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Allgemeinwohl und Freiheit |
Weiter währende Fragen des Frühsozialismus
Platanen blattlos, in der schwarzen Luft halbtot; Ein Omnibus, Orkan aus Schmutz und Eisenteilen, Knirscht, seine Massen unrecht auf vier Rädern weilen, Und langsam grünes Auge, rotes Auge gafft; Arbeiter unterwegs zum Club, der eine pafft Dem Polizisten mitten ins Gesicht den Knaster; Sehr üble Häuser, feuchte Mauern, glitschiges Pflaster; Asphalt zerstört, Kanal verstopft durch Regenguss: Dies ist mein Weg jedoch das Paradies zum Schluss. (Paul Verlaine) So sehr der Frühsozialismus auch in der Tradition der Aufklärung stand und ein Versuch ihrer Radikalisierung war, und so sehr er sich auch dem Diesseits zuwandte, so wenig verabschiedete er sich von Paradiesvorstellungen. Haben bürgerliche Aufklärer, beispielsweise Immanuel Kant, der Aufklärung im Diesseits einen Weg geschlagen, indem sie Glauben und Wissen voneinander trennten und der Religion einen privaten, unpolitischen Bereich zuwiesen, so haben revolutionäre Anarchisten, Sozialisten und Kommunisten den religiösen Glauben radikal aufgehoben und zwar in ihren Diesseitsutopien. Teilweise, ohne das zu verhehlen: Tatsächlich wäre die Verwirklichung der universellen Assoziation die soziale Verwirklichung des Christentums, die Ankunft des Himmels und seiner Gerechtigkeit auf Erden, das wieder gewonnene Paradies.(3) Die Frage, ob eine diesseitig gewendete religiöse Erlösungsvorstellung, zumal durch die reflexartige wie reflexionslose Beteuerung, dass man nicht religiös sei, jenen militanten Voluntarismus evoziert hat, der später in den Verbrechen des real existierenden Sozialismus waltete, ist zu wichtig, als dass sie hier nebenbei verhandelt werden könnte. Ihre große Bedeutung, gerade wenn man vom revolutionären Geist getrieben ist und seiner Reflexion bedarf, sei an dieser Stelle nur angezeigt. Soziale Frage, universalistische Antwort
(Richard Lahautière)(4) Rationalisierung der Produktion
(Robert Owen)(8) Die Frühsozialisten hatten eine ganz simple und nahe liegende Idee, um das Elend zu mildern; die gesamtgesellschaftliche Produktion müsse radikal anders organisiert werden, sie darf nicht mehr dezentral vonstatten gehen: Ich glaube, dass man alle Produktionszweige als Glieder einer einheitlichen gesellschaftlichen Produktion ansehen muss, die von einem einheitlichen Willen geleitet wird. Ich glaube, dass es die Gesellschaft sein muss, die die Arbeit verteilt und leitet, die Werkstätten einrichtet und versorgt und alle Arbeiter einsetzt. [ ] Die Gesamtheit der natürlichen und industriellen Produkte wird in riesigen Speichern gesammelt und gleichermaßen an alle Arbeiter oder alle Bürger verteilt [...].(10) Diese Hoffnung bei gleichzeitigem Vertrauen in die Möglichkeiten der Industrie einigt den Frühsozialismus. Zum Beweis: Die Konkurrenz fabriziert blindlings, konstatiert Gracchus Babeuf zum Ausgang des 18. Jahrhundert und verlangt, dass die Produktion [...] nicht mehr blind abläuft; sofern die Industrie genossenschaftlich organisiert wird, bringt sie mir und allen, deren Arbeit sie erleichtert, Muße, und diese Muße ist dann keine unheilvolle Arbeitslosigkeit mehr, sondern angenehme Freizeit.(11) Claudi-Henri Saint-Simon ein Vierteljahrhundert später: Bis heute wirkten die Menschen gewissermaßen nur individuell und isoliert auf die Natur ein. Mehr noch, ihre Kräfte rieben sich zum großen Teil individuell auf [...] Man bedenke jedoch, welche Stufe erreicht werden könnte, wenn die Menschen [...] sich organisierten, um ihre vereinten Anstrengungen der Natur zuzuwenden [...].(12) Ein weiteres Vierteljahrhundert später möchte Théodore Dézamy der Reichtümer und des Überflusses halber alle Tätigkeiten, Anstrengungen, Talente und Energien zentralisieren, konzentrieren, kombinieren, vereinigen und in Übereinstimmung bringen.(13) Noch Theodor W. Adorno lässt nicht von der Idee ab: In einer Welt, die so geplant wäre, dass alles, was man tut, in einer durchsichtigen Weise dem Ganzen dient und nicht mehr darin besteht, dass unsinnige Tätigkeiten ausgeführt werden, würde ich gerne zwei Stunden am Tag den Lift bedienen.(14) Entsprechend den beiden Idealen, die die Frühsozialisten verbinden, nämlich zum einen Gerechtigkeit (sowohl hinsichtlich der Verteilung der Arbeit als auch der Verteilung der Güter) und zum anderen eine rationale, gemeinschaftlich organisierte Produktion, ergeben sich Fragen hinsichtlich der freien Entfaltung des Individuums, die die Frühsozialisten in ihrem Industrialisierungs-, Wissenschafts- und Rationalisierungsoptimismus nicht scharf genug betrachtet haben. Allgemeinheit und Individuum
(Albert Laponneraye)(15) Friedrich Nietzsche hatte davor gewarnt, dass mit dem sozialistischen Ruf nach absoluter Gerechtigkeit eine neue Schreckensherrschaft entstehen würde, in der das Individuum zu einem zweckmäßigen Organ des Gemeinwesens umgebessert würde.(19) Wie vorausschauend könnte man meinen. Aber Nietzsche hatte nicht vorausschauen müssen; ein Frühsozialist hatte ebenjene Dystopie längst schwarz auf weiß hinterlassen: In einem früher erwähnten Vergleich verwies ich bereits darauf, dass der Mensch im gesellschaftlichen Organismus genau dasselbe ist wie ein Glied im menschlichen Organismus. Hat uns denn das Studium des menschlichen Körpers nicht mit mathematischer Genauigkeit bewiesen, dass es in keinem Wesen ein Glied, ein Organ gibt, das jemals einem anderen Glied, einem anderen Organ absichtlich zu schaden vermöchte und der Gesundheit und dem gemeinsamen Leben zuwider oder von ihm unabhängig zu wirken imstande wäre, das sich jemals weigern oder auch nur zögern würde, seine Funktion zu erfüllen und der Harmonie und Gesundheit des Lebewesens zu dienen, kurz, das sich entschließen könnte, dem Gemeinwohl böswillig zu schaden? Der Einzelne im Dienst des Allgemeinen. Und wenn nicht? Wenn aber ein Organ von diesem physiologischen Gesetz abweicht? Dann ist es irgendwie unpässlich, krank oder verletzt.(20) Und was macht man mit kranken Organen? Man bessert sie aus, oder man tauscht sie aus. So denken auch andere Frühsozialisten, etwa Owen: Wenn das Verhalten irgendeiner Person schädlich für das Wohlergehen des Gemeinwesen ist, so muss man sie ausstoßen.(21) Dabei denken die Frühsozialisten nicht nur an Herrscher und Ausbeuter. Nichts weniger als ein Kapitalverbrechen sei es etwa, wenn sich jemand auf die faule Haut legt, so Babeuf.(22) Durch Müßiggänger befände sich die Gesellschaft in Gefahr, warnt Lahautière ein paar Jahrzehnte später.(23) Filippo Buonarroti macht einen praktischen Vorschlag: Faulheit, Luxus und Liederlichkeit seien mit Zwangsarbeit zu bestrafen.(24) Gar kein Halten kennt Laponneraye: Der Müßiggänger aber muss abgestoßen werden wie nutzloser Ballast, wie ein gefährlicher Aussätziger; denn überall, wo es Müßiggänger gibt, herrschen Laster und Verderbtheit.(25) Solche Positionen würden abstrakt negiert werden, wenn das grundlegende Problem gesellschaftlicher Konstitution und die Schwierigkeit seiner Lösung nicht ernst genommen wird. Wie können Gerechtigkeit und individuelle Freiheit zugleich garantiert werden? Konkreter: Wie kann gerecht produziert werden, also so, dass die gesellschaftlich notwendige Arbeit auf allen und nicht wenigen Schultern lastet, ohne die Einzelnen in die Pflicht zu nehmen? Wie kann der Reichtum der Gesellschaft gerecht auf ihre Mitglieder verteilt werden, ohne Einzelne zu begrenzen? Da können sich Ideologiekritiker oder Dekonstruktivisten noch so idealistisch gebärden und versuchen, Kategorien wie Arbeit oder Gerechtigkeit als kapitalistische Ideologien oder Konstrukte aufzulösen schließlich, in der Gesellschaft ihrer Wahl, würden sie ihnen als Tatsachen doch wieder auf die Füße fallen, wahrscheinlich ob ihrer Schmähung als Verarmung und Ungerechtigkeit. Dann doch lieber die weniger naiven Konzeptionen der Frühsozialisten. Verwaltete Welt
(Victor Considerant)(26) Hinter den Fragen, ob die planmäßige Organisation der gesellschaftlichen Produktion basisdemokratisch überhaupt möglich, ob sie für den Einzelnen nicht zermürbend wäre und ob aus dem Anspruch planmäßiger Organisation nicht automatisch ein despotischer Verwaltungs- respektive Staatsapparat resultieren würde, versteckt sich eine noch wesentlichere Frage. Wie frei wäre das Individuum schließlich im gesellschaftlichen Produktionsprozess sowie in der Konsumtion? Man bedenke, dass sich vielleicht gerade Räte- oder sonstige Basisdemokratien hervorragend dazu eignen, das Individuum dem allgemeinen Willen zu subordinieren und insbesondere Schwache, Einzelgänger, Leisetreter, Sonderlinge, Verschrobene und Grübler diesem schutzlos auszusetzen. Gesellschaftlich notwendige Arbeit
(Charles Fourier)(37) Allerdings ist die Verbesserung von Arbeitsbedingungen janusköpfig, steckt in ihr doch die Gefahr, den Zwangscharakter der Arbeit zu verschleiern. Das geschieht, wenn heute die so genannte Digitale Boheme ihre Arbeitsbedingungen verklärt, wenn in Japan das gesamte Kollegium einhellig den Arbeitstag damit beginnt, auf dem begrünten Dach ihrer Fabrik zu turnen und die Unternehmenshymne abzusingen, oder wenn im Sozialistischen Realismus glücklich dreinschauende, mistgabel-, hammer- und zirkelhaltende Arbeitskräfte ikonisiert wurden. Wenn ein erstklassiger Epigone Fouriers beteuert, dass die Anziehungskraft der Arbeit vergrößert würde, wenn sich die Arbeiter zusammentun und fröhliche Gruppen bilden(41), dann könnte dies auch als heutiges Motto betriebsinterner Umstrukturierungsmaßnahmen dienen, wonach das Kollegium in Teams untergliedert werden soll, um damit die innerbetriebliche Konkurrenz anzustacheln und vertikale durch horizontale Antreiberei zu ersetzen. Nicht mehr janusköpfig, sondern eindeutig falsch wird es, wenn nicht die Bedingungen der Arbeit attraktiver gemacht werden sollen, sondern die Arbeit selber zur Attraktion oder natürlichen Bestimmung verklärt wird: Indessen ist der Hang des Menschen zur Tätigkeit, und zwar zu nützlicher Tätigkeit, hinreichend ausgeprägt jedenfalls, solange ihn nichts von seiner eigentlichen Natur abbringt.(42) Fourier, Hess, Wilhelm Weitling und Dézamy neigen dazu, an eine göttliche Fügung im Diesseits zu glauben. Demnach scheint es nicht Pech gewesen zu sein, dass die Menschen in einen gottverlassenen Zustand versetzt wurden und nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gekostet haben und quasi verdammt sind, eigenem Leid gewahr zu werden seither nicht anders können, als diesem im Schweiße ihres Angesicht mit ungewissem Ausgang zu fliehen. Die genannten Frühsozialisten erheben die Notwendigkeit zur Arbeit beinahe schon zum Glücksfall, wo doch jeder nützlichen Tätigkeit ein natürlicher Trieb [ ] entspricht.(43) Gleicher glücklichen Fügung redet auch Weitling das Wort, wenn er behauptet, dass in der Gesellschaft das schönste Gleichgewicht menschlicher Fähigkeiten und Begierden besteht (das durch das Privateigentum außer Kraft gesetzt worden sei): die Gesamtheit der Fähigkeiten aller reicht immer hin, die Summe von Genüssen herbeizuschaffen, welche die Begierden aller zu ihrer Befriedigung verlangen.(44) Der junge Engels übrigens setzt sich mit der Auffassung Fouriers auseinander und paraphrasiert sie: Da jedes Individuum eine Neigung oder Vorliebe für eine ganz bestimmte Arbeit habe, müsse die Summe der Neigungen aller Individuen im großen ganzen eine ausreichende Kraft darstellen, um die Bedürfnisse aller zu befriedigen. Und wer putzt gerne Klos? Wieso Engels, nachdem er den Quatsch so deutlich in Worte fasst, diesen nicht als solchen erkennt und benennt, sondern als großes Axiom der Sozialphilosophie und als Ei des Kolumbus würdigt, verstehe wer will.(45) Dass Arbeiten Spaß machen können, kann sein, ist aber Zufall. Ihrem Wesen nach, das nach genauer begrifflicher Bestimmung verlangt, sind sie nicht freie Tätigkeit wie etwa Fußballspielen oder Komponieren, die ihren Zweck in sich selbst tragen können, sondern Mittel zum Zweck und insofern leider in erster Linie notwendig, d.h. weder selbst Bedürfnis noch Zweck. Sich des instrumentellen Verhältnisses zur Arbeit zu entledigen, indem man sie zum Genuss verklärt, bedeutet, ihrer tendenziellen Abschaffung und damit dem Genuss entgegenzuwirken. Das geschah in der realsozialistischen Ideologie, die den Protestantismus der westlichen Gesellschaft nachäffte und die Arbeit zur Tugend verklärte. Arbeit als erstes Lebensbedürfnis beziehungsweise als Prinzip der Selbstverwirklichung war ein marxistisches Mantra, mittels dessen die sozialistischen Bürger auf ihre Arbeit in Bergwerken, am Fließband und sonst wo eingeschworen wurden. Der Grund dafür liegt nahe: Die Steigerung der gesamtgesellschaftlichen Produktion, sofern sie mittels Plan geregelt ist, gelingt nur, wenn die Arbeitskräfte die Arbeit plangemäß ausführen und trotz des Umstandes, dass sie Individuen sind, wie Rädchen in einer Maschinerie funktionieren. Das kann durch Anreize oder Zwang gewährleistet werden. Der Zwang kann äußerlich repressiv errichtet oder ideologisch implementiert werden. Inwieweit jene freie Erziehung, der die meisten Frühsozialisten in der Hoffnung zusprachen, sie würde den sozialistischen Menschen zeitigen, ein hölzernes Eisen ist oder eine Illusion, die sich in der Praxis als Implementierung des Zwangs zum Kollektiv entpuppt, sei als gewichtige Frage nur vermerkt. Hier soll sich nochmals dem Verhältnis von Gerechtigkeit und Freiheit zugewandt werden. Gerechtigkeit und Billigkeit, Wertgesetz und Staat
(Cicero)(46) Die Frühsozialisten und Marx rühren an dieser Stelle an einem uralten Problem, über das sich schon Platon und Aristoteles den Kopf zerbrochen haben. Gesetze, die gewähren sollen, dass Gerechtigkeit herrscht und alle an gleichem Maßstab gemessen werden, hätten Platon zufolge den Nachteil, dass sie beziehungsweise der Maßstab, den sie implizieren, abstrakt sind und damit dem jeweils konkreten Fall, auf den sie angewandt werden, nicht gerecht werden können. Das abstrakte (einfache) Gesetz könne niemals der Vielfalt der Fälle, über die es entscheiden soll, und dem jeweils besonderen Fall gerecht werden: Unmöglich [...] kann sich zu dem niemals Einfachen das richtig verhalten, was durchaus einfach ist.; das festgeschriebene Gesetz verhalte sich zur Welt wie ein selbstgefälliger und ungelehriger Mensch.(48) Durch eine abstrakte Rechtsordnung würde die Idee der Gerechtigkeit geradezu unterlaufen; letzterer wegen plädiert Platon daher für die Vernunft in ihrer nicht fixierten Gestalt: Philosophen sollen jeden Fall in seiner Besonderheit betrachten und ein gerechtes Urteil sprechen. Aristoteles greift gleiche Frage auf, ob es zuträglicher sei, von dem besten Mann oder von den besten Gesetzen beherrscht zu werden.(49) Da selbst ein solcher Mensch mit Leidenschaften, die die Seele bewegen, behaftet(50) ist, könne er nicht von den eigenen Neigungen loslassen und würde in bestimmten Fällen ungerecht urteilen.(51) Besser sei es daher, wenn viele Menschen zusammentreten und Gesetze erlassen: Denn da ihrer viele sind, so kann jeder einen Teil der Tugend und Klugheit besitzen, und kann die Gesamtheit durch ihren Zusammentritt wie ein einziger Mensch werden [...].(52) Der allgemeine Wille und die allgemeine Vernunft sollen sich in Gesetzen manifestieren und herrschen. Aristoteles kommt also zu dem Schluss, dass nicht kluge Menschen, sondern dass demokratische, d.h. richtig gefasste Gesetze herrschen müssen.(53) Der späte Platon greift die Argumentation Aristoteles auf. Er hält an seiner früheren Utopie nur noch religiös fest und gesteht ein, dass es nicht möglich ist, auf Philosophen zu bauen: Der Grund hiervon ist der, dass keines Menschen Natur mit einer solchen Fähigkeit begabt ist, dass sie nicht nur erkennt, was den Menschen für ihre staatliche Gemeinschaft nützt, sondern auch, wenn sie es erkannt hat, die Kraft und den Willen aufbringt, das Beste zu verwirklichen. [...] Wenn allerdings einmal durch göttliche Fügung ein Mensch mit jener natürlichen Fähigkeit geboren würde und imstande wäre, eine solche Machtstellung zu erlangen, so brauchte es keinerlei Gesetze, die über ihn herrschen müssten. Denn dem Wissen ist kein Gesetz und keine Ordnung überlegen; und es widerspräche auch der göttlichen Satzung, wenn die Vernunft etwas anderem untertan und dessen Sklavin wäre, sondern sie muss über alles herrschen, sofern sie wirklich in ihrem Wesen wahrhaft und frei ist. Nun aber findet sich ja doch nirgends eine solche Fähigkeit, es sei denn in geringem Maße; darum gilt es das Zweitbeste zu wählen, die Ordnung und das Gesetz [...].(54) Die Rechtsordnung, deren Mangel Platon und Marx dargelegt haben, ist also bei weitem nicht die perfekte Lösung. Aristoteles sinnt nach einer Lösung jenes in der Natur der Sache(55) liegende Problem, um dessen Benennung er sich keineswegs herumdrückt: Jede einzelne Bestimmung des Rechtes und Gesetzes verhält sich wie das Allgemeine zum besonderen. Die konkreten praktischen Fälle sind ja viele, jene Bestimmungen sind aber je eine einzelne, weil sie allgemein für alle einschlägigen Fälle gelten.(56) Aristoteles zufolge bedürfe es als Korrektiv des Gesetzes daher des Prinzips der Billigkeit, dem durch das Amt des Richters eine Stimme verliehen werden müsse. Der Richter müsse zwar recht, zugleich aber auch billig urteilen, um nicht nur allgemein gerecht zu urteilen, sondern auch dem besonderen Fall gerecht zu werden und zwar so, wie es auch der Gesetzgeber selbst, wenn er den Fall vor sich hätte, tun, und wenn er ihn gewusst hätte, es im Gesetz bestimmt haben würde.(57) Gesetz und Billigkeit sind nicht dasselbe, können aber nur in ihrer wechselseitigen Bezogenheit ihrem Zweck dienen: der Idee der Gerechtigkeit. Im Gericht bedeutet das beispielsweise für den Richter, nicht nur das gesetzlich vorgeschriebene Strafmaß gemäß der Tat zu bestimmen, sondern in seinen Urteilsspruch auch die Motive und Umstände der Tat und des Täters in das Urteil einfließen zu lassen. Das Verhältnis von Gesetz und Billigkeit finden wir ebenso im Verhältnis von Tausch und dem Ideal distributiver Gerechtigkeit, d.h. organisierter statt blinder oder abstrakter Verteilungsgerechtigkeit wieder. Der Tausch, sofern er seinem Ideal entspricht und nicht in der Übervorteilung einer Partei besteht, stellt ein abstraktes Prinzip dar, dem alle Individuen gleichermaßen gegenüberstehen. Marx zufolge gilt im Warentausch daher auch ein Gesetz, das Wertgesetz(58). Und nicht das Prinzip der Billigkeit. Denn gerade im Warentausch, der da sich in ihm das Wertgesetz blind und somit mit eherner Notwendigkeit durchsetzt keine Ausnahmen kennt, sind die Individuen Gleichgültige gegeneinander. Ihr sonstiger Unterschied geht sie nichts an. Ihre individuelle Besonderheit geht nicht in den Prozeß ein.(59) In der sozialen Marktwirtschaft versucht daher der Staat der Idee nach das abstrakte Wertgesetz durch das Prinzip der Billigkeit zu korrigieren. Er tritt dann als eine Art Richter auf, falls jemand zu schwach und zu benachteiligt ist, um sich am Arbeits- und Leistungsmaßstab, der der freien Marktwirtschaft und damit auch dem Arbeitsmarkt zugrunde liegt, zu messen. Sofern er also Sozialstaat ist, hemmt der Staat die freie individuelle Entfaltung der Individuen nicht nur, sondern ist sogleich die Bedingung der Freiheit derjenigen, die als Schwache benachteiligt wären und weit weniger nach ihren Bedürfnissen leben könnten, würde die Abstraktheit des Wertgesetzes ungebrochen herrschen. Während die Saint-Simonisten das Wertgesetz und damit die Idee des Tausches, die in der kapitalistischen Produktionsweise durch die Eigentumsordnung beziehungsweise das Klassenverhältnis unterminiert wird, von der Form des Tausches befreien und stabsplanmäßig durchsetzen wollten, hingen andere Frühsozialisten sowie auch Marx der Utopie nach, die Billigkeit über ihre Funktion als Korrektiv des Gesetzes hinaus zum alleinigen Prinzip der Gerechtigkeit werden zu lassen: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!(60) Dieser Utopie nach kann (oder soll?(61)) jeder entsprechend seinen Fähigkeiten arbeiten, ohne dass seine Arbeitsleistung darüber entscheidet, inwieweit er seine Bedürfnisse befriedigen kann. Die mutmaßliche Urfassung der Utopie, bevor sie von den Frühsozialisten und schließlich Marx aufgegriffen wurde, findet sich in dem Gesetzbuch der Natur (1754) des jesuitischen Gelehrten Gabriel Bonnot de Mably (1709-1785) und in einem dazugehörigen Kommentar des geheimnisumwitterten, hie und da geisterhaft erscheinenden Philosophen Étienne-Gabriel Morelly (1717-1776). Darin heißt es hinsichtlich eines idealen Zustands, dass jeder Bürger seinerseits zum öffentlichen Nutzen beitragen wird nach seinen Kräften, Talenten und seinem Alter und dass unter den Bürgern weder verkauft noch getauscht wird und jedem zusteht, was er braucht: jeder nimmt nach seinen Bedürfnissen. Diese Utopie bezeichnet Morelly sehr treffend als harmonische Ungleichheit.(62) Die Individuen würden in ihrer Verschiedenheit bestehen können. Klingt gut. Leider ist noch nicht geklärt, inwieweit die Bedürfnisse befriedigt werden können, wenn niemand und sei es durch das Wertgesetz zur Arbeit gezwungen wird. Auch Marx weiß sich nur mit einer religiösen Metapher zu helfen. Das utopische Motto könne erst in einer höheren Phase umgesetzt werden, dann nämlich, wenn wie Milch und Honig alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen.(63) Zuvor, in der ersten Phase, quasi dem Diesseits jener höheren Phase, pflichtet Marx den Saint-Simonisten bei: Der Arbeiter erhält von der Gesellschaft einen Schein, dass er soundso viel Arbeit geliefert hat und kann diesen gegen Güter eintauschen.(64) Eine solche Gerechtigkeit folgt dem Motto: Jedem nach seiner Leistung, und ist daher immer noch dem Prinzip nach bürgerliches Recht, obgleich Prinzip und Praxis sich nicht mehr in den Haaren liegen(65); das Prinzip des Warentausches wird praktisch nicht mehr durch das Klassenverhältnis sabotiert, indem es jenseits der Form des Warentauschs als distributive Gerechtigkeit verwirklicht wird. Fazit: Das Dilemma Damit ist das Dilemma von Gerechtigkeit und Freiheit, das zu lösen wäre, verdoppelt, verkehrt, verhext: Einerseits: Des allgemeinen Wohlstands wegen erscheint es richtig, die gesellschaftliche Produktion und Distribution konzertiert und rational zu organisieren. Dann aber besteht die Gefahr, dass die Individuen dem ökonomischen Plan subordiniert und somit unfrei werden. Von dieser Perspektive aus betrachtet scheint die Planwirtschaft die Allgemeinheit zu unterstützen und der Freiheit des Einzelnen entgegenzustehen, während die kapitalistische Marktwirtschaft samt ihrer über den Markt vermittelten Produktion und Distribution dem Allgemeinwohl entgegensteht, dafür aber dem Individuum mehr Spielraum lässt. Anderseits in anderer Perspektive verkehrt sich das Dilemma: Der blinde Ablauf von Produktion und Distribution in der Marktwirtschaft steht dem Individuum entgegen, weil das abstrakte Wertgesetz zwar alle mit dem selben Maßstab misst, aber der Vielfalt der Individuen und ihrer Bestimmungen nicht gerecht wird, während die bewusste und geplante Produktion und Distribution dem Individuum gerecht werden könnte, indem sie die Individuen nicht allein unter dem Gesichtspunkt des Arbeits- und Leistungsprinzips fasst. Gleichzeitig ertönt jene Frage, ob der sich schon Platon schließlich doch gegen in jedem Einzelfall konkrete und von Personen getroffene Beurteilungen und für die zweitbeste Lösung, die Herrschaft der Gesetze, entschieden hat: Inwieweit würde eine solche bewusste Planung in Herrschaft und Willkür umschlagen und der Idee allgemeiner Gerechtigkeit entgegenstehen? Eine Lösung des Dilemmas existiert entweder prekär in der sozialen Marktwirtschaft, d.h. der schwierigen und krisenanfälligen Austarierung von freiem Markt und staatlichem Eingriff, Tauschgerechtigkeit und bewusster Zuteilung, oder, jenseits dessen, in einem ganz anderen Lösungsansatz. Ein solcher Lösungsansatz aber birgt ob seiner Unvermitteltheit mit der jetzigen Einrichtung der Gesellschaft die Gefahr, eine Erlösungsvorstellung in areligiösem Gewand zu sein und jene voluntaristische Gewalt zu implizieren, vor der schon eingangs des Textes gewarnt wurde. Die Gefahr bestände in dem Versuch, die materielle Welt und das Leben der Erlösungsvorstellung (beziehungsweise philosophisch gesprochen die mannigfaltige Welt einem abstrakten Begriff) gefügig zu machen und dadurch der Harmonischen Ungleichheit geradewegs entgegenzusteuern, und wäre groß, weil sie durch das schlagende Argument legitimiert werden könnte, der Errichtung des Paradieses auf Erden zu dienen. Um nicht Gewalt zu werden, müsste jener ganz andere Lösungsansatz mit Demut gesucht und umgesetzt werden. Diese Eigenschaft allerdings ist das Gegenteil jener, nach dem Scheitern des real existierenden Sozialismus zumeist zur adoleszenten Farce verkommenen, messianischen Hybris, die Anarchisten, Kommunisten und Frühsozialisten im Guten wie im Schlechten zumeist ausgezeichnet und angetrieben hat. Hannes Giessler Literatur:
(1) Owen 1827, S. 16 (2) Owen 1835, S. 122 (3) Considerant 1841, S. 248f. (4) Lahautière 1839, S. 253 (5) LAnge 1793, S. 24 (6) Owen 1827, S. 71 (7) Die saint-simonistische Lehre 1829f., S. 151 (8) Owen1827, S. 36f. (9) Fourier, zit. n.: Meyer, S. 76 (10) Cabet 1841, S. 402 u. S. 385f. (11) Babeuf 1795, S. 60f. (12) Saint-Simon 1819/20, S. 129 (13) Dézamy 1842, S. 502 (14) Adorno im Gespräch mit Horkheimer, in: Horkheimer, S. 41 (15) Laponneraye 1838, S. 290 (16) Babeuf 1795, S. 55 (17) Laponneraye, 1838, S. 282 u. 291 (18) Weitling 1842, S. 167 (19) Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 1. Teil, Nr. 473 (20) Dézamy 1842, S. 492f. (21) Owen 1827, S. 61 (22) Babeuf 1795, S. 63 (23) Lahautière 1839, S. 254 (24) Buonarroti 1830, S. 105 (25) Laponneraye 1838, S. 281 (26) Considerant 1841, S. 217 (27) Twentieth Century, Pet Shop Boys (28) Blanc 1839, S. 362 (29) Considerant 1841, S. 218 (30) Engels, Anti-Dühring, S. 241 (31) Marx, Das Kapital Bd. 1, S. 94 (32) Marx, Das Kapital Bd. 3, S. 859 (33) siehe: Marx, Kritik des Gothaer Programms, S. 20 (34) Engels gibt Einblick in diese Vorgehensweise in einem an die Kritik des Gothaer Programms direkt angelehnten Brief an August Bebel: Man sollte das ganze Gerede von Staate fallen lassen [ ]. Der Volksstaat ist uns von den Anarchisten bis zum Überdruss in die Zähne geworfen wurden [ ] Wir würden daher vorschlagen, überall statt Staat Gemeinwesen zu setzen [ ]. (März 1875, in: MEW Bd. 19, S. 6f.) (35) Vgl.: LAnge 1793, S. 39ff. (36) Laponneraye 1838, S. 281 (37) Fourier 1829, S. 192 (38) Fourier 1829, S. 180 u. 183 (39) Hess 1845, S. 323 (40) Considerant 1841, S. 230 f. (41) ebd., S. 230 (42) Dézamy 1842, S. 491 (43) Dézamy, zit. n.: Meyer, S. 142 (44) Weitling 1842, S. 128 (45) Engels, Fortschritte der Sozialreform auf dem Kontinent, S. 483 (46) Höchstes Recht ist höchste Ungerechtigkeit. (47) Marx, Kritik des Gothaer Programms, S. 20f. (48) Platon, Der Staatsmann, 294c (49) Aristoteles, Politik, III, 15, 1286a (50) ebd., III, 10, 1281a (51) Ähnlich in der Nikomachischen Ethik: Darum lassen wir keinen Menschen, sondern die Vernunft herrschen, weil der Mensch sich in der bezeichneten Weise zuteilt und ein Tyrann wird. (Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 10, 1134a-b) (52) Aristoteles, Politik, III, 11, 1281b (53) ebd., III, 11, 1282b. Den Einwand, dass auch das Gesetz einen Hüter braucht, dem nun ähnliche Einwände entgegen gehalten werden könnten, die er gegen den besten Mann anführt, kann Aristoteles nicht richtig entkräften: Der wahre Herrscher ist Wächter des Rechts und mit dem Recht auch der Gleichheit. Und da er vor den anderen nichts voraus haben will, wenn er gerecht ist [...], so muß ihm ein gewisser Lohn zugestanden werden, und dies ist die Ehre und der Ruhm. Wem aber dies nicht genügt, der wird ein Tyrann. (Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 10, 1134b) (54) Platon, Gesetze, IX, 875a-d (55) Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 14, 1137b (56) ebd., V, 10, 1135a (57) ebd., V, 14, 1137b (58) Marx, Das Kapital Bd. 3, S. 186 (59) Marx, Urtext, S. 913 (60) Marx, Kritik des Gothaer Programms, S. 21 (61) So kann der Passus Jeder nach seinen Fähigkeiten auch gemeint sein: Die Eigenschaft des Körpers wie Gesundheit und Kraft und die Eigenschaften des Geistes wie Denkvermögen und Scharfsinn setzen keinen anderen Unterschied zwischen dem, der besonders viel, und dem, der besonders wenig davon besitzt, als den, dass der eine größere Aufgaben zu übernehmen hat als der andere. (Pillot 1840, S. 446) Lenin stößt ins gleiche Horn: Der Staat wird dann völlig absterben können, [...] wenn die Menschen sich so an des Befolgen der Grundregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens gewöhnt haben werden [...], dass sie freiwillig nach ihren Fähigkeiten arbeiten werden. Der enge bürgerliche Rechtshorizont, der dazu zwingt, [...] bedacht zu sein, nur ja nicht eine halbe Stunde länger zu arbeiten als der andere und keine geringere Bezahlung zu erhalten als der andere - dieser enge Horizont wird dann überschritten sein. (Lenin, S. 483) (62) zit. n.: Meyer, S. 288-292 (63) Marx, Kritik des Gothaer Programms, S. 21 (64) ebd., S. 20 (65) ebd. |