates, weil das Privateigentum an Produktionsmitteln sowie imperialistische Geschäfte nicht mehr durchzusetzen und abzusichern wären. Aber anderseits müsste all das, was in der jetzigen Gesellschaftsformation über den Markt blind, chaotisch und angetrieben durch Profitmotive vonstatten geht, organisiert werden – und zwar möglichst gerecht. Die Funktionen des „automatischen Subjekts“ (Marx), das das Kapital ist, müssten substituiert werden. Das bedeutet mehr Verwaltungsarbeit. Entweder diese Verwaltungsarbeit wird zentralisiert. Dann erhält man im schlimmsten Fall einen monströsen Staatsapparat. Oder aber alles läuft basisdemokratisch. Dann hat man als Einzelner wahrscheinlich statt mehr Muße mehr gesellschaftliche Verantwortung und muss sich an zermürbenden Aushandlungsprozessen beteiligen. Auch das macht wenig Lust: Oscar Wilde meinte, dass Sozialismus nicht wünschenswert sei, weil er zu viele Abende in Anspruch nehmen würde (diese Angst vor zermürbender Plenumsarbeit wird einem durch ausformulierte frühsozialistische Pläne basisdemokratischer Verwaltung nicht gerade genommen(35)). Aus dieser Perspektive erscheint es gar nicht so verkehrt, wenn das Reich der Notwendigkeit, also der Produktions-, aber auch Distributionsprozess, durch ein „automatisches Subjekt“ organisiert wäre oder als vielleicht gar nicht so „abscheuliche Anarchie“(36) vonstatten ginge, statt dass sich alle Einzelnen um Produktions- und Distributionsabläufe kümmern und ständig langweilige notwendige Fragen demokratisch ausklamüsern und -diskutieren müssten – natürlich nur unter der Bedingung, dass dieses „automatische Subjekt“ oder Chaos nicht soviel Ungerechtigkeit, Arbeit, Elend und Zerstörung wie in seiner jetzigen Gestalt anrichten würde.
Hinter den Fragen, ob die planmäßige Organisation der gesellschaftlichen Produktion basisdemokratisch überhaupt möglich, ob sie für den Einzelnen nicht zermürbend wäre und ob aus dem Anspruch planmäßiger Organisation nicht automatisch ein despotischer Verwaltungs- respektive Staatsapparat resultieren würde, versteckt sich eine noch wesentlichere Frage. Wie frei wäre das Individuum schließlich im gesellschaftlichen Produktionsprozess sowie in der Konsumtion? Man bedenke, dass sich vielleicht gerade Räte- oder sonstige Basisdemokratien hervorragend dazu eignen, das Individuum dem allgemeinen Willen zu subordinieren und insbesondere Schwache, Einzelgänger, Leisetreter, Sonderlinge, Verschrobene und Grübler diesem schutzlos auszusetzen.

Gesellschaftlich notwendige Arbeit
      „In der sozialistischen Ordnung muss deshalb die Arbeit so viel Reiz bieten wie heute unsere Festlichkeiten und Schauspiele.“
      (Charles Fourier)(37)
Was ist gesellschaftlich notwendige Arbeit? Gesellschaftlich ist sie, sofern sie mit der Arbeit anderer und deren Ergebnissen im Bunde ist (etwa dem Computer, an dem sie ausgeführt wird) und ihre Resultate Bedürfnisse anderer befriedigen. Notwendig ist sie, sofern sie Not lindert, ohne selber eine größere Not zu sein als die, die sie abschafft, beziehungsweise, sofern sie unterm Strich zu einer Verbesserung des Lebens führt. Sie ist Mittel zum Zweck. Wenn sie durch Maschinen ausgeführt wird, umso besser – dann hört sie im Prinzip auf, Arbeit zu sein. Die Arbeit, die weiterhin durch Menschen ausgeführt werden muss, muss irgendwie verteilt werden. In einer Sklavengesellschaft wird sie auf wenige Schultern verteilt, während von ihr Befreite ihre Resultate genießen. In der heutigen Gesellschaft dient Arbeit ihrer allgemeinen und daher wesentlichen Funktion nach nicht dem Zweck, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, sondern der Akkumulation von Kapital. Würde dieser Zweck zugunsten sinnvollerer Zwecke abgeschafft, bliebe immer noch die Frage, wie sie organisiert wird. Zum Einen dachten und stritten die Frühsozialisten über ihre gerechte Verteilung. Dazu später. Zum Zweiten setzten die Frühsozialisten auf die zunehmende Abschaffung der Arbeit im Zuge der Industrialisierung. Zum Dritten gaben sich einige Frühsozialisten der Hoffung hin, Arbeit würde attraktiv sein können. Nicht zufällig waren das jene, denen die freie Entfaltung des Individuums wichtig war. Dem Individuum leidliche Arbeit aufzudrücken, brachten sie nicht übers Herz. So wie einige sympathisch arbeitsscheue Ideologiekritiker heute naiv mit der vermeintlichen Einsicht zufrieden sind, dass Arbeit eine bürgerliche Kategorie sei und als solche abgeschafft gehört, um sich nicht mit dem Problem beschäftigen zu müssen, wie notwendiges Mühsal dereinst organisiert werden wird, definierten die Frühsozialisten die Arbeit um, um selbiges Problem zu kaschieren. Auch in Marx‘ frühen Schriften findet sich dieser Advokatenkniff, sofern er „entfremdete Arbeit“ anprangert und suggeriert, es gäbe eine eigentliche Arbeit, die dem Menschen eigne und revindiziert werden müsse. Solche Gedanken gehen anscheinend auf Frühsozialisten zurück: Fourier phantasierte eine „sozialistischen Ordnung, die unter anderem auch die Produktionstätigkeit anziehend machen wird“; Arbeit würde „in ein Vergnügen verwandelt“ werden.(38) Moses Hess möchte über „den Gegensatz von Genuss und Arbeit hinaus“.(39) Aber wie? – fragt man sich. Wie und wem bitte soll Klo putzen dereinst Vergnügen oder Genuss bereiten? Fourier, der ob seiner bizarren, teils sehr sympathischen größenwahnsinnigen Ideen eine sonderliche Rolle unter den Frühsozialisten einnimmt, entwirft ein detailliert ausgearbeitetes Gesellschaftssystem, wobei er, gemäß den zu verrichtenden notwendigen gesellschaftlichen Arbeiten, sogar die Anzahl der Einwohner je Gemeinde (Phalanx) berechnet, nämlich 1600. Ausgeklügelt spekuliert, entwirft und berechnet er, wie viele Arbeiten es gibt, welche davon von wie vielen Menschen beherrscht werden und wie viele Stunden von den jeweiligen Arbeiten täglich Spaß machen würden. Inwieweit Arbeiten gemeinsam verrichtet werden müssten, damit sie angenehm sind, bedenkt er dabei ebenso wie die Abwechslung für jedes einzelne Individuum in seinen Arbeiten und den Aufbau der Arbeitsstätten. All das klingt sympathisch, sofern es darum geht, die Bedingungen der Arbeit zu verbessern, also darum, die „gegenwärtige Produktion“ abzuschaffen, die den „Menschen auf das Niveau eines Automaten oder einer Maschine“ herabdrückt, darum, „ihr ständiges Einerlei“ aufzubrechen, so dass niemand mehr mehrere Stunden täglich am Fließband stehen müsste, darum, dass wir „schöne Werkstätten mit frischer Luft und viel Licht bauen“ und „uns um die Gesundhaltung der Arbeiter kümmern“ können.(40)
Allerdings ist die Verbesserung von Arbeitsbedingungen janusköpfig, steckt in ihr doch die Gefahr, den Zwangscharakter der Arbeit zu verschleiern. Das geschieht, wenn heute die so genannte Digitale Boheme ihre Arbeitsbedingungen verklärt, wenn in Japan das gesamte Kollegium einhellig den Arbeitstag damit beginnt, auf dem begrünten Dach ihrer Fabrik zu turnen und die Unternehmenshymne abzusingen, oder wenn im Sozialistischen Realismus glücklich dreinschauende, mistgabel-, hammer- und zirkelhaltende Arbeitskräfte ikonisiert wurden. Wenn ein erstklassiger Epigone Fouriers beteuert, dass „die Anziehungskraft der Arbeit“ vergrößert würde, wenn sich „die Arbeiter zusammentun und fröhliche Gruppen bilden“(41), dann könnte dies auch als heutiges Motto betriebsinterner Umstrukturierungsmaßnahmen dienen, wonach das Kollegium in Teams untergliedert werden soll, um damit die innerbetriebliche Konkurrenz anzustacheln und vertikale durch horizontale Antreiberei zu ersetzen.
Nicht mehr janusköpfig, sondern eindeutig falsch wird es, wenn nicht die Bedingungen der Arbeit attraktiver gemacht werden sollen, sondern die Arbeit selber zur Attraktion oder natürlichen Bestimmung verklärt wird: „Indessen ist der Hang des Menschen zur Tätigkeit, und zwar zu nützlicher Tätigkeit, hinreichend ausgeprägt – jedenfalls, solange ihn nichts von seiner eigentlichen Natur abbringt.“(42) Fourier, Hess, Wilhelm Weitling und Dézamy neigen dazu, an eine göttliche Fügung im Diesseits zu glauben. Demnach scheint es nicht Pech gewesen zu sein, dass die Menschen in einen gottverlassenen Zustand versetzt wurden und – nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gekostet haben und quasi verdammt sind, eigenem Leid gewahr zu werden – seither nicht anders können, als diesem im Schweiße ihres Angesicht mit ungewissem Ausgang zu fliehen. Die genannten Frühsozialisten erheben die Notwendigkeit zur Arbeit beinahe schon zum Glücksfall, wo doch „jeder nützlichen Tätigkeit ein natürlicher Trieb […] entspricht“.(43) Gleicher glücklichen Fügung redet auch Weitling das Wort, wenn er behauptet, dass „in der Gesellschaft das schönste Gleichgewicht menschlicher Fähigkeiten und Begierden besteht“ (das durch das Privateigentum außer Kraft gesetzt worden sei): „die Gesamtheit der Fähigkeiten aller reicht immer hin, die Summe von Genüssen herbeizuschaffen, welche die Begierden aller zu ihrer Befriedigung verlangen“.(44) Der junge Engels übrigens setzt sich mit der Auffassung Fouriers auseinander und paraphrasiert sie: „Da jedes Individuum eine Neigung oder Vorliebe für eine ganz bestimmte Arbeit habe, müsse die Summe der Neigungen aller Individuen im großen ganzen eine ausreichende Kraft darstellen, um die Bedürfnisse aller zu befriedigen.“ Und wer putzt gerne Klos? Wieso Engels, nachdem er den Quatsch so deutlich in Worte fasst, diesen nicht als solchen erkennt und benennt, sondern als „großes Axiom der Sozialphilosophie“ und als „Ei des Kolumbus“ würdigt, verstehe wer will.(45)
Dass Arbeiten Spaß machen können, kann sein, ist aber Zufall. Ihrem Wesen nach, das nach genauer begrifflicher Bestimmung verlangt, sind sie nicht freie Tätigkeit wie etwa Fußballspielen oder Komponieren, die ihren Zweck in sich selbst tragen können, sondern Mittel zum Zweck und insofern leider in erster Linie notwendig, d.h. weder selbst Bedürfnis noch Zweck. Sich des instrumentellen Verhältnisses zur Arbeit zu entledigen, indem man sie zum Genuss verklärt, bedeutet, ihrer tendenziellen Abschaffung und damit dem Genuss entgegenzuwirken. Das geschah in der realsozialistischen Ideologie, die den Protestantismus der westlichen Gesellschaft nachäffte und die Arbeit zur Tugend verklärte. „Arbeit als erstes Lebensbedürfnis“ beziehungsweise als Prinzip der Selbstverwirklichung war ein marxistisches Mantra, mittels dessen die sozialistischen Bürger auf ihre Arbeit in Bergwerken, am Fließband und sonst wo eingeschworen wurden. Der Grund dafür liegt nahe: Die Steigerung der gesamtgesellschaftlichen Produktion, sofern sie mittels Plan geregelt ist, gelingt nur, wenn die Arbeitskräfte die Arbeit plangemäß ausführen und trotz des Umstandes, dass sie Individuen sind, wie Rädchen in einer Maschinerie funktionieren. Das kann durch Anreize oder Zwang gewährleistet werden. Der Zwang kann äußerlich repressiv errichtet oder ideologisch implementiert werden. Inwieweit jene freie Erziehung, der die meisten Frühsozialisten in der Hoffnung zusprachen, sie würde den sozialistischen Menschen zeitigen, ein hölzernes Eisen ist oder eine Illusion, die sich in der Praxis als Implementierung des Zwangs zum Kollektiv entpuppt, sei als gewichtige Frage nur vermerkt. Hier soll sich nochmals dem Verhältnis von Gerechtigkeit und Freiheit zugewandt werden.

Gerechtigkeit und Billigkeit, Wertgesetz und Staat
      „Summum ius summa iniuria.“
      (Cicero)(46)
„Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung!“ Dies war ab 1831 das Motto der frühsozialistischen Saint-Simonistischen Zeitung Le Globe. Jeder soll seinen Fähigkeiten entsprechend arbeiten und seinen Leistungen entsprechend vergütet werden. Statt dass sich einige Müßiggänger oder Schmarotzer von der Arbeit anderer ernähren, soll Gerechtigkeit herrschen und ihr Maßstab die Arbeitsleistung sein. Andere Frühsozialisten äußerten Kritik an diesem Motto, der sich Marx anschloss: „Das Recht der Produzenten ist ihren Arbeitslieferungen proportional; die Gleichheit besteht darin, dass an gleichem Maßstab, der Arbeit, gemessen wird. Der eine ist aber physisch oder geistig dem andern überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeit oder kann während mehr Zeit arbeiten […]. Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. […] Es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht. Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehen; aber die ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedene Individuen, wenn sie nicht ungleiche wären) sind nur an gleichem Maßstab messbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite fasst, z.B. im gegebenen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet; und weiter nichts an ihnen sieht, von allem anderen absieht. Ferner: Ein Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht; einer hat mehr Kinder als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine faktisch mehr als der andre etc. Um all diese Missstände zu vermeiden, müsste das Recht, statt gleich, ungleich sein.“(47) Darf jemand, der kraft seiner natürlichen Anlagen eine große Arbeitsleistung erbringen kann, mehr konsumieren dürfen als jemand, der beispielsweise behindert ist? Hoffentlich nicht. Das ist der Pferdefuß eines einheitlichen Maßstabs, der Recht wie Gerechtigkeit eigen ist.
Die Frühsozialisten und Marx rühren an dieser Stelle an einem uralten Problem, über das sich schon Platon und Aristoteles den Kopf zerbrochen haben. Gesetze, die gewähren sollen, dass Gerechtigkeit herrscht und alle an gleichem Maßstab gemessen werden, hätten Platon zufolge den Nachteil, dass sie beziehungsweise der Maßstab, den sie implizieren, abstrakt sind und damit dem jeweils konkreten Fall, auf den sie angewandt werden, nicht gerecht werden können. Das abstrakte (einfache) Gesetz könne niemals der Vielfalt der Fälle, über die es entscheiden soll, und dem jeweils besonderen Fall gerecht werden: „Unmöglich [...] kann sich zu dem niemals Einfachen das richtig verhalten, was durchaus einfach ist.“; das festgeschriebene Gesetz verhalte sich zur Welt wie ein „selbstgefälliger und ungelehriger Mensch“.(48) Durch eine abstrakte Rechtsordnung würde die Idee der Gerechtigkeit geradezu unterlaufen; letzterer wegen plädiert Platon daher für die Vernunft in ihrer nicht fixierten Gestalt: Philosophen sollen jeden Fall in seiner Besonderheit betrachten und ein gerechtes Urteil sprechen. Aristoteles greift gleiche Frage auf, „ob es zuträglicher sei, von dem besten Mann oder von den besten Gesetzen beherrscht zu werden“.(49) Da selbst ein solcher Mensch „mit Leidenschaften, die die Seele bewegen, behaftet“(50) ist, könne er nicht von den eigenen Neigungen loslassen und würde in bestimmten Fällen ungerecht urteilen.(51) Besser sei es daher, wenn viele Menschen zusammentreten und Gesetze erlassen: „Denn da ihrer viele sind, so kann jeder einen Teil der Tugend und Klugheit besitzen, und kann die Gesamtheit durch ihren Zusammentritt wie ein einziger Mensch werden [...].“(52) Der allgemeine Wille und die allgemeine Vernunft sollen sich in Gesetzen manifestieren und herrschen. Aristoteles kommt also zu dem Schluss, dass nicht kluge Menschen, sondern dass demokratische, d.h. „richtig gefasste Gesetze herrschen müssen“.(53) Der späte Platon greift die Argumentation Aristoteles auf. Er hält an seiner früheren Utopie nur noch religiös fest und gesteht ein, dass es nicht möglich ist, auf Philosophen zu bauen: „Der Grund hiervon ist der, dass keines Menschen Natur mit einer solchen Fähigkeit begabt ist, dass sie nicht nur erkennt, was den Menschen für ihre staatliche Gemeinschaft nützt, sondern auch, wenn sie es erkannt hat, die Kraft und den Willen aufbringt, das Beste zu verwirklichen. [...] Wenn allerdings einmal durch göttliche Fügung ein Mensch mit jener natürlichen Fähigkeit geboren würde und imstande wäre, eine solche Machtstellung zu erlangen, so brauchte es keinerlei Gesetze, die über ihn herrschen müssten. Denn dem Wissen ist kein Gesetz und keine Ordnung überlegen; und es widerspräche auch der göttlichen Satzung, wenn die Vernunft etwas anderem untertan und dessen Sklavin wäre, sondern sie muss über alles herrschen, sofern sie wirklich in ihrem Wesen wahrhaft und frei ist. Nun aber findet sich ja doch nirgends eine solche Fähigkeit, es sei denn in geringem Maße; darum gilt es das Zweitbeste zu wählen, die Ordnung und das Gesetz [...].“(54) Die Rechtsordnung, deren Mangel Platon und Marx dargelegt haben, ist also bei weitem nicht die perfekte Lösung. Aristoteles sinnt nach einer Lösung jenes „in der Natur der Sache“(55) liegende Problem, um dessen Benennung er sich keineswegs herumdrückt: „Jede einzelne Bestimmung des Rechtes und Gesetzes verhält sich wie das Allgemeine zum besonderen. Die konkreten praktischen Fälle sind ja viele, jene Bestimmungen sind aber je eine einzelne, weil sie allgemein für alle einschlägigen Fälle gelten.“(56) Aristoteles zufolge bedürfe es als Korrektiv des Gesetzes daher des Prinzips der Billigkeit, dem durch das Amt des Richters eine Stimme verliehen werden müsse. Der Richter müsse zwar recht, zugleich aber auch billig urteilen, um nicht nur allgemein gerecht zu urteilen, sondern auch dem besonderen Fall gerecht zu werden – und zwar so, wie „es auch der Gesetzgeber selbst, wenn er den Fall vor sich hätte, tun, und wenn er ihn gewusst hätte, es im Gesetz bestimmt haben würde“.(57) Gesetz und Billigkeit sind nicht dasselbe, können aber nur in ihrer wechselseitigen Bezogenheit ihrem Zweck dienen: der Idee der Gerechtigkeit. Im Gericht bedeutet das beispielsweise für den Richter, nicht nur das gesetzlich vorgeschriebene Strafmaß gemäß der Tat zu bestimmen, sondern in seinen Urteilsspruch auch die Motive und Umstände der Tat und des Täters in das Urteil einfließen zu lassen.
Das Verhältnis von Gesetz und Billigkeit finden wir ebenso im Verhältnis von Tausch und dem Ideal distributiver Gerechtigkeit, d.h. organisierter statt blinder oder abstrakter Verteilungsgerechtigkeit wieder. Der Tausch, sofern er seinem Ideal entspricht und nicht in der Übervorteilung einer Partei besteht, stellt ein abstraktes Prinzip dar, dem alle Individuen gleichermaßen gegenüberstehen. Marx zufolge gilt im Warentausch daher auch ein Gesetz, das „Wertgesetz“(58). Und nicht das Prinzip der Billigkeit. Denn gerade im Warentausch, der – da sich in ihm das Wertgesetz blind und somit mit eherner Notwendigkeit durchsetzt – keine Ausnahmen kennt, sind die Individuen „Gleichgültige gegeneinander. Ihr sonstiger Unterschied geht sie nichts an. Ihre individuelle Besonderheit geht nicht in den Prozeß ein.“(59) In der sozialen Marktwirtschaft versucht daher der Staat – der Idee nach – das abstrakte Wertgesetz durch das Prinzip der Billigkeit zu korrigieren. Er tritt dann als eine Art Richter auf, falls jemand zu schwach und zu benachteiligt ist, um sich am Arbeits- und Leistungsmaßstab, der der freien Marktwirtschaft und damit auch dem Arbeitsmarkt zugrunde liegt, zu messen. Sofern er also Sozialstaat ist, hemmt der Staat die freie individuelle Entfaltung der Individuen nicht nur, sondern ist sogleich die Bedingung der Freiheit derjenigen, die als Schwache benachteiligt wären und weit weniger nach ihren Bedürfnissen leben könnten, würde die Abstraktheit des Wertgesetzes ungebrochen herrschen.
Während die Saint-Simonisten das Wertgesetz und damit die Idee des Tausches, die in der kapitalistischen Produktionsweise durch die Eigentumsordnung beziehungsweise das Klassenverhältnis unterminiert wird, von der Form des Tausches befreien und stabsplanmäßig durchsetzen wollten, hingen andere Frühsozialisten sowie auch Marx der Utopie nach, die Billigkeit über ihre Funktion als Korrektiv des Gesetzes hinaus zum alleinigen Prinzip der Gerechtigkeit werden zu lassen: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“(60) Dieser Utopie nach kann (oder soll?(61)) jeder entsprechend seinen Fähigkeiten arbeiten, ohne dass seine Arbeitsleistung darüber entscheidet, inwieweit er seine Bedürfnisse befriedigen kann. Die mutmaßliche Urfassung der Utopie, bevor sie von den Frühsozialisten und schließlich Marx aufgegriffen wurde, findet sich in dem „Gesetzbuch der Natur“ (1754) des jesuitischen Gelehrten Gabriel Bonnot de Mably (1709-1785) und in einem dazugehörigen Kommentar des geheimnisumwitterten, hie und da geisterhaft erscheinenden Philosophen Étienne-Gabriel Morelly (1717-1776). Darin heißt es hinsichtlich eines idealen Zustands, dass „jeder Bürger seinerseits zum öffentlichen Nutzen beitragen wird nach seinen Kräften, Talenten und seinem Alter“ und dass unter den Bürgern „weder verkauft noch getauscht wird“ und jedem zusteht, „was er braucht“: „jeder nimmt nach seinen Bedürfnissen“. Diese Utopie bezeichnet Morelly sehr treffend als „harmonische Ungleichheit“.(62) Die Individuen würden in ihrer Verschiedenheit bestehen können. Klingt gut. Leider ist noch nicht geklärt, inwieweit die Bedürfnisse befriedigt werden können, wenn niemand – und sei es durch das Wertgesetz – zur Arbeit gezwungen wird. Auch Marx weiß sich nur mit einer religiösen Metapher zu helfen. Das utopische Motto könne erst in einer „höheren Phase“ umgesetzt werden, dann nämlich, wenn – wie Milch und Honig – „alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen“.(63) Zuvor, in der „ersten Phase“, quasi dem Diesseits jener „höheren Phase“, pflichtet Marx den Saint-Simonisten bei: Der Arbeiter „erhält von der Gesellschaft einen Schein, dass er soundso viel Arbeit geliefert“ hat und kann diesen gegen Güter eintauschen.(64) Eine solche Gerechtigkeit folgt dem Motto: Jedem nach seiner Leistung, und „ist daher immer noch dem Prinzip nach – bürgerliches Recht, obgleich Prinzip und Praxis sich nicht mehr in den Haaren liegen“(65); das Prinzip des Warentausches wird praktisch nicht mehr durch das Klassenverhältnis sabotiert, indem es jenseits der Form des Warentauschs als distributive Gerechtigkeit verwirklicht wird.

Fazit: Das Dilemma

Damit ist das Dilemma von Gerechtigkeit und Freiheit, das zu lösen wäre, verdoppelt, verkehrt, verhext:
Einerseits: Des allgemeinen Wohlstands wegen erscheint es richtig, die gesellschaftliche Produktion und Distribution konzertiert und rational zu organisieren. Dann aber besteht die Gefahr, dass die Individuen dem ökonomischen Plan subordiniert und somit unfrei werden. Von dieser Perspektive aus betrachtet scheint die Planwirtschaft die Allgemeinheit zu unterstützen und der Freiheit des Einzelnen entgegenzustehen, während die kapitalistische Marktwirtschaft samt ihrer über den Markt vermittelten Produktion und Distribution dem Allgemeinwohl entgegensteht, dafür aber dem Individuum mehr Spielraum lässt.
Anderseits – in anderer Perspektive verkehrt sich das Dilemma: Der blinde Ablauf von Produktion und Distribution in der Marktwirtschaft steht dem Individuum entgegen, weil das abstrakte Wertgesetz zwar alle mit dem selben Maßstab misst, aber der Vielfalt der Individuen und ihrer Bestimmungen nicht gerecht wird, während die bewusste und geplante Produktion und Distribution dem Individuum gerecht werden könnte, indem sie die Individuen nicht allein unter dem Gesichtspunkt des Arbeits- und Leistungsprinzips fasst. Gleichzeitig ertönt jene Frage, ob der sich schon Platon schließlich doch gegen in jedem Einzelfall konkrete und von Personen getroffene Beurteilungen und für die zweitbeste Lösung, die Herrschaft der Gesetze, entschieden hat: Inwieweit würde eine solche bewusste Planung in Herrschaft und Willkür umschlagen und der Idee allgemeiner Gerechtigkeit entgegenstehen?
Eine Lösung des Dilemmas existiert entweder prekär in der sozialen Marktwirtschaft, d.h. der schwierigen und krisenanfälligen Austarierung von freiem Markt und staatlichem Eingriff, Tauschgerechtigkeit und bewusster Zuteilung, oder, jenseits dessen, in einem ganz anderen Lösungsansatz. Ein solcher Lösungsansatz aber birgt ob seiner Unvermitteltheit mit der jetzigen Einrichtung der Gesellschaft die Gefahr, eine Erlösungsvorstellung in areligiösem Gewand zu sein und jene voluntaristische Gewalt zu implizieren, vor der schon eingangs des Textes gewarnt wurde. Die Gefahr bestände in dem Versuch, die materielle Welt und das Leben der Erlösungsvorstellung (beziehungsweise – philosophisch gesprochen – die mannigfaltige Welt einem abstrakten Begriff) gefügig zu machen und dadurch der Harmonischen Ungleichheit geradewegs entgegenzusteuern, und wäre groß, weil sie durch das schlagende Argument legitimiert werden könnte, der Errichtung des Paradieses auf Erden zu dienen.
Um nicht Gewalt zu werden, müsste jener ganz andere Lösungsansatz mit Demut gesucht und umgesetzt werden. Diese Eigenschaft allerdings ist das Gegenteil jener, nach dem Scheitern des real existierenden Sozialismus zumeist zur adoleszenten Farce verkommenen, messianischen Hybris, die Anarchisten, Kommunisten und Frühsozialisten im Guten wie im Schlechten zumeist ausgezeichnet und angetrieben hat.

Hannes Giessler

Literatur:
  • Aristoteles, Nikomachische Ethik [übersetzt von Eugen Rolfes], Hamburg 1985
  • Aristoteles, Politik [übersetzt von Eugen Rolfes], Hamburg 1981
  • Gracchus Babeuf, Brief an Charles Germain [1795], in: Höppner u.a., a.a.O.
  • Filippo Buonarroti, Entwurf eines ökonomischen Dekrets [1830], in: Höppner u.a., a.a.O.
  • Louis Blanc, Organisation der Arbeit [1839], in: Höppner u.a., a.a.O.
  • Étienne Cabet, Kommunistisches Glaubensbekenntnis [1841], in: Höppner u.a., a.a.O.
  • Étienne Cabet, Warum ich Kommunist bin [1841], in: Höppner u.a., a.a.O.
  • Victor Considerant, Kurzer Abriß von Fouriers Phalanxsystem [1841], in: Höppner u.a., a.a.O.
  • Théodore Dézamy, Gesetzbuch der Gütergemeinschaft [1842], in: Höppner u.a., a.a.O.
  • Charles Fourier, Die neue sozialistische Welt der Arbeit oder Entdeckung des Verfahrens einer nach Leidenschaftsserien eingeteilten, anziehenden, naturgemäßen Produktionsweise [1829]; in: Höppner u.a., a.a.O.
  • Joachim Höppner u. Waltraut Seidel-Höppner, Von Babeuf bis Blanqui. Band II: Texte, Leipzig 1975
  • Friedrich Engels, Anti-Dühring, Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 20, Berlin 1975
  • Friedrich Engels, Fortschritte der Sozialreform auf dem Kontinent, MEW, a.a.O., Bd. 1
  • Moses Hess, Über die Noth in unserer Gesellschaft und deren Abhilfe [1845], in: ders., Philosophische und sozialistische Schriften 1837-1850, Berlin 1980
  • Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno, Diskussion über Theorie und Praxis, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 19, Frankfurt am Main 1985
  • Richard Lahautière, Kleiner Katechismus der Gesellschaftsreform [1839], in: Höppner u.a., a.a.O.
  • François-Joseph L‘Ange, Universalmittel oder unverletzliche Verfassung des allgemeinen Glücks [1793], in: Höppner u.a., a.a.O.
  • Albert Laponneraye, Demokratischer Katechismus [1838], in: Höppner u.a., a.a.O.
  • Lenin, Staat und Revolution, Werke Bd. 25
  • Karl Marx, Das Kapital Bd. 1, MEW, a.a.O., Bd. 23
  • Karl Marx, Das Kapital Bd. 3, MEW, a.a.O., Bd. 25
  • Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW, a.a.O., Bd. 19
  • Karl Marx, Urtext, in: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1974
  • Ahlrich Meyer, Frühsozialismus. Theorien der sozialen Bewegungen 1789-1848, Freiburg u. München 1977
  • Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Berlin/New York 1988
  • Robert Owen, Das soziale System [1827], Leipzig 1988
  • Robert Owen, Über das Eigentum [1835], in: ders., Das soziale System, a.a.O.
  • Jean Jacques Pillot, Weder Schlösser noch Hütten oder Der Stand der sozialen Frage im Jahre 1840, in: Höppner u.a., a.a.O.
  • Platon, Gesetze [übersetzt von Klaus Schöpsdau], Werke in 8 Bänden, Bd. 8, Darmstadt 2001
  • Platon, Der Staatsmann [übersetzt von Friedrich Schleiermacher], Werke in 8 Bänden, Bd. 6, a.a.O.
  • Claudi-Henri Saint-Simon, Der Organisator [1819/20], in: Höppner u.a., a.a.O.
  • Die saint-simonistische Lehre. Allgemeine Zusammenfassung der 1829 und 1830 von Saint-Simonisten gegebenen Darstellung, in: Höppner u.a., a.a.O.
  • Wilhelm Weitling, Garantien der Harmonie und Freiheit [1842], Berlin 1955
Anmerkungen

(1) Owen 1827, S. 16

(2) Owen 1835, S. 122

(3) Considerant 1841, S. 248f.

(4) Lahautière 1839, S. 253

(5) L‘Ange 1793, S. 24

(6) Owen 1827, S. 71

(7) Die saint-simonistische Lehre 1829f., S. 151

(8) Owen1827, S. 36f.

(9) Fourier, zit. n.: Meyer, S. 76

(10) Cabet 1841, S. 402 u. S. 385f.

(11) Babeuf 1795, S. 60f.

(12) Saint-Simon 1819/20, S. 129

(13) Dézamy 1842, S. 502

(14) Adorno im Gespräch mit Horkheimer, in: Horkheimer, S. 41

(15) Laponneraye 1838, S. 290

(16) Babeuf 1795, S. 55

(17) Laponneraye, 1838, S. 282 u. 291

(18) Weitling 1842, S. 167

(19) Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 1. Teil, Nr. 473

(20) Dézamy 1842, S. 492f.

(21) Owen 1827, S. 61

(22) Babeuf 1795, S. 63

(23) Lahautière 1839, S. 254

(24) Buonarroti 1830, S. 105

(25) Laponneraye 1838, S. 281

(26) Considerant 1841, S. 217

(27) Twentieth Century, Pet Shop Boys

(28) Blanc 1839, S. 362

(29) Considerant 1841, S. 218

(30) Engels, Anti-Dühring, S. 241

(31) Marx, Das Kapital Bd. 1, S. 94

(32) Marx, Das Kapital Bd. 3, S. 859

(33) siehe: Marx, Kritik des Gothaer Programms, S. 20

(34) Engels gibt Einblick in diese Vorgehensweise in einem an die Kritik des Gothaer Programms direkt angelehnten Brief an August Bebel: „Man sollte das ganze Gerede von Staate fallen lassen […]. Der Volksstaat ist uns von den Anarchisten bis zum Überdruss in die Zähne geworfen wurden […] Wir würden daher vorschlagen, überall statt Staat ‚Gemeinwesen‘ zu setzen […].“ (März 1875, in: MEW Bd. 19, S. 6f.)

(35) Vgl.: L‘Ange 1793, S. 39ff.

(36) Laponneraye 1838, S. 281

(37) Fourier 1829, S. 192

(38) Fourier 1829, S. 180 u. 183

(39) Hess 1845, S. 323

(40) Considerant 1841, S. 230 f.

(41) ebd., S. 230

(42) Dézamy 1842, S. 491

(43) Dézamy, zit. n.: Meyer, S. 142

(44) Weitling 1842, S. 128

(45) Engels, Fortschritte der Sozialreform auf dem Kontinent, S. 483

(46) „Höchstes Recht ist höchste Ungerechtigkeit.“

(47) Marx, Kritik des Gothaer Programms, S. 20f.

(48) Platon, Der Staatsmann, 294c

(49) Aristoteles, Politik, III, 15, 1286a

(50) ebd., III, 10, 1281a

(51) Ähnlich in der Nikomachischen Ethik: „Darum lassen wir keinen Menschen, sondern die Vernunft herrschen, weil der Mensch sich in der bezeichneten Weise zuteilt und ein Tyrann wird.“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 10, 1134a-b)

(52) Aristoteles, Politik, III, 11, 1281b

(53) ebd., III, 11, 1282b. Den Einwand, dass auch das Gesetz einen Hüter braucht, dem nun ähnliche Einwände entgegen gehalten werden könnten, die er gegen den besten Mann anführt, kann Aristoteles nicht richtig entkräften: „Der wahre Herrscher ist Wächter des Rechts und mit dem Recht auch der Gleichheit. Und da er vor den anderen nichts voraus haben will, wenn er gerecht ist [...], so muß ihm ein gewisser Lohn zugestanden werden, und dies ist die Ehre und der Ruhm. Wem aber dies nicht genügt, der wird ein Tyrann.“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 10, 1134b)

(54) Platon, Gesetze, IX, 875a-d

(55) Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 14, 1137b

(56) ebd., V, 10, 1135a

(57) ebd., V, 14, 1137b

(58) Marx, Das Kapital Bd. 3, S. 186

(59) Marx, Urtext, S. 913

(60) Marx, Kritik des Gothaer Programms, S. 21

(61) So kann der Passus „Jeder nach seinen Fähigkeiten“ auch gemeint sein: „Die Eigenschaft des Körpers wie Gesundheit und Kraft und die Eigenschaften des Geistes wie Denkvermögen und Scharfsinn setzen keinen anderen Unterschied zwischen dem, der besonders viel, und dem, der besonders wenig davon besitzt, als den, dass der eine größere Aufgaben zu übernehmen hat als der andere.“ (Pillot 1840, S. 446) Lenin stößt ins gleiche Horn: „Der Staat wird dann völlig absterben können, [...] wenn die Menschen sich so an des Befolgen der Grundregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens gewöhnt haben werden [...], dass sie freiwillig nach ihren Fähigkeiten arbeiten werden. Der enge ‚bürgerliche Rechtshorizont‘, der dazu zwingt, [...] bedacht zu sein, nur ja nicht eine halbe Stunde länger zu arbeiten als der andere und keine geringere Bezahlung zu erhalten als der andere -– dieser enge Horizont wird dann überschritten sein.“ (Lenin, S. 483)

(62) zit. n.: Meyer, S. 288-292

(63) Marx, Kritik des Gothaer Programms, S. 21

(64) ebd., S. 20

(65) ebd.

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last modified: 22.4.2009