für eine materialistische Kritik des patriarchalen
Geschlechterverhältnisses. Verschriftlichung eines Vortrags, gehalten in
Göttingen am 14.12.2007
Die analytische Theorie denunziert die Unfreiheit und Erniedrigung der
Menschen in der unfreien Gesellschaft ähnlich wie die materialistische
Kritik einen von der Wirtschaft blind beherrschten Zustand. Aber unter ihrem
mit dem Tode verschworenen Medizinerblick gerinnt die Unfreiheit zur
anthropologischen Invariante ...
Th. W. Adorno: Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, S.
62
Einleitung/Problemaufriss
Weshalb ist die Psychoanalyse für die Gesellschaftskritik relevant?
Kritische Gesellschaftstheorie changiert zwischen zwei Polen, dem Subjektiven
und dem Objektiven. Das Subjekt einerseits und die verobjektivierten,
verselbständigten gesellschaftlichen Verhältnisse andererseits sind
real getrennt. Materialistische Gesellschaftskritik muss beide in ihrer
Unversöhntheit und in ihrem Verhältnis zueinander begreifen. Kritik
der politischen Ökonomie, wie Marx sie in seinem Spätwerk betreibt,
geht dem dialektischen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nach.
Sie versucht die Rolle des Individuums beim Konstitutionsprozess der
Gesellschaft zu fassen. Psychologie, verstanden als die Frage, wie diese
Gesellschaft in das Individuum hineinragt, war jedoch nicht Marxens Thema. Die
Freudsche Psychoanalyse bietet sich hier an, weil sie die einzige Psychologie
ist, die im Ernst den subjektiven Bedingungen der objektiven
Irrationalität nachforscht(1).
Aber die Psychoanalyse ist als Ideologie aufzufassen. Sie als Instrument zu
begreifen, mittels ihrer Methoden die Subjekte in der warenproduzierenden
Gesellschaft zu analysieren, wäre selber affirmativ und unkritisch. Denn
Freud ist mehr als ein scharfsinniger Beobachter der bürgerlichen Welt; er
interpretiert sie auch. In seiner Deutung gerinnt die Unfreiheit zur
anthropologischen Invariante. Er erklärt gesellschaftlich bedingte
psychische Züge der Menschen zu natürlichen Wesensarten. Durch diese
Anthropologisierung verfestigen, verhärten sich diese Züge und werden
der Veränderung unzugänglich. Ebenso hypostasiert er das
patriarchale, hierarchische Geschlechterverhältnis(2). Auch oder
gerade für Freuds Aussagen zum weiblichen Geschlechtscharakter gilt: er
ist kein objektiver Beobachter. Seine eigene Verfangenheit in patriarchalen
Geschlechterstrukturen behinderte ihn in der Aufklärung des psychischen
Schicksals der Frau. Renate Schlesier nennt dies eine halbierte
Aufklärung(3). Eine halbierte Aufklärung ist keine halbe
sondern eine falsche, weil sie alte durch neue Mythen ersetzt. Freud schuf den
immer noch populären Mythos von der kastrierten Frau, der Frau ohne
eigenem Geschlecht, der Frau mit dem Minus-Geschlecht. Dieser Mythos bedarf
weiterer Aufdeckung. Ihn zum Gegenstand einer erneuten Analyse werden lassen,
kann die Aufklärung weitertreiben. Entscheidend ist dabei, dass Freud
nicht einfach objektiv Beobachtungen aufschrieb, sondern dass die von ihm
geprägte Psychoanalyse selbst aktives Moment im Patriarchat ist und daher
die in ihr verborgene Wahrheit erst herausdestilliert werden muss.
Die Psychoanalyse bietet in ihrer orthodoxen Konzeption, also der Freuds,
bezüglich des bestehenden Geschlechterverhältnisses und der
gesellschaftlichen Vermitteltheit von Körpern grundlegende Einsichten. Es
handelt sich bei Freuds Kastrationsvorstellung um eine zu Wirklichkeit
geronnene Phantasie. In der feministischen Auseinandersetzung wurde der
Kastrationskomplex als Symptom gedeutet; zum einen als psychisches, das die
soziale Stellung der Frau oder das Mehr an Macht des Mannes ausdrückt. Zum
anderen als ein psychosomatisches: der abgeschnittene Penis symbolisiert das
verstümmelte und entsexualisierte Verhältnis zwischen den
Geschlechtern (Schlesier) und für die von beiden Geschlechtern zu
leistende Triebunterdrückung (Hagemann-White)(4). Gerade die
beiden letztgenannten Deutungen des Penisneid-Mythos begreifen die
Psychoanalyse als durch und durch zweideutigen Ausdruck einer exquisiten, so
sonst nicht auffindbaren Wahrheit. Die Psychoanalyse wird damit zu einem
scharfen Instrument zur Kritik des Patriarchats zugespitzt. Will man diese in
ihr verborgene Kraft entfalten, so darf man die Methoden und Inhalte der
Psychoanalyse jedoch nicht schlicht instrumentell anwenden. Vielmehr ist sie
einer sie auflösenden Kritik preiszugeben. Die psychoanalytische Lehre ist
also ihrerseits als erstarrte und versteinerte zu verflüssigen, indem man
ihre eigenen Instrumente auf sie anwendet. Nicht schreit die
Psychoanalyse ihre psychoanalytische Wahrheit als die gesellschaftliche
Wahrheit heraus bzw. insofern sie genau das tut, ist sie nicht besser
als jede beliebige Psychologie , in ihr ist vielmehr eine Wahrheit
virulent, die in dem von ihr selbst repräsentierten entstellten,
symptomatischen Zusammenhang allererst entziffert werden
muss.(5).
Zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft
In der warenproduzierenden Gesellschaft erscheinen die menschlichen Beziehungen
als Beziehungen von Dingen, als Beziehungen zwischen Waren. Während Marx
das Verhältnis der Waren zueinander als eines von Subjekten beschreibt,
bezeichnet er die menschlichen Beziehungen als verdinglichte. Nicht die
Menschen agieren, sondern ihre Produkte. Deren Beziehung tritt an die Stelle
eigener Beziehungen zueinander. Sosehr nun das Ganze dieser Bewegung als
gesellschaftlicher Prozess erscheint und sosehr die einzelnen Momente dieser
Bewegung vom bewussten Willen und besondern Zwecken der Individuen ausgehn,
sosehr erscheint die Totalität des Prozesses als ein objektiver
Zusammenhang, der naturwüchsig entsteht; zwar aus dem Aufeinanderwirken
der bewussten Individuen hervorgeht, aber weder in ihrem Bewusstsein liegt noch
als Ganzes unter sie subsumiert wird. Ihr eignes Aufeinanderstoßen
produziert ihnen eine über ihnen stehende, fremde Macht; ihre
Wechselwirkung als von ihnen unabhängigen Prozess und Gewalt ... Die
gesellschaftliche Beziehung der Individuen aufeinander als
verselbständigte Macht über den Individuen, werde sie nun vorgestellt
als Naturmacht, Zufall oder in sonst beliebiger Form, ist notwendiges Resultat
dessen, dass der Ausgangspunkt nicht das freie gesellschaftliche Individuum
ist.(6) So schaffen die Individuen eine Gesellschaft, in der die
verdinglichten Verhältnisse als natürlich erscheinen. Das
schlägt sich in verschleiernden Denkweisen nieder: der Mensch sei von
Natur aus ein instinktgesteuertes Wesen, die Frau von Natur aus eher passiv ...
Solche Aussagen sind adäquate ideologische Verarbeitungen einer
Gesellschaft, die systematisch nichts bzw. nur in verschleierter Form über
ihre eigene historische Gewordenheit und ihre Voraussetzungen weiß.
Die Verselbständigung der objektiven Bewegungsgesetze gegenüber dem
Subjekt ist sowohl Schein als auch Realität. Sie sind beide Teil eines
Ganzen. Es sind die Subjekte, welche die Gesellschaft durch ihre Handlungen
konstituieren. Doch gestalten sie diese damit keineswegs bewusst. Sie werden
vielmehr zu Anhängseln des objektiven Vergesellschaftungsprozesses.
Gesellschaftskritik, die sich nur mit dem die Individuen determinierenden
Objektiven auseinandersetzt, muss falsch werden. Das liegt daran, dass dieses
Objektive nicht ohne die denkenden und handelnden Menschen existiert, die es
ständig neu konstituieren. Es bleibt ein Verhältnis von Menschen, es
ist ihr Zusammenleben das sie allerdings nicht gestalten, sondern das
sich die Menschen untertan macht. Das Innere des Subjekts geht dabei nicht im
Objektiven auf. Obwohl es vom Objektiven gewissermaßen bestimmt wird,
weist es keine Identität mit Gesellschaft auf. Dabei geht es nicht
lediglich um die Form des Subjekts. Vielmehr muss sein Innenleben ein zentrales
Thema von Gesellschaftskritik sein.
Keiner vor und nach Freud wagte es, entgegen den Hoffnungen und Postulaten der
Aufklärung, es so deutlich zu sagen: Sie ist am Subjekt gescheitert
es ist nicht Herr im eigenen Hause, der eigenen Psyche, die sich der Kontrolle
entzieht. Im Gegenteil: Von deren übermäßig großem
Unbewussten, den dem Verstand unzugänglichen Bereichen, wird das Subjekt
bestimmt, ohne dass es dies selbst weiß ohne dass es dies aus
freiem Willen heraus ändern könnte. Dabei ist zunächst zu
klären, was Aufklärung überhaupt meint und welche Rolle das
Subjekt in ihr spielt. Die Aufklärung schuf eine ganz bestimmte Form, in
der sich die Individuen befinden, die Subjektform. In dieser sind sie gerade
nicht frei von Angst und Getriebenheit. Vielmehr ist das Resultat der
gescheiterten Aufklärung ein Subjekt, das sich ständig mit Gewalt
zusammenhalten, vor dem Auseinanderbrechen bewahren muss.
Die gescheiterte Aufklärung(7)
Was ist Aufklärung? Wir haben es hierbei mit einem, wenn nicht dem
zentralen Problem materialistischer Gesellschaftskritik zu tun. Die
Aufklärung verkörperte in den Worten ihrer Propagandisten
in ihrem Kerngedanken den Anspruch auf Mündigkeit des
Individuums(8). Sie agitierte für ideelle und
gesellschaftliche Selbstbestimmung, für Autonomie statt Heteronomie,
für eine vernünftige Einrichtung der Welt und die Befreiung von allen
subjektiv nicht nachvollziehbaren Autoritäten und Zwängen. Eine
bekannte Bestimmung der Aufklärung stammt von Kant und lautet:
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner
selbstverschuldeten Unmündigkeit, selbstverschuldet, weil man zu
faul oder zu feige zum Selber-Denken ist, unmündig, weil man sich seines
Verstandes nicht ohne Leitung eines anderen bedienen kann(9).
Mendelssohn bestimmt die Aufklärung als vernünftige Erkenntnis, d. h.
als theoretische Fertigkeiten, als das Nachdenken über Angelegenheiten des
menschlichen Lebens gemäß ihrer Wichtigkeit und ihrem Einfluss auf
die Menschen(10). Die Auseinandersetzung mit der Aufklärung
bringt uns ins Zentrum der Fragen, die Gesellschaftskritik betreffen; es geht
ja hierbei um die vernünftige Einrichtung der Welt, um eine Gesellschaft,
in der niemand länger grundlos leiden muss, und um die volle Entfaltung
menschlicher Individualität. Aufklärung stellt daher mehr als eine
bestimmte Epoche in der Philosophie oder Literatur dar; sie zielt ihrer
Intention gemäß auf nichts weniger als auf vernünftiges Denken
und Handeln in einer menschlich eingerichteten Welt. Sie betrifft den Umgang
mit anderen Menschen und das Verhältnis zur Natur. Damit zielt sie auf die
Frage nach dem Wesen und der Entfaltung der Gesellschaft; sie forderte
Naturbeherrschung, um von den Individuen die Angst zu nehmen.
Aber dieser Weg, die Angst zu binden, ist gescheitert. Denn wie Horkheimer und
Adorno schreiben: Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen
triumphalen Unheils der Prozess der Aufklärung führte
gerade nicht zu einem glücklichen Leben ohne Angst sondern zum Gegenteil
davon. Die Aufklärung war von Anbeginn mit ihrem Gegenteil verschlungen.
Sie wollte die Menschen durch Herrschaft von Angst befreien. Dabei zielte sie
auf die Unterwerfung der Natur, auf patriarchale Herrschaft über Frauen,
sie folgte der Logik des Gleichsetzens und Gleichmachens von Dingen wie
Menschen und formierte mit Gewalt das moderne Selbst, das Ich: Die
ängstigende Natur wurde im Zuge menschlicher Geschichte unterjocht und
unterworfen. Laut Horkheimer und Adorno verhält sich die Aufklärung
zur Natur, zu Menschen und zu Gegenständen wie der Diktator zu den
Menschen. Er kennt sie nur, insofern er sie beherrscht. Um diese Herrschaft zu
bewerkstelligen, mussten Menschen über sich selbst Gewalt ausüben,
sich selbst mühsam zu Arbeit und Unterwerfung der Triebe zwingen. Dazu
trat gesellschaftliche Herrschaft auf den Plan. Die Gewalt, die einzelnen durch
die Gesellschaft angetan wurde, wurde ihnen stets durch das Kollektiv angetan.
Unter gesellschaftlicher Herrschaft entstand das moderne Ich, das mit sich
selbst identische Selbst, das sich und andere beherrscht, die Natur
bearbeitet.
Die Herrschaft über die Natur und die Herrschaft von Menschen über
Menschen verband sich innerhalb der menschlichen Gattung zur patriarchalen
Herrschaft von Männern über Frauen. Ihnen werden die Tätigkeiten
der Reproduktion zugewiesen, sie haben für Natur und Vergänglichkeit
zu stehen, die man an sich und anderen überwinden will. Sie bekommen all
jene psychischen Eigenschaften zugewiesen, die denen entgegengesetzt sind, die
das männliche Selbst für sich einklagt, aber nur um den Preis der
Degradierung von Frauen für sich reklamieren kann.(11) Frauen
gelten daher unter der Regie der Aufklärung als abhängig und werden
zu Abhängigen gemacht. Eine Gesellschaft, die sich über den Wert
vermittelt, setzt strukturell alle Gesellschaftsteilnehmer in die gleiche
Situation, ein vereinzeltes Wesen zu sein, das auf sich zurückgeworfen mit
anderen Gleichen verkehrt. Bestimmte Bereiche der kapitalistischen Gesellschaft
werden aber davon nicht erfasst bzw. können damit nicht kritisiert werden:
So das asymmetrische und hierarchische Geschlechterverhältnis. Ohne die
unbezahlte, wertlose Arbeit der Frauen im Privaten kann sich selbst heute die
Gesellschaft nicht biologisch und materiell reproduzieren. Männer und
Frauen partizipieren nicht gleichermaßen am gesellschaftlichen Reichtum.
Die Unterwerfung wird durch Identitätslogik bewerkstelligt. Menschen
ebenso wie Dinge werden gleichgemacht, eingeteilt, klassifiziert und
kategorisiert, um sie besser kontrollieren zu können. Diese
Kategorisierung wird real an ihnen vollzogen. Hier ist auf den Zusammenhang der
Aufklärung zur kapitalistischen Warengesellschaft zu verweisen, die die
Aufklärung zur vollen Entfaltung bringt. Ganz und gar nicht zufällig
ist die Epoche der Aufklärung gleichzeitig auch die Zeit, in der
sich in Westeuropa die Verwertung des Werts durchsetzt, das Kapital seinen
Siegeszug durch die Welt antritt. Dennoch sind beide keineswegs identisch.
Kants Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten
Unmündigkeit, gerade als selbstverschuldeter deklariert, beinhaltet
stets die Unterwerfung unter gesellschaftlichen Zwang, den Selbstvollzug
gesellschaftlicher Gesetze, die sich unbeherrscht vollziehen. Das System,
das der Aufklärung im Sinne liegt, ist die Gestalt der Erkenntnis, die mit
den Tatsachen am besten fertig wird, das Subjekt am wirksamsten bei der
Naturbeherrschung unterstützt. Seine Prinzipien sind die der
Selbsterhaltung. Unmündigkeit erweist sich als das Unvermögen, sich
selbst zu erhalten. Der Bürger ... ist das logische Subjekt der
Aufklärung.(12) Folgerichtig werden die Unaufgeklärten
dann der ausdrücklich selbstverschuldeten Unmündigkeit
geziehen und nicht etwa diese Unmündigkeit einer falschen Einrichtung der
Gesellschaft angerechnet: selbstverschuldet, weil man zu faul oder zu
feige zum Selber-Denken ist (Kant, Was ist Aufklärung?).
Der Prozess der Aufklärung setzte sich also mit großer Gewalt
über die Köpfe der Menschen hinweg durch. Genau das, was ihnen die
Angst nehmen sollte, unterwarf sie nun seinerseits. Dieser gewaltvolle Prozess,
den die Menschen selbst hervorbringen,verselbständigt sich von ihnen. Die
gesellschaftlichen Verhältnisse nehmen die Form von Natur an: sie
erscheinen als undurchdringlich, und dieser Schein sorgt dafür, dass sie
tatsächlich nicht durchdrungen werden.
Der marxsche Imperativ der letztlich darauf abzielt, eine Welt einzurichten, in
der alle Menschen ohne Angst leben können, gilt ungebrochen solange diese
unmenschlichen Verhältnisse unüberwunden sind. Die in der
Aufklärung angelegten regressiven Momente müssen kritisch aufgedeckt
und überwunden werden. Ein Eingedenken der Natur im Subjekt
(Horkheimer/Adorno) muss zu einem Bruch mit Patriarchat und
Identitätslogik und zur Versöhnung mit der Natur führen. Es geht
dabei um einen Materialismus, der sich als eine Rettung des Nichtidentischen
begreift, der uns ein Verhältnis zu den Dingen finden lässt, das
ihnen angemessen ist. Auf diese Weise kann der Gedanke einer Welt ohne Angst
für alle Menschen in voll entfalteter Individualität vielleicht noch
verwirklicht werden. In diesem Sinne gilt es der Aufklärung zu begegnen,
wie es Ilse Bindseil für den Umgang mit der Psychoanalyse vorschlägt:
Sie ist einer sie auflösenden Kritik preiszugeben (Dies., als
Subjekttheorie).
Zum Verhältnis von Aufklärung und Subjektkonstitution in der
Freudschen Psychoanalyse
Freud ist ein Aufklärer in dem Sinne, dass er den Menschen von
Zerrissenheit, die er als erster diagnostiziert, befreien möchte, und zwar
mit einer explizit aufklärerischen Therapiemethode, dem Gespräch
(welches die Hypnose ablöste). Dabei kann Freud, wie die gesamte
Aufklärung, der in ihr angelegten Dialektik nicht entfliehen. In der
Praxis zielt die Therapiemethode nicht auf die Veränderung der
leidenmachenden Verhältnisse sondern auf eine individuelle Lösung;
Ziel ist ein geglättetes, reibungsloses Funktionieren des Individuums in
der Form des Subjekts.
Ein positiver Begriff vom Subjekt wäre einer von einem mündigen,
bewusst agierenden vernünftigen Wesen. Aber gerade ein solches lässt
sich in Freuds Texten nicht finden. Statt dessen sieht man sich mit Subjekten
konfrontiert, die aus der gesellschaftlich (und nicht individuell) erzeugten
selbstverschuldeten Unmündigkeit(13) nicht herausfinden,
sich dieser häufig nicht einmal bewusst werden. Subjekte werden zum Objekt
der sich verselbständigenden Gesellschaft, die sie selbst konstituieren,
statt sie bewusst und kontrolliert so zu gestalten, dass die Bedürfnisse
aller gestillt werden (wie es der derzeitige Stand der Produktivkräfte
erlauben würde). So sind sie ohnmächtiger Teil einer Gesellschaft,
deren Produktion um einer niemals vollendeten Mehrgeldproduktion willen
läuft. Die Psychoanalyse verdeutlicht, dass das Subjekt unmündig ist.
Sie zeigt auf, dass es in seinem Denken, Fühlen, Wollen und Handeln durch
ihm unbewusste psychische Prozesse bestimmt wird. Aus dem Subjekt wird ein
Objekt Objekt des verselbständigten Vergesellschaftungsprozesses,
in dem es entweder untergehen oder mitspielen kann. Die Gesellschaft wird zum
scheinbaren Subjekt. Um ganz genau das zu pointieren, führte Marx den
Begriff des automatischen Subjekts ein. Dieses ist der sich auf sich selbst
beziehende Wert, um dessentwillen die gesamte Güterproduktion
läuft.
Freud beschreibt den Aufbau des Ichs in der Kindheit als einen leidvollen
Prozess. Dessen Ziel ist eine Persönlichkeit, die ihre Bedürfnisse
jederzeit zu kontrollieren weiß und sie hintenanstellen kann. Es wird
gelernt, sexuelle Energie sublimierend auf die Erzeugung von Kultur umzulenken.
In diesem Verständnis ist selbst die Sexualität eine Sublimierung, da
die Libido unter dem Primat des Genitaltriebs strukturiert wird. Der Preis, den
das Ich dafür zu zahlen hat, ist hoch: weite Teile seiner Psyche entziehen
sich dem Zugriff, sie werden ins Unbewusste verschoben. Diese unbewussten
psychischen Bereiche beeinflussen die Wahrnehmung der Realität. Mehr noch,
sie determinieren sowohl die Wahrnehmung als auch das Denken(14).
Ebensowenig wie die gesellschaftliche Objektivität kann das Ich seine
individuelle Psyche durchdringen. Sie bleibt undurchsichtig. Subjektivität
hat im Kapitalismus das Ziel, dem verselbständigten Prozess der
Kapitalverwertung zu dienen. Subjektivität bedeutet Selbstverdinglichung.
Dies wiederum heißt, bei Strafe des Untergangs im Falle des
Nichtfunktionierens, sich zum nützlichen Element der Gesellschaft, zum
brauchbaren Objekt des automatischen Subjekts zu stutzen. Aber die Individuen
gehen in ihren gesellschaftlichen Funktionen nicht auf. Sie leiden, sind
disharmonisch und widersprüchlich. Die Wege der Verarbeitung dieser
Spannung zwischen Individuum und Subjekt sind oft brutal, zerstörerisch
und wenden sich gegen vermeintlich oder real Schwächere. Aber diese
Spannung lässt sich auch emanzipatorisch zum Betreiben von Kritik, die auf
eine befreite Gesellschaft zielt, nutzen.
Die Psychoanalyse Freuds folgt dem aufklärerischen Anspruch, das Ich vom
Leiden an seiner Zerrissenheit zu heilen: Wo Es war, soll bewusstes,
vernünftiges Ich werden. Schon an diesem Ausspruch Freuds (Wo Es war,
soll Ich werden.(15)) wird deutlich, dass er der Dialektik der
Aufklärung in selber Weise verhaftet ist wie Kant und ihr ebensowenig
entrinnt. Nicht nur die Zerrissenheit würde beendet; durch den Ausbau des
Ichs, ohne dessen gesamte Struktur zu verändern (und dieses setzte
gesellschaftliche Umwälzung voraus!), würde die Herrschaft über
die eigene Natur des Menschen verabsolutiert. Die Versöhnung mit ihr
rückte in noch weitere Ferne. Dennoch finden sich emanzipatorische
Momente: Nämlich dort, wo Freud das Leiden am Subjektsein denunziert und
nicht als notwendig für die Kulturbildung legitimiert oder als
natürlichen Wesenszug des Menschen darstellt (vgl. bsp. Freud, Das
Unbehagen in der Kultur).
Die Weiblichkeit bei Freud Kritik der Anthropologie
Nicht nur bezüglich des Subjekts wird Freud zum Anwalt der Gesellschaft,
in der die Menschen, die er zu heilen versucht, leben. Für Freud sind
Kastrationskomplex, Ödipuskomplex und Penisneid Teil der Entwicklung jedes
Mädchens zur Frau. Schicksalhaft entfaltet sich die Weiblichkeit als Folge
des anatomischen Geschlechtsunterschieds. Die Bewältigung
jedoch ist subjektives Schicksal. Freud begreift den aus dieser
Entwicklungsabfolge resultierenden weiblichen Geschlechtscharakter wiederum als
natürlich. Indem Freud Schicksal als Natur missversteht, sitzt er einer
Verschleierung auf: Der gesellschaftliche Charakter des Dinglichen, in diesem
Fall Körperlich-Menschlichen, wird nicht erkannt. Für Freud ist
Körperlichkeit kaum gesellschaftlich verortet, er vertritt ein
ahistorisches Menschenbild. Der natürliche Körper scheint für
ihn an sich gegeben zu sein.
Jedoch ist Natur und so auch der menschliche Körper immer schon
gesellschaftlich und historisch vermittelt: stets erfahren die Menschen
eine geschichtliche Natur und eine natürliche
Geschichte(16). Das heißt, dass das
Naturverständnis (das umfasst auch das subjektive Körperempfinden)
immer schon gesellschaftlich vermittelt ist, dass es in einem bestimmten
objektiven Rahmen stattfindet, welcher der subjektiven Wahrnehmung eine
Richtung weist.(17)
Die moderne patriarchale Gesellschaft wiederum vergisst ihre geschichtliche
Entwicklung. Sie setzt sich als ewig und unveränderlich, somit als
natürlich. Gesellschaft wird bei Freud nicht explizit thematisiert,
sondern sie wird als gegeben vorausgesetzt. Dieser Blindheit gegenüber der
gesellschaftlichen Bedingtheit und den objektiven gesellschaftlichen Prozessen
ist wohl seine Neigung zur Anthropologisierung geschuldet, d. h. dazu, die
in der psychoanalytischen Therapie aufgefundenen psychischen Strukturen (Trieb,
Ich, Es und Überich usw.) und Inhalte (Inzesttabu) als natürlich zu
setzen. Sie wurden von Freud als dem Wesen des Menschen zugehörig
erklärt. So geht er davon aus, dass sich der anatomische
Geschlechtsunterschied von Mann und Frau psychisch niederschlagen
müsse(18). Psychologische Entwicklungen werden von Freud als
Folge anatomischer Gegebenheiten interpretiert. In diesem Kontext wurde ihm
häufig richtigerweise die biologische Erklärung sozialer Sachverhalte
vorgeworfen (vgl. Fromm, Horney usw.). Die gesellschaftliche Minderwertung und
Geringschätzung der Frau sowie die Überlegenheit des Mannes ergeben
sich laut Freud aus der vollzogenen oder bloß angedrohten
Kastration, die für ihn eine solche anatomische Gegebenheit darstellt.
Für Freud ist Weiblichkeit letztendlich biologisch festgelegt. Es muss
aber eine bestimmte Abfolge psychosozialer Prozesse erfolgen, damit sie sich
auch entfalten kann. Freud untermauert gesellschaftlich erzeugte
Geschlechterzuschreibungen, indem er sie als anatomisch angelegt begreift.
Der starke Hang des Begründers der Psychoanalyse, das gesellschaftliche
Schicksal der Frau zu naturalisieren, wurde häufig von Feministinnen
angegriffen. Beispielsweise reagierte die bekannte Psychoanalytikerin Margarete
Mitscherlich-Nielsen auf biologische Erklärungen Freuds mit der
Richtigstellung seiner anatomischen Voraussetzungen mittels aktueller
naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Auf deren Grundlage widerlegt sie die von
Freud als Folge der Anatomie verstandene Entwicklungsnotwendigkeit der Frau,
sich von der Männlichkeit zur Weiblichkeit wenden zu müssen. Da die
Frau mit einer primären Weiblichkeit(19) (schon das
Embryo in seinen ersten Lebenswochen sei weiblich) zur Welt komme, stelle sich
für sie nicht die Aufgabe, ihr Geschlecht wechseln zu müssen. Den
Penisneid erwirbt das Mädchen dennoch, aber nicht aufgrund eines
minderwertigen Organs, sondern weil es sozialisationsbedingt keine inneren
Repräsentationen von seinem Geschlechtsorgan aufbauen konnte. Eltern und
andere nahe Bezugspersonen als Vertreter der Gesellschaft, behindern in dieser
Sozialisationsauffassung die Entfaltung der angeborenen und vollständigen
Weiblichkeit. So kommt das Mädchen zum Penisneid aufgrund prüder
Erziehung und beobachteter größerer Freiheiten des Jungen. Diese
führt sie auf sein Geschlechtsorgan zurück und beneidet ihn darum.
Getragen wird diese Kritik an Freud von einem Gesellschaftsverständnis,
nach dem diese sich über einen als natürlich gedachten Menschen
stülpt und auf ihn lediglich äußerlich einwirkt.
Aber das Mädchen erfährt die gesellschaftliche Stellung der Frau
nicht direkt, sondern körperlich vermittelt im Prozess der
Sexualunterdrückung. Erst als Erwachsene kann sie die bis dahin nur
subjektiv verschleiert erfahrenen, aber dennoch objektiven patriarchalen
Strukturen reflektieren, also gedanklich durchdringen. Bloße
soziologische Erklärungen psychoanalytischer Erkenntnisse verdecken die
unbewussten Vorgänge: Der Freudsche Satz: Irgendeinmal macht das
kleine Mädchen die Entdeckung seiner organischen
Minderwertigkeit(20), lässt sich nicht (darauf weist die
Feministin Carol Hagemann-White hin) einfach in die Aussage der Feministin Kate
Millett: Das kleine Mädchen macht die Entdeckung seiner
gesellschaftlichen Unterdrückung(21), verschönernd
umdeuten. Denn selbst die erwachsene Frau erlebt ihre gesellschaftliche
Minderstellung und Unterdrückung meist unaufgedeckt. Die patriarchale
Gesellschaft erscheint als natürlicher, zeitloser und geschichtsloser
Schicksalszusammenhang (Adorno). Daher fühlt das kleine
Mädchen, dass ihr genau das fehlt, was einen vollwertigen Menschen
ausmachen würde. Die in einer Gesellschaft herrschenden
Verhältnisse werden von den in sie hineingeborenen Menschen als Strukturen
des menschlichen Lebens erfahren und nur spät und mühsam
relativiert.(22) Für den einzelnen ist die Struktur
vorgegeben; dass er an ihr ungewusst mitstrickt, ist für ihn nicht direkt
erfahrbar. Indem das Mädchen sich als geschlechtslos begreift, erkennt es
die Schicksalhaftigkeit seiner gesellschaftlichen Stellung. So sicher es ist,
dass ihr nie ein Penis wachsen wird, so sicher ist auch, dass sie die inferiore
Stellung in der patriarchalen Gesellschaft nicht hinter sich lassen kann.
Was Hagemann-White gewissermaßen auf dem Boden der Psychoanalyse
vorbereitet, das Ernstnehmen und Gegen-den-Strich-Bürsten des Freudschen
Penisneidtheorems, führt die feministische Religionswissenschaftlerin und
Freudkritikerin Renate Schlesier auf gesellschaftstheoretischen Boden fort.
Gesellschaftlichkeit begreift sie nicht als etwas dem einzelnen Fremdes und
Übergestülptes, sondern als eine vermittelte Gesellschaftlichkeit,
die sich im Individuum selbst, in seinen Trieben und
Triebschicksalen (Freud) anzeigt. Schlesier versteht den zum Phallus
gewordenen Penis als Verdinglichung verstümmelter Sexualität nicht
nur der Frau, sondern gerade auch des Mannes. Sie begreift den Phallus (den
abgeschnittenen Penis) als Fetisch, der ein Verhältnis sichtbar macht, das
sonst nicht greifbar ist. Am Körper beider Geschlechter wird ihr
entsexualisiertes Verhältnis in verdinglichter Form
dargestellt(23). Freud beschreibt somit die weibliche Entwicklung als eine der
Desexualisierung, die er als notwendig legitimiert, da sich die Kultur (d.h.
Gesellschaft) über Triebumleitung und Triebunterdrückung stabilisiert
und überhaupt erst herstellt.
Freuds Texte zur Weiblichkeit verschleiern den ebenfalls von harten
Brüchen gezeichneten Werdegang des polymorph-perversen Jungen zum
triebsublimierenden Mann. Er beschreibt eine Entwicklung der Trieb- und
Bedürfnisunterdrückung, die für beide Geschlechter normal und
gesund wäre. Er affirmiert diesen Zustand und die Zumutungen dieses
Umgangs mit Körperlichkeit und Sexualität als kulturelle
Errungenschaften. Damit ist Freud per se kein Kritiker der psychischen oder
gesellschaftlichen Verhältnisse, die er vorfindet, denn Kritik hat die
Einsicht, dass es sich bei dem zu kritisierenden Gegenstand um den Ausdruck
eines gesellschaftlichen Verhältnisses handelt nicht um Natur. Erst
dadurch werden sie veränderbar. Freud ist nicht vorzuwerfen, dass er
das konkret Gesellschaftliche vernachlässige, sondern dass er sich
allzuleicht beim gesellschaftlichen Ursprung jener Abstraktheit beruhigt, bei
der Starrheit des Unbewussten, die er mit der Unbestechlichkeit des
Naturforschers erkennt. Die Verarmung durch endlose Tradition des Negativen
hatte er als eine anthropologische Bestimmung hypostasiert. Geschichtliches
wird invariant, Seelisches dafür zur historischen Begebenheit. Beim
Übergang von den psychologischen Imagines zur geschichtlichen
Realität vergisst er die von ihm selbst entdeckte Modifikation alles
Realen im Unbewussten und schließt darum irrig auf faktische
Begebenheiten wie den Vatermord durch die Urhorde(24). Der Kurzschluss
zwischen Unbewusstem und Realität verleiht der Psychoanalyse ihre
apokryphen Züge.(25)
Eine Theorie vom Subjekt wird erst zur Kritik, wenn der Mensch als ein
gesellschaftlich und historisch bedingtes Wesen verstanden wird. Bernard
Görlich wirft Freud vor, seine eigenen Einsichten unterschätzt und
sich darum der Aufgabe, das Vermittlungsproblem individueller und
gesellschaftlicher Strukturen genauer zu fassen, entzogen(26) zu
haben. Die Folge davon ist Psychologismus Freud schloss von
den vorgefundenen psychischen Konstellationen des Einzelindividuums
reduktionistisch auf überindividuelle Sachverhalte ... Damit droht die dem
praktischen psychoanalytischen Vorgehen aufgenötigte Anerkennung der
Bedeutung sozialer Faktoren aus dem Blick zu geraten, ja, werden diese
Einsichten verstellt durch den groß angelegten Entwurf eines scheinbar
vollständigen Erklärungsangebots, eben des Zusammenspiels
biologischer Grundkonstanten, der Auseinandersetzung antagonistischer
Natur-,Prinzipien, die mit realer Geschichte und konkreter Gesellschaft
kaum mehr vermittelbar erscheinen.(27) Mit seiner Erklärung
der Minderwertigkeit der Frau über den anatomischen Mangel
verstellte Freud sich und anderen den Blick auf die gesellschaftlichen Ursachen
der inferioren Stellung der Frau. Das Verhältnis zwischen Kultur und Natur
gestaltet sich für Freud so, dass die Kultur auf der Natur ruht, sozusagen
aus ihr herauswächst. Dennoch gelingt es ihm, die Leiden der Menschen an
der Triebunterdrückung zu diagnostizieren, nur sind seine Mystifizierungen
dieses Leidensprozesses im geschichtlichen und kulturellen Kontext zu
entschleiern: Wir haben es ... niemals mit Sinneserlebnissen
,überhaupt zu tun, sondern stets nur mit solchen, die uns im
praktischen Kontakt mit Natur und Gesellschaft zuteil
werden.(28) Freud suchte nach Tatsachen; dem ist
entgegenzuhalten, dass diese immer gesellschaftlich vermittelt sind.
Freud zementiert gesellschaftlich erzeugte Geschlechterzuschreibungen als
anatomisch angelegte. Seinem aufklärerischen Anspruch, das Ich vom Es
freizusetzen, und das Subjekt vom Getriebenwerden durch unbewusste Prozesse zu
befreien, wird er dadurch nicht gerecht. Für die Gesellschaftskritik
ergibt sich so die Notwendigkeit, aber auch die Möglichkeit, seine Methode
auf seine inhaltlichen Vorgaben anzuwenden und derart die Aufklärung mit
dem Ziel, die Menschen von ihrer Abhängigkeit und Getriebenheit zu
befreien, weiterzutreiben.
Schlussfolgerungen
Freud ist am Subjekt gescheitert. Zum einen erkannte er, dass die
Aufklärung im Subjekt gescheitert ist, dass das Subjekt heute kein
erlöstes, sondern ein gequältes ist. Er beschrieb die
Widersprüchlichkeit des Subjekts, sein Leiden am
NICHT-HERR-IM-EIGENEN-HAUSE-SEIN, er beschrieb seine Zerrissenheit und das
Leiden, das durch die Aneignung des Geschlechtscharakters und der
Triebunterdrückung hervorgerufen wird. Gescheitert ist er dort, wo er
positive Entwicklungsziele vorgibt (gesunde passive Weiblichkeit), und dort, wo
er gesellschaftlich erzeugtes Leiden, z. B. an der Triebunterdrückung
als Kulturschöpfung, affirmiert.
So ist der Penisneid als Symbolisierung der verhinderten tatsächlichen
Beziehung zwischen beiden Geschlechtern zu deuten. Gleichsam schwebt er
über ihrem Verhältnis. Er verbildlicht die Entsexualisierung, die
beide Geschlechter in ihrer Entwicklung erfahren. Auch Männlichkeit ist
vor diesem Hintergrund als Resultat der Triebunterdrückung zu begreifen.
Hagemann-White appelliert, Freuds Psychoanalyse ernst zu nehmen und deren
Potential für Gesellschaftskritik zu nutzen: mit ihrer Hilfe lässt
sich die Geschichte der unterdrückten Bedürfnisse aufdecken (Dies,
Frauenbewegung und Psychoanalyse).
Was also ist die Wahrheit, die mit der Psychoanalyse zu entziffern ist, bzw.
welche Wahrheit verschleiert die Psychoanalyse? Freuds Darstellung der
Kastration symbolisiert das verstümmelte Sexualleben der Menschen. Die
patriarchale Gesellschaftsform drückt sich sowohl in der
Geschlechtlichkeit des einzelnen Menschen als auch im Verhältnis zwischen
den Geschlechtern aus. Dabei sind die Menschen nicht einfach Opfer ihrer
Verhältnisse, sondern sie sind es selbst, die diese patriarchalen
Verhältnisse konstituieren und immer neu reproduzieren. Gesellschaft als
ein dialektisches Vermittlungsverhältnis zwischen Individuum und
Gesellschaft verstanden, greift nicht nur auf die Individuen zu, sondern diese
stellen Gesellschaft indirekt, vermittelt her. Damit erscheint gesellschaftlich
Konstituiertes als natürlich und tritt den Individuen verschleiert
entgegen. Sie gehen ihren eigenen Interessen nach, stellen dabei ihren
gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhang her und können dies nur
philosophisch reflektieren. Im unmittelbaren Vollzug bleibt das
Fetischverhältnis undurchschaut. Gesellschaft wird so als eine
Vermittlungsbewegung zwischen den Individuen begriffen. Diese
Vermittlungsbewegung bekommt aufgrund der Verselbständigung Gewalt
über die einzelnen. Kate Millett hat hier teilweise recht(29).
Allerdings entschwindet ihr, dass es das Denken und Handeln der Individuen ist,
das als verselbständigtes Herrschaft über sie gewinnt. Der Penis der
Kastrationsphantasie steht für ein von den einzelnen nicht selber
gestaltetes Geschlechterverhältnis. Dieses tritt als scheinbar
natürlich Gegebenes den Individuen entgegen und wird dennoch immer wieder
selbst von ihnen konstituiert. In diesem Kontext wirft Renate Schlesier Freud
vor, die weibliche Geschlechtlichkeit als natürlichen Unterschied
verklärt zu haben. Er ließ die Möglichkeiten der Durchdringung,
die ihm die psychoanalytische Methode bot, ungenutzt und trug statt dessen zur
weitergehenden Verschleierung bei; der gewachsene Fels, auf den er
in der Analyse stieß, ist eine zu einem Ding erstarrte gesellschaftliche
Vermittlung. Die Psychoanalyse erweist sich so als Ideologie, insofern sie nach
Marx und Lukács ein zugleich notwendiges und doch auch falsches
Bewusstsein ist: sie bringt in der Form intellektueller Verarbeitung
gesellschaftlicher und psychischer Zusammenhänge und Sachverhalte in
verschleierter Form eine Wahrheit ans Licht: dass die fetischistische
Gesellschaft als ein verschleiertes und verdinglichtes Patriarchat begriffen,
kritisiert und abgeschafft werden muss. Diese Kritik leisten zu können
darin besteht die kritische Relevanz der Psychoanalyse.
Micha Böhme
Literatur
Adorno, W. Theodor (1951), Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie,
Gesammelte Schriften Band 8, Soziologische Schriften Band 1, Frankfurt am Main,
1997, S. 42-85
Bindseil, Ilse (1979), Psychoanalyse als Subjekttheorie, erstmals erschienen
in: Kurnitzky, Horst (Hg.), Notizbuch 1 [Psychoanalyse und Theorie der
Gesellschaft], Berlin, 1979, Internet:
www.isf-freiburg.org/beitraege/Bindseil_Psychoanalyse.htm
Freud, Sigmund (1905), Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, herausgegeben von
Alexander Mitscherlich; Angela Richards; James Strachey, Sigmund Freud,
Studienausgabe Band V, Sexualleben, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am
Main, 2000, S. 47-145
Freud, Sigmund (1912), Über die allgemeinste Erniedrigung des
Liebeslebens, Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens II, Sigmund Freud
Studienausgabe Band V, Frankfurt am Main, 2000, S. 199-209
Freud, Sigmund (1915), Triebe und Triebschicksale, Sigmund Freud Studienausgabe
Band III, Psychologie des Unbewussten, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am
Main, 2000, S. 81-102
Freud, Sigmund (1918), Das Tabu der Virginität, Beiträge zur
Psychologie des Liebeslebens III, Sigmund Freud Studienausgabe Band V,
Frankfurt am Main, 2000, S. 213-228
Freud, Sigmund (1923), Die infantile Genitalorganisation (Eine Einschaltung in
die Sexualtheorie), Sigmund Freud Studienausgabe Band V, Frankfurt am Main,
2000, S. 237-241
Freud, Sigmund (1924), Der Untergang des Ödipuskomplexes, herausgegeben
von Alexander Mitscherlich; Angela Richards; James Strachey, Sigmund Freud,
Studienausgabe Band V, Sigmund Freud Studienausgabe Band V, Frankfurt am Main,
2000, S. 245-251
Freud, Sigmund (1925), Einige psychische Folgen des anatomischen
Geschlechtsunterschieds, Sigmund Freud Studienausgabe Band V, Frankfurt am
Main, 2000, S. 257-266
Freud, Sigmund (1931), Über die weibliche Sexualität, Sigmund Freud
Studienausgabe Band V, Frankfurt am Main, 2000, S. 275-292
Freud, Sigmund (1933), Die Weiblichkeit, 33. Vorlesung, Neue Folge der
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Sigmund Freud
Studienausgabe Band V, Frankfurt am Main, 2000, S. 544-565
Freud, Sigmund (1933), Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, 31.
Vorlesung der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die
Psychoanalyse, Sigmund Freud Studienausgabe Band I, Vorlesungen zur
Einführung in die Psychoanalyse Und Neue Folge, Frankfurt am Main, 2000,
S. 496-516
Görlich, Bernard (1994), Psychoanalyse, in: Grubitzsch, Siegfried;
Rexilius, Günter (Hg.), Psychologische Grundbegriffe, Mensch und
Gesellschaft in der Psychologie, Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg, 1994,
Revidierte und aktualisierte Neuauflage von 1987
Hagemann-White, Carol (1979), Frauenbewegung und Psychoanalyse, in: dies.,
Frauenbewegung und Psychoanalyse, Basel, Frankfurt am Main, 1986, S. 7-92
Horkheimer, Max/ Adorno, Theodor W. (1947), Dialektik der Aufklärung,
Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main, 1972
Kant, Immanuel (1784), Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in:
Bahr, Ehrhard (Hg.), Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen,
Stuttgart, 1998, S. 9-17
Kirchhoff, Christine, Anmerkungen zum Verhältnis von Gesellschaftskritik
und Psychoanalyse, in: initiative not a lovesong (Hg.): subjekt. gesellschaft
perspektiven kritischer psychologie, Münster, 2002, S. 111-124
Laplanche, J.; Pontalis, J.-B. (1967), Das Vokabular der Psychoanalyse, Band 1
und 2, Frankfurt am Main, 1977
Marx, Karl (1969), Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie,
Rohentwurf, Berlin, 1974
Metzler-Philosophie-Lexikon, Begriffe und Definitionen, Weimar, 1999
Millett, Kate (1969), Sexus und Herrschaft, Die Tyrannei des Mannes in unserer
Gesellschaft, München, Wien, Basel, 1971
Mitscherlich-Nielsen, Margarete (1975), Psychoanalyse und weibliche
Sexualität, in: Mitscherlich-Nielsen, Margarete; Rohde-Dachser, Christa,
Psychoanalytische Diskurse über die Weiblichkeit von Freud bis heute,
Stuttgart, 1996, S. 71-92
Mendelsohn, Moses (1784), Über die Frage: Was heißt aufklären?
in: Bahr, Ehrhard (Hg.), Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen,
Stuttgart, 1998, S. 3-8
Schlesier, Renate (1981), Mythos und Weiblichkeit bei Sigmund Freud: zum
Problem von Entmythologisierung und Remythologisierung in der
psychoanalytischen Theorie, erstmals erschienen bei der Europäischen
Verlagsanstalt, Frankfurt am Main unter dem Titel Konstruktionen der
Weiblichkeit bei Sigmund Freud, Frankfurt am Main, 1990
Scholz, Roswitha: Identitätslogik und Kapitalismuskritik, In:
Streifzüge 3/ 2001
Schmidt, Alfred (1973), Praxis, in: ders, Kritische Theorie, Humanismus,
Aufklärung, Philosophische Arbeiten 1969-1979, Stuttgart, 1981, S.
110-164
Anmerkungen
(1) Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, S. 42
(2)
Ich gehe davon aus, dass die warenproduzierende Gesellschaft das vorher
bestehende Patriarchat in sich aufgehoben hat. Es lebt in modifizierter Form
fort. Dabei ist es mit dem Kapitalismus derart verquickt, dass dieser nicht
ohne das Patriarchat bestehen kann. Er wird von dem asymmetrischen,
hierarchischen Geschlechterverhältnis getragen: Die
geschlechtsspezifischen Zuschreibungen von Charakteren gewährleisten die
Unterdrückung und Kontrolle von Bedürfnissen und Trieben, deren
Befriedigung den Bestand des warenproduzierenden Patriarchats gefährden. Die bürgerliche
Emanzipation der Frau konnte an der systemerhaltenden Triebunterdrückung
grundlegend nichts ändern.
(3)
Vgl. Renate Schlesieres empfehlenswerte Analyse: Mythos und Weiblichkeit bei
Sigmund Freud
(4)
Vgl. Schlesier, Mythos und Weiblichkeit bei Sigmund Freud, sowie
Hagemann-White, Frauenbewegung und Psychoanalyse
(5)
Bindseil, Psychoanalyse als Subjekttheorie, S. 1
(6)
Marx, Grundrisse, S. 111
(7)
Ich danke Martin D. für seine Mitarbeit an diesem Abschnitt.
(8)
Stichwort Aufklärung, Metzler-Philosophielexikon
(9)
Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
(10)
Mendelsohn, Über die Frage: Was heißt aufklären?
(11)
Also Autonomie, Selbstbestimmung an allererster Stelle.
(12)
Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, Exkurs II: Juliette oder
Aufklärung und Moral, S. 90
(13)
Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
(14)
Hierzu entwickelte Freud in der Traumdeutung die Begriffe der Wahrnehmungs- und Denkidentität bzw. später
den des Primär- und Sekundärprozesses. Vgl. Freud, Sigmund (1900),
Die Traumdeutung, Studienausgabe S. 535F, 539FF,
(15)
Freud, Neue Folge, 31. Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, S.
514
(16)
Schmidt, Praxis, S. 125, Zitate im Zitat: Marx; Engels, Die Deutsche Ideologie,
MEW Bd. 3, S. 44
(17) Vgl. dazu beispielsweise die Arbeiten von Barbara Duden oder Thomas Laqueur
(18) In seinem Text mit dem aussagekräftigen Titel: Einige psychische Folgen
des anatomischen Geschlechtsunterschieds schreibt er dazu: Die Differenz
in diesem Stück der Sexualentwicklung [Phallische Phase] beim Mann und
Weib ist eine begreifliche Folge der anatomischen Verschiedenheit der
Genitalien und der damit verknüpften psychischen Situation, sie entspricht
dem Unterschied von vollzogener und bloß angedrohter Kastration. S. 264f
(19)
Mitscherlich-Nielsen, Psychoanalyse und weibliche Sexualität, S. 78
(20)
Freud in Über die weibliche Sexualität, zitiert nach Hagemann-White, Frauenbewegung und Psychoanalyse, S. 34
(21)
Millett, Sexus und Herrschaft, S. 180, zitiert nach Hagemann-White,
Frauenbewegung und Psychoanalyse, S. 34
(22)
Ebd., S. 34
(23)
Erst im traumatisch erfahrenen und zur Zertrümmerung des Ödipuskomplexes bemühten Kastrationskomplex wird
der Penis zum Phallus, der die
Zerrissenheit des Geschlechterverhältnisses nicht innerhalb dieses
Verhältnisses selbst, sondern sowohl am Körper des Mannes wie an dem
der Frau signalisiert und an der Ungleichheit der Genitalien beider Geschlechter die abgewehrte Geschlechterspannung demonstriert. Dieser
Fetischcharakter des Phallus ist in Freuds psychoanalytischer Theorie undurchschaut. (Schlesier, Mythos und Weiblichkeit bei Sigmund Freud, S. 168)
(24)
Gemeint ist hier, dass Freud in Psychoanalysen auf den unbewussten Wunsch den
Vater zu ermorden, stieß und daraus folgerte es müsse in der
menschlichen Vorzeit tatsächlich einmal ein solches Verbrechen durch den
Sohn am Vater gegeben haben Adorno teilt hier Freuds Deutung der
Wunschphantasie Vatermord als Urszene der Kulturbildung, nicht.
(25)
Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, S. 61
(26)
Görlich, Psychoanalyse, S. 809
(27)
Ebd., S. 810
(28)
Schmidt, Praxis, S. 142, Herv. entfernt M. B.
(29)
Vgl. Millett, Sexus und Herrschaft, Abschnitt: Über Freud und den
Unterschied zwischen den Geschlechtern
|