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B wie Biologismus

Das Eine ist ohne das Andere nicht zu denken

Über die Zukunft Afrikas und der dort lebenden Menschen äußerte sich James Watson folgendermaßen: „all unsere Sozialpolitik basiert auf der Annahme, dass ihre Intelligenz dieselbe ist wie unsere – obwohl alle Tests sagen, dass dies wirklich nicht so ist“(1). James Watson ist kein Protagonist des kolonialen Zeitalters, sondern Nobelpreisgewinner von 1962 auf dem Gebiet Medizin und lebende Wissenschafts-Legende mit äußerst hoher Reputation. Seine Äußerung stammt nicht aus dem kolonialen Zeitalter, sondern aus dem Jahr 2007. Biowissenschaften dienten in der Vergangenheit der Produktion gesellschaftlicher und kultureller Determinismen und tun es in der Gegenwart selbstverständlich auch. Klar sollte sein, eine wertneutrale Naturwissenschaft außerhalb gesellschaftlicher Interpretationen existiert nicht. Folglich sollte das Plädoyer sein, Naturwissenschaft immer auch als gesellschaftliches Moment anzusehen. Der folgende Text will in Ansätzen die Grundzüge des Verhältnisses von Biologie und Gesellschaft in der Moderne beleuchten.

Wertvoller Tierbestand, 190.4k


Sozialdarwinismus

Immer schon versuchte die Menschheit ihr eigenes Verhalten und Handeln zu erklären und dafür Begründungen aus natürlichen Gesetzmäßigkeiten zu ziehen. Biologismus – sprich gesellschaftliche und kulturelle Verhaltensmuster mit vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten aus der Biologie zu deuten – fängt schon lange vor Charles Darwin (1809 – 1882) an. Der Biologismus des 19. und 20. Jahrhunderts orientiert sich allerdings äußerst eng an Darwin, deshalb beginnt dieser Text bei Darwin. Seine zentralen Erkenntnisse auf den Menschen zu beziehen ist ein äußerst falscher, viel schlimmer aber folgenreicher und fataler Fehler. Er trägt eine Teilverantwortung dafür, dass Ausgrenzung anormal determinierter Menschen bezüglich Hautfarbe, Sexualität und Verhalten bis heute praktiziert wird. Die negativste Konsequenz der Denkweise, ein „natürliches Recht des Stärkeren“ aus der Natur ablesen zu wollen und auch auf den Menschen zu projizieren, gipfelte in der Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus. Sowohl für Antisemitismus, als auch für Rassismus stellt Biologismus ein grundlegendes Element dar, so wird am Punkt „Rassenkonzept“ die Überschneidung beider, voneinander getrennt zu diskutierender Phänomene, deutlich.
Auf das Jahr genau 150 Jahre ist es her, dass Charles Darwin eine Theorie entwarf, welche die christliche Vorstellung von der Schöpfung der Welt durch ein göttliches Wesen ablösen sollte. Der Darwinismus, auch als „Evolution durch natürliche Auslese“ bezeichnet, deutet die Entwicklung der Arten als einen Prozess, der durch das Überleben der jeweils am besten an Umwelteinflüsse angepassten Gruppen und Individuen gesteuert wird.(2) An vielen Beispielen aus Flora und Fauna belegt Darwin diese Theorie in seinem Werk On the Origin of Species (1859). Unter ähnlicher Betrachtung beurteilt er auch die Untersuchungen damaliger Naturforscher zur Art Mensch, welche meist das Ziel, unterschiedliche Menschenrassen zu kennzeichnen, verfolgten. Darwin hält einer solchen Kategorisierung in Die Abstammung des Menschen (1871) entgegen, dass es kaum möglich sei, zwischen den verschiedenen Phänotypen der Menschen „scharfe Unterscheidungsmerkmale […] aufzufinden“ und das diese „vielmehr in einander übergehen“(3). Das spricht Darwin keines Falls davon frei, dass sein Forschungsansatz, sprich den Ausgangspunkt es gäbe unter Umständen Unterschiede zwischen Menschen auf der Ebene der Intelligenz und des Denkvermögens, ein fragwürdiger ist, wohl aber vom Darwinismus als Grundlage des Rassismus im 19. und 20. Jahrhundert(4). Selbstverständlich teilte Charles Darwin als Kind des viktorianischen Englands „gutviktorianische Ansichten“ und war alles andere als frei von Vorurteilen über andere Kulturen. Er teilte die Menschen in Wilde/Barbaren und Zivilisierte ein und wertete dies auch dementsprechend, im Unterschied zu den klassischen Sozialdarwinisten legitimiert er gesellschaftliche Verhältnisse jedoch nicht mit dem Verweis auf die „Gesetze der Biologie“. Für den biologischen Ausgangspunkt, von dem aus sich Rassismus in Deutschland entwickelt hat, sind andere mehr verantwortlich, wobei sich der Begriff Sozialdarwinismus allerdings trotzdem im Sprachjargon der behandelnden Literatur gefestigt hat.(5) Sozialdarwinismus meint die Mechanismen darwinscher Evolutionstheorie seien denen menschlichen Zusammenlebens analog und der „Kampf ums Dasein“ müsse als gesellschaftlicher Konflikt geführt werden. Parallel dazu erwuchs eine folgenschwere Überzeugung, nämlich dass die Natur menschliches Handeln normativ bestimmt. Einen Einfluss der Erfahrung und Eigenverantwortung auf persönliche Handlungen und Entscheidungen negiert der Sozialdarwinismus und verfällt so dem naturalistischen Fehlschluss.(6) Darüber hinaus stützt Sozialdarwinismus die Aussage es gäbe ein innerartliches Gefälle der Art Mensch bezüglich des Denkvermögens und der Intelligenz und dient somit rassistischer Diskriminierung als Eckpfeiler. In dieser Argumentation werden aus Tätern Handlanger der Geschichte, die frei von persönlicher Verantwortung den Untergang der vermeintlich Schwachen und Schwächeren lediglich beschleunigen. Im Holocaust des nationalsozialistischen Deutschlands wurde der Sozialdarwinismus zum scheinbar wissenschaftlichen Erklärungsmuster, mit dessen neutralen Duktus die Vernichtung der angeblich Schwächeren begründet werden konnte. Die Ermordung der Jüdinnen und Juden und die Reinigung des „Volkskörpers“ durch die Euthanasieprogramme der Nazis sind nur eingebetet in einem wissenschaftlichen Gewand möglich gewesen.
Heute sind die Thesen des Sozialdarwinismus weitgehend widerlegt und zahlreiche Bücher und Aufsätze entlarven die eindeutige Fehlerhaftigkeit des Sozialdarwinismus auch aus rein naturwissenschaftlicher Sicht. Wichtiger erscheint es an dieser Stelle vielmehr zu kennzeichnen, dass Sozialdarwinismus ein Konstrukt ist und dass die Thesen des Sozialdarwinismus keinesfalls auf Irrtümern basieren, sondern meist auf bewussten und gezielten Fälschungen angeblicher wissenschaftlicher Errungenschaften und deren Verbreitung, natürlich immer vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen und historischen Zeitgeistes. Die wahrscheinlich bekanntesten Fälschungen des frühen Sozialdarwinismus veröffentlichten der britische Ägyptologe George Gliddon und der amerikanische Arzt Josiah Nott im 19.Jahrhundert. Sie versuchten in ihrem Buch Types of Mankind (1854) unter anderem durch falsche und irreführende Zeichnungen von Schädelbauweisen den Eindruck zu erwecken, dass der Schädel eines „black africans“ (Nott/Gliddon) dem des Schimpansen mehr ähnelt, als dem eines Europäers. Quantitative Morphologie und ähnliche pseudowissenschaftliche Disziplinen begeleiteten und begünstigten das Kolonialzeitalter nicht nur enorm, sondern waren unabdingbare Elemente dessen.
In Deutschland steht Ernst Haeckel (1834 – 1919) exemplarisch für die Verbindung zwischen den Thesen Darwins und biologistischem Rassismus. Er pochte auf die angebliche, stammesgeschichtliche Höherentwicklung einer weißen „Rasse“ und äußerte sich dementsprechend über Menschen, die er nicht dazu zählte, folgendermaßen: „Diese Naturmenschen […] stehen in biologischer Hinsicht näher den Säugetieren […] als den hochzivilisierten Europäern; daher ist auch ihr individueller Lebenswert ganz verschieden zu beurteilen.“(7) Haeckel sah Naturwissenschaft als absolutes Dogma an und in seinen Augen stellte Politik nichts anderes als praktizierte Biologie dar. Diese Ausgangsthese machte ihn, bedenkt man seine Auffassung von der Höherentwicklung einer europäischen „Rasse“, zu einer Leitfigur des Sozialdarwinismus und Wegbereiter dessen praktisch werdenden Formen der Rassenhygiene und der Eugenik. Insbesondere seine Publikation Lebenswunder (1905) zeigt in deutlicher Form, welchen Kindes Haeckels Werke und seine Gesinnung waren. Haeckel spricht darin von der „Ungleichheit der Menschen“, „überlegenen Rassen“ und der „Ausmerzung Untüchtiger“. Ernst Haeckel wurde später deshalb von den verschiedensten Seiten als „Urvater des Sozialdarwinismus“ bezeichnet. Er wurde zum Führsprecher von Euthanasie und rassenhygienischen Maßnahmen wie der „Beseitigung anormaler neugeborener Säuglinge“, da dies für eine Gemeinschaft durchaus von Vorteil sei.(8) Im eingehenden 20. Jahrhundert befand sich der gerade auch im wissenschaftlichen Spektrum anerkannte Rassentheoretiker Haeckel mit seinen Thesen in breiter Gesellschaft und durfte sich nicht umsonst einer Ehrenberufung in die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene erfreuen. Haeckel hatte gemeinsam mit vielen anderen Protagonisten aus Biologie und Medizin der größten Katastrophe der Menschheit, die nur wenige Jahre nach seinem Tod (1919) ihren Lauf nehmen sollte, die wissenschaftliche Grundlage geebnet. Der Vernichtungswahn des Nationalsozialismus bediente sich also nicht nur der Thesen biologischer Forschung und instrumentalisierte deren Erkenntnisse, sondern diese brachten den Nationalsozialismus vielmehr mit hervor und bildeten eine wichtige Säulen. Rassenlehre und Eugenik sind in ihrer Theorie keinesfalls Erfindungen der Nazis, ihre grauenhafte Umsetzung im Nationalsozialismus ist aber eindeutig als Singularität zu kennzeichnen.

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Verhältnis Kultur – Natur

Ausgangspunkt des Sozialdarwinismus als Spielart des Biologismus war es, Naturwissenschaft mit bedingungsloser Wahrheit gleich zu setzen. Von diesem Punkt aus galten die „Gesetze der Biologie“ als unaufhaltsam und geschichtlich fixiert, eine Einflussmöglichkeit von Kultur und Geist auf die Natur des Menschen als nicht vorhanden, bzw. hinter der Dominanz der biologischen Aspekte verschwindend – doch ist genau das falsch. Der Mensch ist ein Wesen, dem seine Handlungen zurechenbar sind und für die er sich zu rechtfertigen hat, er wird keinesfalls allein durch die unsichtbare Hand der Natur geleitet. Zumindest zum Teil hat die spezifische Intelligenz des Menschen, also die kulturelle und selbst reflektierte, dazu geführt sich von der physischen Natur zu entreißen. Hat sich nicht der Mensch weite Teile, der ihn umgebenden Umwelt unterworfen? Hat nicht Prometheus den Göttern das Feuer gestohlen? Waren nicht Neil Armstrong und Edwin Aldrin entgegen der physikalischen Kräfte 1962 auf dem Mond gewesen? Wer eine Wechselbeziehung von Natur(9) und Kultur, bzw. den Einfluss kultureller Aspekte auf die Menschheit leugnet, hat entweder nicht alle Tassen im Schrank und/oder sucht nach einer Legitimierung für gesellschaftliche Verhältnisse, welche die Unterdrückung bestimmter sozialer Gruppen begünstigen, so geschehen bei der Herausbildung der Thesen des Sozialdarwinismus. Allgemein gültige „Gesetze der Biologie“ existieren aber keinesfalls, noch nicht einmal auf experimenteller Ebene, wie das vielleicht in Physik und Astronomie der Fall ist. Während Lichtgeschwindigkeit und Gravitation immer gleich sind, besteht die Biologie aus einer Aneinanderreihung von Ausnahmen. Folglich unterliegen die Erkenntnisse jener, einem sehr großen gesellschaftlichen Interpretationsspielraum und Normalitäten/Anormalitäten werden durch den gezeichnet, der sie ausspricht. Der irreführende Dualismus zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaften muss in diesem Zusammenhang als überholt angesehen werden. Wenn beide nämlich zusammen gedacht werden, enthüllen biologistische Determinismen ihren ideologisch geprägten Charakter.
Aus angeblich feststehenden, unumstößlichen biologischen Dogmen, wie der Höherentwicklung einer „europäischen Rasse“ und der „Macht des Stärkeren“, sind Sozialdarwinismus und Rassismus entstanden, sie sind nicht die einzigen, in ihrer Breite wohl aber brutalsten Beispiele für biologistischen Determinismus. Der Drang zu kulturellen und sozialen Zuschreibungen auf Grund vermeintlicher biologischer Gesetzmäßigkeiten ist ein gesamtgesellschaftlicher, er erreicht alle Ebenen von Gesellschaft. So würden z.B. Sexualität und Geschlechterrollen – und die damit verbundene Frage nach Rosa oder Himmelblau – eine ganz eigene Unterredung rechtfertigen.(10) (siehe Anmerkung unten)

Wissen erzeugt Macht

Vor dem Hintergrund des atomaren Zeitalters hat Friedrich Dürenmatt (1921 – 1990) in seiner Komödie Die Physiker (1961) auf die Befangenheit von Wissenschaft hingewiesen und eine Neutralität von Naturwissenschaften ad absurdum geführt, indem er auf die Verknüpfung von naturwissenschaftlicher Erkenntnis und Politik pocht. Dürrenmatts Komödie appelliert an die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft, verkennt allerdings, dass Wissenschaft durchaus auch die Funktion hat die Verhältnisse – wie menschenverachtenden Kapitalismus – zu sichern und zu stabilisieren. Man könnte Dürrenmatt also vorhalten, dass seine Physiker ihrer Verantwortung durchaus nachgekommen sind, indem sie den Menschen atomare Macht an die Hand gegeben haben mit der sie gesellschaftliche Interessen umzusetzen versuchten. Dass Geistes-, Kultur- und Geschichtswissenschaft einem herrschaftssichernden Moment nachkommen, wird selten bestritten – prägnantes Beispiel sind die verschiedenen Arten von Geschichtsschreibung –, dass die als ahistorisch bezeichneten Naturwissenschaften eine ähnliche Aufgabe übernehmen, hingegen schon. Dabei zeugt sowohl ein Blick in die Vergangenheit, als auch in die Gegenwart naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinns davon, wie sehr z. B. biologisches Wissen Macht verleiht und zur Konstituierung von Gesellschaft beiträgt. Michel Foucault (1926 – 1984) spricht in diesem Zusammenhang von der Bio-Macht. Dieses Machtverhältnis bedient sich subtilerer Regulationsmechanismen als offen repressiv daherkommende, wie Strafandrohung und/oder -durchführung. Ziel der Bio-Macht ist die Absicherung des gesellschaftlichen Ganzen als Ganzes, also die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Zustands, dabei setzt der Hebel der Bio-Macht auf entindividualisierte Art und Weise an. In Abgrenzung zu den herkömmlichen disziplinären Maßnahmen (Geldbuße, Gefängnis, Todesstrafe, …) zielt die Bio-Macht „nicht auf die Dressur des einzelnen Individuums, sondern auf die Verteidigung der Bevölkerung vor den ihr eigenen Gefahren – Epidemien, Seuchen, Überalterung der Bevölkerung, Kindersterblichkeit.“(11) Im Terminus „Bevölkerung“ treffen sich die biopolitischen Grundsätze der Bio-Macht: Kollektivierung, Katalogisierung und Normalisierung der Individuen. Die Bio-Macht legt laut Foucault gesellschaftliche Konstanten und statistische Mittelwerte fest, während Abweichungen davon als Anormaliäten gekennzeichnet werden. In Bezug auf kapitalistische Produktivitätsweise bedeutet dies die Menschheit in leistungsfähig und leistungsschwach einzuteilen. Jene, die dem Kapitalismus nicht dienlich sind, werden wieder für den Kapitalismus fit gemacht und resozialisiert statt ausgeschlossen. „Deshalb – und nicht aus humanitären Gründen – sei die Gesellschaft auf die Idee gekommen, die Asyle [Internierung für Kranke, Alte, Arme und Müßiggänger im 17. Jahrhundert] aufzulösen, um ihre Insassen für den Produktionsprozess zurückzugewinnen.“(12) Vor diesem Hintergrund ist nach Foucaults Denkansatz ebenfalls die Forcierung der Humanbiologie und der modernen Medizin zu verstehen. Mit Blick auf den statistischen Mittelwert merzen Krankenhäuser und Psychiatrien Anormalitäten aus, um die Bevölkerung vor ihrem eigenen Untergang zu retten – der Nichtleistungsfähigkeit.
In einem der größten Projekte der Humangenetik haben Wissenschaftler 2003 das menschliche Genom komplett entschlüsselt und eine Standardsequenz festgelegt.(13) Sicherlich eine einzigartige Möglichkeit Krankheiten und Leid zu bekämpfen, auf der anderen Seite aber auch um moderne Krankheiten zu „erfinden“. Medizinische Interpretationen des individuellen Genoms einer Person lassen sich so lediglich auf die genormte Standardsequenz beziehen und Abweichungen davon werden als anormal – krank – gekennzeichnet. So werden neue „genetische Krankheiten“ konstruiert, die durch Abweichungen des individuellen vom standardisierten Menschen ermittelt werden (wollen). Das birgt potentiell sicher Gefahren, ein Vergleich mit Euthanasie und rassenhygienischen Maßnahmen der Nazis, wie ihn konservativ-christliche und andere regressive Strömungen begehen, ist aber unangebracht und muss entschieden zurück gewiesen werden.
Ein ähnlicher Hang zum Biologismus zeigt sich in der Zeichnung potentieller Risikostrukturen des Gehirns, wie gemeinsam von Kriminologen und Neurologen forciert. In diesem als Neuroimaging bezeichneten Vorgehen wird direkt von Hirnaktivitäten auf Persönlichkeitsentwicklung und zwangsläufigem Verhalten geschlossen. Beispielsweise ließe sich Arbeitslosigkeit so nicht als soziale Krise, sondern als individuelle Krankheit kennzeichnen. Das Genom und Hirnströme werden in diesem Kontext zur „Wahrheit“ und bestimmen soziales und kulturelles Handeln unabdingbar im Voraus. Potentielle StraftäterInnen wollen an „Risiskogenen“ für kriminelle Energie identifiziert werden können und die „genetische Vernunft“ könnte den Trägern von „Risikogenen“, ob nun zukünftige Verbrecher oder Selbstmörder, dann Selbstgeißelung nahe legen, bzw. die Missachtung dessen als erste Anzeichen der Krankheit werten. Standardisierte Gesundheit wird zum sozialen Kennzeichen, da nur sie dazu befähigt ein gewinnbringender Bestandteil des Kapitalismus zu werden. Hier wird deutlich wie sehr Wissen Macht bedeutet. Gesellschaftliche Phänomene und Missstände können auf die Eben der Gene projiziert und anhand derer diskutiert werden. Der ideologische Grundcharakter der hinter der Einteilung normal/anormal, bzw. gesund/krank steht wird so überspielt, zumindest so lange Biowissenschaft und Medizin nicht als Bestandteile von Gesellschaft aufgefasst werden.
Keinesfalls soll medizinischer Fortschritt an dieser Stelle als Übel gedeutet werden, die Gefahr besteht vielmehr darin Körper und Geist, Biologie und Politik und Labor und Gesellschaft voneinander entkoppelt zu betrachten und zu bewerten. Wissenschaft ist ein Gesellschaft produzierender Teil ihrer selbst und in einer ausgrenzenden und menschenverachtenden Gesellschaft sollte es demnach nicht verwunderlich stimmen, dass Naturwissenschaft ebenfalls ausgrenzende und menschenverachtende Bilder produziert, auch oder erst recht aus dem Mund eines Nobelpreisgewinners.

Bruno

Anmerkungen

(1) Nachzulesen z.B. im Spiegel www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,512455,00.html

(2) Auch als „survival of the fittest“ bekannt. Darwin spricht in diesem Zusammenhang nicht von einer Höherentwicklung zum „fittesten“ Wesen, sondern von Spezialisierung und Anpassung an Umweltnischen. Passen ist Übersetzung des englischen Verbs to fit.

(3) Darwin, C.R. 1871, Die Abstammung des Menschen, S.195

(4) Argumentation nach Utz Anhalt: „Darwin ist unschuldig – Warum Rassismus in Deutschland wenig mit Darwin zu tun hat“, in Antweiler, Lammers, Thies (Hrsg): „Die unerschöpfte Theorie“, Aschaffenburg 2008

(5) Darwinanhänger schlagen vor die Begriffe „Sozialspencerismus“ (nach Herbert Spencer, Soziologe und früher Protagonist des Sozialdarwinismus) oder „Sozialevolutionismus“ zu nutzen.

(6) Der naturalistische Fehlschluss (David Hume) ist der Fehlschluss aus deskriptiven Aussagen der Natur normative Schlüsse zu ziehen. Der Sozialdarwinismus schließt so aus der Naturbeobachtung, dass kranke Tiere von der Herde zurückgelassen werden, die Folgerung die menschliche Gesellschaft müsse „kranke“ Menschen ebenfalls ausschließen (bis hin sie zu töten). Das ist ein Fehlschluss, denn die Erkenntnis was in der Natur ist, entbindet nicht von der ethischen Entscheidung für das, was sein soll (David Hume).

(7) Haeckel, E. 1905, Die Lebenswunder, S. 449

(8) Haeckel, E. 1905, Die Lebenswunder, S. 134. Haeckel bezieht sich hier auf den Ältestenrat der Spartaner, der über Leben und Tod neugeborener Kinder entschied.

(9) Ein umfangreicherer Text zum Naturbegriff ist in der ABC-Rubrik im CEE IEH #158 veröffentlicht.

(10) Anmerkung der Redaktion: AutorIn zum Thema für die ABC-Rubrik gesucht….

(11) Muhle, M. 2008, Eine Genealogie der Biopolitik – Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem, S.261

(12) Ruffing, R. 2008, Michel Foucault

(13) Die Standardsequenz meint die Abfolge der DNA-Bausteine in einem Chromosomen und damit die Gesamtheit der codierten Gene des Menschen.

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last modified: 21.1.2009