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Wie die Linke wurde,
was sie ist

Buchcover, 15.4k

Nick Cohen: What’s Left. How the Left lost its way, London 2006

Bestandsaufnahme der Linken

Bei meinem letzten Aufenthalt in London vor ein paar Jahren hatte ich eine Diskussion mit einem englischen Bekannten über den Irakkrieg. Er rechnet sich dem rätekommunistischen Spektrum zu, war eindeutig gegen den Krieg und an der Organisation von Protesten beteiligt. Der Bericht von einem der ersten Koordinationstreffen, das von zwei Strömungen dominiert wurde, den Islamisten und den Trotzkisten der Socialist Workers Party(1), war schockierend. Die Islamisten fühlten sich durch die Anwesenheit von Frauen gestört und verlangten, dass diese bei zukünftigen Treffen nicht mehr erscheinen. Noch schockierender war die Reaktion der Trotzkisten. Statt diese Forderung als das zu bezeichnen, was sie ist, nämlich misogyn, und stante pede die Zusammenarbeit wegen unüberbrückbarer Differenzen zu beenden, stimmten die Trotzkisten zu.
Diese offene Kooperation mit reaktionären Bewegungen lässt sich nicht mehr mit der Strategie des Entrismus erklären, die durch Unterwanderung die Hegemonie in einer Bewegung oder Partei anstrebte. Diese Kooperation markiert entweder ein Einknicken, eine völlige Kapitulation vor dem Islamismus oder sie indiziert eine Konvergenz von radikal-linken und islamistischen Positionen. Dies bedarf einer Evaluation, die der englische Journalist Nick Cohen in dem Buch „What’s Left? How the Left lost its way“ vornimmt. Er ist Kolumnist des Observer und des New Statesman und schreibt außerdem regelmäßig für andere bekannte Zeitschriften. Politisch war er lange Zeit auf dem linken Flügel der Labour Party zu verorten. Dies änderte sich jedoch im Jahre 2003, dem Jahr des Sturzes des Baath-Regimes im Irak, das für Cohen eine Zäsur markiert und die Unbrauchbarkeit der klassischen Unterscheidung zwischen rechts und links evident werden ließ. Er hat keineswegs den Krieg mit Begeisterung unterstützt, aber war entsetzt über das Verhalten des Großteils der Linken. Wie, so die ihn antreibende Fragestellung, kam die Linke zu Beginn des 21. Jahrhunderts dazu, radikal rechte Positionen in Gestalt des Baathismus oder Islamismus zu unterstützen? Diese Frage durchzieht als Erkenntnisinteresse das Buch, das infolgedessen kein abgeklärtes, distanziert wissenschaftliches Elaborat ist, sondern eine leidenschaftliche Streitschrift. Es changiert zwischen Resignation wegen des Verfalls der historischen Urteilskraft und des Verrats der Linken an der Aufklärung, der Vernunft und am Universalismus und dem Willen dieser Entwicklung etwas entgegen zu setzen. Der Stil ist essayistisch, gespickt mit der dem Thema angemessenen Polemik. So ist etwa das Kapitel, in dem es um den Hitler-Stalin-Pakt und die historische Zusammenarbeit zwischen Nazis und Kommunisten geht, überschrieben mit: „All the Russians love the Prussians“.
Das Buch teilt sich in zwei große Abschnitte, Morbid Symptoms und Raging Fevers. Der zentrale Referenzpunkt des Buches ist der Krieg gegen das Baath-Regime, auf den der Autor immer wieder zurückkommt. Allerdings ist das Buch mehr als ein Buch über diesen Krieg. Es beschreibt die Entwicklung in England, die ihm vorausging, und es versucht, den Gründen für das Verhalten der Linken auf die Spur zu kommen. Dies geschieht sowohl in einer Kritik aktueller Entwicklungen als auch in historischen Exkursen, die deutlich machen, dass es nicht um gänzlich neue Phänomene geht.
Cohen, der von einem linken Familienumfeld geprägt wurde, führt an, er habe immer geglaubt, dass, bei allen Verbrechen und Dummheiten, die im Namen der Linken geschehen seien, der entscheidende Unterschied zur Rechten der Antifaschismus sei. Dieser Glaube sei mit dem Irakkrieg kollabiert. Während fast alle um ihn herum gegen den Krieg gewesen seien, sei dies für ihn nicht so klar gewesen. Aufgrund seiner Tätigkeit als Journalist, der sich mit Asylbewerbern in Großbritannien befasst hat, ist er mit vielen irakischen, vornehmlich kurdischen, Oppositionellen in Kontakt gekommen. Die Mehrheit davon waren Linke und Kommunisten.

Der Krieg gegen das Baath-Regime

Cohen konzediert, dass es gute Gründe gab, um gegen den Krieg zu sein. Jeder hätte aber auf der anderen Seite auch zugeben müssen, dass der Sturz des Baath-Regimes eine moralische Legitimität gehabt habe. Deshalb hatte er die Hoffnung, dass es nach dem Krieg zu einem Umdenken innerhalb der Linken käme. Während Bush und Blair weiter verdammt würden, hätte klar sein müssen, dass das Projekt eines neuen, demokratischen Irak eine unterstützenswerte Angelegenheit sei. Er schreibt: „I waited for a majority on the liberal-left to offer qualified support for a new Iraq, and I kept on waiting because it never happened (...). They didn’t think again when thousands of Iraqis were slaugthered by ‚insurgents’ from the Baath Party, which wanted to re-establish the dictatorship, and from al-Quaeda, which wanted a godly global empire to repress the rights of democrats, the independent-minded, women and homossexuals“ (S. 8).
Früher hätten die Konservativen immer Rechtfertigungen für diktatorische, faschistische Regierungen gefunden, während im neuen Jahrtausend diese meist von linker Seite kämen (vorausgesetzt es seien nicht die ‚eigenen’ faschistischen Parteien). Besonders hervor täten sich die Intellektuellen, die jede rechtsextreme Bewegung entschuldigten, solange sie nur antiwestlich und antiamerikanisch sei. Exemplarisch hierfür seien die Reaktionen auf den Anschlag am 11. September 2001 in New York City und auf die Anschläge am 7. Juli in London 2005.
In den folgenden Kapiteln zeichnet Cohen die Entstehung und Entwicklung der Baath Herrschaft im Irak, die rückgebunden wird an die Biographie Kanan Makiyas. Dieser entstammt einer wohlhabenden Architektenfamilie aus Bagdad. Sein Vater war gezwungen zu fliehen, weil er der Teilnahme an einer Freimaurerverschwörung verdächtigt wurde. Seine Mutter lebte als Iranerin ohnehin prekär unter der Herrschaft der Baathisten. Im Londoner Exil kommt Kanan Makiya mit linken Kreisen in Kontakt, wird Trotzkist und propagiert die permanente Revolution. Durch die zunehmende Beschäftigung mit der Struktur der Baath Herrschaft werden ihm jedoch die Grenzen einer (ökonomistischen) linken Analyse deutlich. Er ist gezwungen zu erkennen, dass Angst und Terror nicht Akzidenzien des Systems sind, sondern dessen Kern ausmachen. Im Jahre 1989 publiziert Makiya, zunächst synonym, das Buch „The Republic of Fear. The Politics of Modern Iraq“, auf das sich Cohen in seiner Darstellung stützt. Es ist eine Analyse der Herrschaftsstruktur des Baathismus.

Terror als System

Während sich Saddam Hussein als neuer Stalin ausgab und die Verlautbarungen häufig wie kommunistische Propaganda klangen(2), hat das Baath Regime zugleich sehr viele ideologische Elemente des europäischen Faschismus und des Nationalsozialismus übernommen. Dies zeigte sich in den omnipräsenten Verschwörungstheorien, den Schauprozessen gegen irakische Juden, die als zionistische Agenten verurteilt wurden und den Massenhinrichtungen irakischer Kommunisten.
Die Spezfik und Perversität der Herrschaft beschreibt Cohen anhand einer Sitzung des Obersten Rates der Baath Partei, der wegen einer vermeintlichen Verschwörung einberufen wurde. Saddam Hussein habe angefangen Namen von Delegierten vorzulesen, die der Mitwisserschaft bezichtigt wurden. Niemand wusste, wer der nächste sein könnte. Jede „Aufdeckung“ wurde mit Rufen wie „Lang lebe der Vater von Uday“, „Saddam ist zu milde“ oder „Eine arabische Nation mit einer heiligen Botschaft. Einheit, Freiheit und Sozialismus“ begleitet.
Cohen resümiert: „The Baathist method is something special. Saddam asks the survivors to execute the ‚traitors’. Personally execute them, that is, by joining the firing squad. His was a new totalitarian tactic in a century that seemed to have exhausted the possibilities of brutality. Stalin made Molotov divorce his wife and vote to have her imprisoned as a Zionist agent. Even that master of cruelty did not think to have him murder her“ (S.44).
Das Baath-Regime übte nicht nur permanent Terror nach innen aus, sondern war auch ständig im Krieg. Zu erinnern ist hier an den Überfall auf den Iran 1980-1988, die Annexion Kuwaits 1991 und den Völkermord an den irakischen Kurden, der mithilfe massiven Einsatzes von Giftgas durchgeführt wurde. Während es nicht verwunderlich ist, dass kleine Splittergruppen der radikalen Linken wie die Workers’ Revolutionary Party, deren Haltung Cohen darlegt, sich offen auf die Seite des massenmörderischen Regimes schlugen, hätte von der Mehrheit der Linken etwas anderes erwartet werden können. Dass sich dies als Illusion entpuppte, wird in dem Kapitel „Leftists without a Left“ expliziert. Kanan Makiya, der aufgrund seiner Analyse zu der Schlussfolgerung gekommen ist, dass nur ein Sturz von außen das Baath-Regime beseitigen könne, fand sich in den 1990ern plötzlich in ungeahnten Koalitionen wieder. Die Linke schwieg zu den Verbrechen im Irak und forderte die Aufhebung der Sanktionen. Nicht wenige kritisierten mit Bezug auf Edward Saids Buch Orientalism einen westlichen, ergo imperialistischen Blick auf den Nahen Osten, der dessen Eigenheiten verkenne. „Makiya replied that if you placed all the blame for the region’s disasters on Western imperialism and racism, you ignored the home-grown disasters of Arab nationalism and Islamism. The unintended consequence was an inverted racism that denied the autonomy of Arabs and let local oppressors off the hook. Tyrants could always claim that the woes that afflicted their peoples came from America or Israel, and divert the anger that should have been directed against them“ (S.75). Für derartige Positionen wurde er schließlich aus der Linken exkommunziert, wobei Cohen zu Recht darauf verweist, dass nicht Makiya seine Position verändert hat, sondern die Linke nach rechts gewandert ist. Seine Haltung galt plötzlich als neokonservativ und er wurde, neben vielen anderen irakischen Exilanten, als imperialistischer Krieghetzer diffamiert.

Gründe für die Entwicklungen innerhalb der Linken

Als einen der wesentlichen Gründe für diese Verschiebungen nennt Cohen den Zusammenbruch der Sowjetunion und damit einhergehend eine Implosion alter Kategorien und Hierarchien. Mit dem Ende des Kalten Krieges kollabierten zugleich auch das durch diesen bedingte Weltbild und die Vorstellung des Sozialismus als einer realen Alternative. Der Marxismus war durch den real-existierenden Sozialismus diskreditiert und schien obsolet.
Parallel hierzu kam es zum Aufstieg des Postmodernismus, der im Buch am Beispiel von Judith Butler, Baudrillard, Naomi Klein und Negri /Hardt abgehandelt wird. Außerdem wird die Unterstützung der iranischen Revolution 1979 durch Foucault kurz thematisiert.
Generell spricht Cohen von der „wilderness of post-modernism“ , der zu einem epistemischen Relativismus führe und dies mit weitgehenden Implikationen. „As epistemic relativism infected leftish intellectual life, all the old universal criteria, including human rights, the search for truth and the scientific method became suspect instruments of elite oppression and Western cultural imperialism.“ Deshalb würfen postmoderne Theoretiker einige der grundlegenden Erkenntnisse der Aufklärung über Bord, nämlich „the central tenet of the Enligthenment that men and women have the ability to transcend their circumstances and culture“ (S.106).
Die Postmoderne sei somit ein Verrat am Internationalismus und Universalismus und die pauschale Ablehnung des Westens führe dazu, dass Differenzen zwischen unterschiedlichen Gesellschaften und vor allem auch hart erkämpfte Fortschritte innerhalb der westlichen Gesellschaften nicht mehr wahrgenommen bzw. als bewahrenswert erachtet würden. Das Wahlrecht, die Grundrechte, die Trennung zwischen Kirche und Staat, die Frauenemanzipation, die rechtliche Gleichstellung Homosexueller etc. erscheinen lediglich als Ausdruck einer partikularen Perspektive mit beschränkter Geltung.
Welche perversen Formen der kulturelle Relativismus annehmen kann, verdeutlicht Cohen am Beispiel einer Diskussion zwischen amerikanischen Feministinnen über die Witwenverbrennung in Indien. Einige der Diskutantinnen rechtfertigten diese mehr oder weniger implizit, indem jede Kritik an nicht-westlichen Kulturen als hegemonial und patriarchal diffamiert wurde. Eine Thematisierung von Frauenunterdrückung in der Dritten Welt diene somit immer auch einem Schweigen über die Diskriminierung der Frauen in westlichen Gesellschaften. Im Gegensatz hierzu plädiert Cohen für die Unterstützung der breiten feministischen Bewegung in Indien, die sich an universellen Werten der Emanzipation orientiert. Der postmoderne Relativismus verrate demnach sowohl die linken irakischen Exilanten als auch die indischen Feministinnen.
Im folgenden Teil, auf den hier nur kursorisch eingegangen wird, geht es um die Haltung Europas im Jugoslawien Krieg Mitte der 90er Jahre. Vehement wird die abwartende, inaktive Position kritisiert, die sich von rechts bis links durchzog, wie am Beispiel Englands deutlich gemacht wird. Besonders habe sich aber die radikale Linke hervorgetan, die über serbische Verbrechen nicht nur geschwiegen, sondern diese gänzlich abgestritten hätte. Dies lässt sich exemplarisch an Noam Chomsky zeigen, aber auch an Thomas Deichmann, einem deutschen Journalisten, der damals viele Artikel für die Zeitschrift konkret schrieb und der beweisen wollte, dass es keine serbischen Internierungslager gegeben hätte.(3)
Als Zusammenfassung des ersten Teils kommt Cohen zu folgendem Schluss: „All in all, the liberal-left had not been in a worse state to confront fascism since the Thirties“ (S.214). Dies veranlasst ihn zu einem historischen Rückblick auf das Verhalten der britischen Linken vor dem Hintergrund der Bedrohung durch den Nationalsozialismus.

Appeasement und Pazifismus

Als Konsequenz aus dem Gemetzel in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges war der Pazifismus in England weit verbreitet. Auch nach der Machtübertragung an die Nazis war Appeasementpolitik sehr populär. Um jeden Preis sollte ein neuer Krieg verhindert werden. Außerdem sieht Cohen ein großes Manko darin, dass viele Linke generell die bürgerliche Gesellschaft als totalitär ansahen, was zur Folge hatte, dass die Gefahr eines wirklichen Totalitarismus nicht mehr erkannt werden konnte. Einige bekannte Pazifisten suchten das persönliche Gespräch mit Hitler und forderten eine Zensur gegen „Kriegshetzer“, also gegen diejenigen, die eine Kritik an dem nationalsozialistischen Deutschland und dem faschistischen Italien artikulierten. So gab es beispielsweise in der Zeitung Peace News, herausgegeben von der Peace Pledge Union, der Intellektuelle wie Bertrand Russell und Aldous Huxley angehörten, einen Artikel als Reaktion auf den japanischen Überfall auf China, in dem es hieß: „Clearly you cannot condemn Japan. It is war that is to be condemned“ (S.235). Solche Positionen wurden noch gesteigert durch den Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts. Bei Beginn des Zweiten Weltkriegs durch den Überfall Deutschlands auf Polen am 1. September 1939 begann die kommunistische Partei in der „People‘s Convention“ ein nationales Bündnis für Frieden und gegen das Kriegskabinett zu organisieren. Als Feinde wurden nicht Hitler und die Deutschen, sondern Churchill und die englische Regierung betrachtet. Es kam zu Streiks und Protesten. Zwei der bedeutendsten linken Intellektuellen, Eric Hobsbawm und Raymond Williams, schrieben ein Pamphlet zur Verteidigung des Überfalls der Sowjetunion auf Finnland und begründeten dies damit, dass so einer Invasion Russlands durch den britischen Imperialismus vorgebeugt werde. Diese Positionen wurden sofort obsolet und in ihr Gegenteil verkehrt, als es zu dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion kam. Plötzlich unterstützten die Kommunisten die englischen Kriegsanstrengungen.
Es gab jedoch, wie Cohen herausstellt, Intellektuelle, die sich anders verhalten haben und von Beginn an alles in ihrer Macht stehende getan haben, um den Nationalsozialismus zu bekämpfen. Der bekannteste ist George Orwell. Diesem wurde Verrat an der Linken vorgeworfen, weil 1949 er dem Außenministerium eine Liste mit Namen von Stalin-Sympathisanten zukommen ließ. Dies tat er, weil die damalige Labour Außenministerin, eine gute Freundin von ihm, Sozialisten einstellen wollte. Orwell wollte verhindern, dass Stalinisten in einflussreiche Positionen kommen. Wie sich später herausstellte war einer der Genannten, der im Informationsministerium arbeitete, ein sowjetischer Spion, dem es fast gelungen wäre, die Publikation von Animal Farm zu verhindern. Orwell war vehementer Antistalinist, seitdem Kommunisten ihn in Spanien während des Bürgerkrieges ermorden wollten, als Orwell auf Seiten der Republikaner gegen die Faschisten kämpfte. Dies markiert für ihn das Ende des Glaubens an eine einheitliche Linke. Diesen Glauben gebe es, so Cohen, bis heute. „The survival of the myth of the family of the Left shows that a simple point is still being missed: the totalitarian left isn’t part of the family of the democratic left, but the enemy of the democratic left because it doesn’t believe in democracy“ (S.248)(4).

Die Aktualität der Diskussion

Die traurige Aktualität der Auseinandersetzung mit pazifistischen Positionen, einer Appeasementpolitik und der Verkennung bzw. Affirmation einer faschistischen Gefahr wird im abschließenden Teil des Buches gezeigt. Zunächst behandelt Cohen die Reaktion der Linken auf den 11. September 2001. Verhaftet im alten antiimperialistischen Schema wurden antiamerikanische Reflexe aktiviert. Vor allem Intellektuelle betonten, dass es in den Angriffen eigentlich um Palästina gegangen sei. Betont wurde die Schuld des Westens und als Grundursache der Anschläge die amerikanische Außenpolitik benannt. Der Massenmord in New York City werde rationalisiert als nahezu natürliche Reaktion auf äußere Provokationen und es werde verdrängt, dass auch Menschen mit dunkler Hautfarbe eine faschistische Bewegung zur Unterdrückung und Ermordung anderer gründen könnten. Folgerichtig ist das Kapitel mit einem Spruch überschrieben, der als inoffizielles Motto dieser westlichen Intellektuellen gelten könnte: „Kill us, we deserve it“.
Cohen sieht im Islamismus die aktuelle Form des (deutschen) Faschismus.(5) Religion substituiere die Rasse, aber die Sehnsucht nach einer reinen Gemeinschaft, die Betonung des Opfers und das Streben nach Weltherrschaft seien identisch. Die Gewalt bezeichnet er als nihilistisch. „Violence was the only point of the violence because the Islamist dream of a Caliphate – a sexist, homophobic, racist, imperialist theocracy that would oppress about a billion Muslims – was impossible, as well as being undesirable from the traditional liberal perspective“ (S.260).
Die Position der Linken wird an der Antikriegsbewegung gegen den Irakkrieg expliziert. Verwiesen wird auf die Freude, die Saddam Hussein am Global day of action empfunden haben muss, als weltweit Demonstrationen stattfanden und Parolen wie „No War – Freedom for Palestine“ zu hören waren. Nolens volens marschierten die Demonstranten dafür, ein faschistisches Regime an der Macht zu halten. Cohen war kein bedingungsloser Unterstützer des Krieges. Er konzediert, dass es gute Gründe gab, gegen den Krieg zu sein, weil beispielsweise nicht absehbar war, wie lange der Krieg dauern und wie viele Zivilisten dabei sterben würden. Auf der anderen Seite hätte aber jeder einsehen müssen, dass es eine moralische Legitimation für ihn gab. Völlig fatal sei das Verhalten des Großteils der Antikriegsbewegung nach dem Sturz des Baath-Regimes gewesen. In dieser Situation hätte es nur eine richtige Position gegeben: die Unterstützung des Aufbaus eines freien, demokratischen Irak und die Ablehnung der sich entwickelnden Konterrevolution aus Jihadisten und ehemaligen Baathisten. Stattdessen unterstützten einige Friedensbewegte diese, indem sie den „Widerstand“ moralisch rechtfertigten oder gar Geld sammelten. Einer der Exponenten war George Galloway, ein ehemaliger Labour-Abgeordneter. Bereits mehrmals war er im Irak auf Staatsbesuch, hatte Saddam Hussein persönlich getroffen und Lobeshymnen auf ihn angestimmt. Später wurde er beschuldigt, Gelder aus dem Irak angenommen zu haben. Mittlerweile kooperiert er offen mit den reaktionärsten islamistischen Kräften, mit denen er die Partei „Respect“ gegründet hat, für die er nun im Parlament sitzt. Ein Kommunist blieb er trotzdem immer. Nicht nur, wie Cohen ausführt, bezeichnete Galloway den Zusammenbruch der Sowjetunion als die größte Katastrophe seines Lebens, sondern er verglich auch die Herrschaft Saddam Husseins mit der Phase der Industrialisierung in der Stalinzeit. Dies fordere nun mal gewisse Opfer. Dass Galloway die Hezobollah für eine unterstützenswerte Organisation hält, verwundert dann auch nicht mehr. Auf einer Demonstration in London sagte er in einer Rede: „Hezbollah has never been a terrorist organization. I am here, I AM HERE, to glorify the Lebanese resistance, Hezbollah, and I AM HERE to glorify the resistance leader, Hassan Nasrallah“ (S.294, Hervorhebung im Original, Seb). Cohen konstatiert eine weit verbreitete Konvergenz von radikal linken und extrem rechten Positionen. Klare emanzipatorische Perspektiven wurden ignoriert oder verschmäht und damit wurden die fortschrittlichen Iraker verraten. Dies trifft etwa auf Hadi Saleh zu. Saleh war Kommunist und aktiver Gewerkschafter, der sofort verhaftet wurde, nachdem die Baathisten 1968 erneut an die Macht gekommen waren. Er verbrachte fünf Jahre in einer Todeszelle, bevor er ins Exil nach Schweden fliehen konnte. Weil die Sowjetunion ein guter Handelspartner des Irak war, brach er mit dem Parteikommunismus, versuchte aber immer weiter die Linke über die Verbrechen im Irak aufzuklären. Im Jahre 2003 wandte er sich gegen eine militärische Intervention, ging aber sofort nach dem Sturz Husseins in den Irak zurück und beteiligte sich am Aufbau freier Gewerkschaften. In einem Schreiben heißt es: „We call on our brothers and sisters in the international community to support us to make sure that our rights in organising formal unions freely and openly are guarenteed and ensured“ (S.303). Dieser Aufruf verhallte ungehört. Die Hilfe blieb aus. Nicht lange nach seiner Rückkehr wurde er entführt. Zurück blieb nur seine gefolterte Leiche. Hadi Saleh hat Nick Cohen sein Buch gewidmet.
Deutlich betont wird, dass es für Linke eine Wahl gab. Sie hätten den Aufbau einer besseren Gesellschaft im Irak unterstützen können. Sie taten es nicht. Stattdessen: „They chose to go berserk“ (S.315). Aus welchen Motiven auch immer die Amerikaner Hussein stürzten, es habe eine Möglichkeit eröffnet. „The push for a democratic Iraq had American military and financial power behind it, but liberals the world over denied it moral support and legitimacy, which matter more“ (S.317).

Offener Antisemitismus in der „Friedensbewegung“

Den Hass und die Aggressivität der Kriegsgegner musste Cohen auch am eigenen Leib spüren. In einem Artikel im Observer warnte er die Friedensdemonstranten davor, eine Politik zu unterstützen, die Hussein an der Macht belasse. Er verwies auf die Verbrechen des Baath-Regimes und auf die zahlreichen irakischen Exilanten. Außerdem warnte er vor einem Auftauchen radikal rechter Positionen. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Beim Lesen der Emails am nächsten Tag, als seine Kollegin ihn bereits vor antisemitischen Ressentiments gewarnt hatte, gingen die schlimmsten Befürchtungen in Erfüllung. „I couldn’t believe the antisemitism that hit me. I learned it was one thing being called ‚Cohen’ if you went along the liberal orthodoxy, quite another when you pointed out liberal betrayals. Your argument could not be debated on its merits. There had to be a malign motive. You had to be in the pay of ‚international’ tycoons or ‚neo-conservatives’. You had to have bad blood. You had to be a Jew“ (S.334).

Die Gefahr des Faschismus

In einem abschließenden Teil wird nochmals auf dem faschistischen Charakter des Islamismus insistiert. Der Faschismus, so Cohen, sei keine Ideologie, die historisch obsolet ist. Sie tauche in neuer Form im Nahen Osten auf und übernehme viele Momente der europäischen Variante, seien es die Verschwörungstheorien, der Hass auf die Moderne oder den Antisemitismus. Statt dies zu thematisieren, werde in der Linken über die israelische Besatzung geredet. Als Fazit wird fest gehalten: „If the liberals and leftists are wrong, and there are good grounds for thinking that they are horribly wrong, history will judge them harshly. For they will have gazed on the face of a global fascist movement and shrugged and turned away, not only from an enemy that would happily have killed them but from an enemy which already was killing those who had every reason to expect their support“ (S. 354).
In einem kurzen Abschlusskapitel stellt Cohen die Frage „Why bother?“. Warum sich mit der Linken noch beschäftigen, wenn sie nicht nur heute vor dem Hintergrund einer faschistischen Gefahr völlig versagt, sondern auch historisch katastrophal gehandelt und immer wieder mit Massenmördern kooperiert, sie entschuldigt oder gar offen verteidigt hat? Nick Cohen geht es um eine Diskussion darüber, was im 21. Jahrhundert grundlegende Elemente einer emanzipatorischen Position sein müssen. Bei aller Kritik an der Linken gebe es Momente, an die anzuknüpfen unumgänglich sei, so etwa der Gedanke des Universalismus und die Ideale der Aufklärung. Es bestehe die Notwendigkeit, endgültig mit der orthodox-kommunistischen, antiimperialistischen Linken zu brechen und die Diskussion über die Neukonstituierung einer progressiven Linken zu forcieren. Aus dieser Überlegung ist das Euston Manifesto entstanden, ein Grundlagenpapier marxistischer bis linksliberaler Intellektueller aus Großbritannien und Amerika, das versucht, diese Positionen zu umreißen.(6)
Das Buch von Nick Cohen ist wärmstens zu empfehlen. Auch wenn viele Dinge nicht neu sind, wie die Kollaboration der orthodoxen Kommunisten mit den Nazis, oder woanders besser und ausführlicher dargestellt sind, wie die Kritik an der Postmoderne, bringt der Autor die unterschiedlichen Aspekte in einer gelungenen Art und Weise zusammen. Das Buch hat sicherlich einige theoretische Schwächen. So erscheint der Demokratiebegriff ungebrochen positiv und als Kontrapunkt zum Faschismus. Es fehlt eine Reflexion auf die immanente Dialektik und die Gefahr des Umschlags demokratischer Gesellschaften. Eine derartige Perspektive lässt sich wohl aus einer englischen Tradition heraus erklären, wo der Liberalismus seit Jahrhunderten verwurzelt und die liberale Demokratie realiter der absolute Gegenpart zu totalitären Bedrohungen war. Diese Kritik schmälert jedoch keineswegs die Verdienste des Buches. Cohen hat nicht den Anspruch ein theoretisches Buch vorzulegen. Er schreibt aus Wut und Verzweiflung über die Linke. Er ist polemisch und leidenschaftlich, gerade weil es ihm um die Erneuerung einer emanzipatorischen Perspektive geht.
Zugleich macht das Buch deutlich, dass die Diskussion der letzten Jahre innerhalb der deutschen Linken keine typisch deutsche ist, wie von antiimperialistischer und traditionslinker Seite gerne behauptet wird. Weil die aktuelle Gefahr des Islamfaschismus keine national beschränkte ist, und weil die Perspektive der Emanzipation nur universell sein kann, sind die Fragen, die sich stellen, überall die gleichen.

Seb

Anmerkungen

(1) Die SWP ist die größte trotzkistisch Partei in England und die Mutterpartei der mittlerweile aufgelösten, weil komplett in der Linkspartei aufgegangenen Sekte „Linksruck“.

(2) Nur am Rande sei hier angemerkt, dass die Sowjetunion der mit Abstand größte Waffenlieferant des Irak war und nicht, wie gerne suggeriert, Amerika, dessen Anteil minimal ist. Zwar gab es ein westliches Land, das viele Waffen lieferte, aber dies war Frankreich. Frankreich war ebenfalls führend am Bau des irakischen Atomreaktors in Osirak beteiligt, dessen Schicksal in einem kurzen, aber effektiven Einsatz der israelischen Luftwaffe im Jahre 1981 besiegelt wurde.

(3) Eine ausgiebige Erörterung dieser Aspekte würde zu weit führen. Angemerkt sei aber, dass ich damals eindeutig gegen den Krieg war und die Artikel Deichmanns und ähnliche Positionen rezipiert habe. Auch retrospektiv erscheint mir die Zerschlagung des multinationalen Jugoslawiens ein katastrophaler Fehler zu sein, aber dennoch wäre es lohnenswert, sich die Diskussionen erneut zu vergegenwärtigen. Auffallend ist zum einen, dass viele linke Befürworter des Irakkrieges aus England und Amerika, wie Nick Cohen oder auch Michael Walzer, bereits damals ein militärisches Eingreifen gefordert haben. Zum anderen waren die meisten Positionen der Antideutschen völlig überzogen und realitätsfremd. Der Krieg in Jugoslawien war kein „deutscher Krieg“ und es war nicht Deutschland, das hinterrücks Amerika in einen Krieg gezogen hat, den es eigentlich gar nicht haben wollte. Zwar ist diese Haltung als eine Fortsetzung der „Vierten-Reich“-Polemik zu sehen, aber richtig war sie auch damals nicht. Zu guter letzt sei noch darauf verweisen, dass der Krieg in Jugoslawien für einen der exponiertesten Antideutschen einen Umschlagspunkt markiert, der ihn von einem Verteidiger Milosevics zu einem Fürsprecher serbischer Faschisten machte. Folgerichtig ist er heute wieder journalistisch bei der national-bolschewistischen Tageszeitung „Junge Welt“ tätig, wird von der extremen Rechten gelobt, schreibt Bücher gegen Heuschrecken und Amerika und unterbreitet Querfrontangebote: Jürgen Elsässer.

(4) Bis heute gibt es die Betonung der Gemeinsamkeiten der Linken, was meist aus einem identitären Bedürfnis entsteht. Erstaunlich ist, dass trotz der seit Jahren geleisteten Kritik, wozu auch das zu rezensierende Buch gehört, dieses Bedürfnis fortlebt. Die Brüche und Auseinandersetzungen hätten schon lange deutlich machen müssen, dass es keine Vermittlung mehr mit antiimperialistischen, orthodox-kommunistischen Positionen gibt. Solange darüber keine Klarheit herrscht, muss die Kritik weiter formuliert werden, auch wenn sie nichts substantiell Neues bietet.

(5) Anzumerken ist, dass Cohen keine Unterscheidung zwischen Faschismus und Nationalsozialismus trifft. Wenn er von Faschismus redet, dann meint er den Nationalsozialismus. Dies ist aus analytischen Gründen problematisch, da ein allgemeiner Faschismusbegriff häufig dazu diente, nicht über die Spezifik des Nationalsozialismus, i.e. den Antisemitismus zu reden. Dies hatte gerade auch in der deutschen Linken verheerende Implikationen. Generell halte ich es für sinnvoll, eine strikte Unterscheidung zwischen Faschismus und Nationalsozialismus zu machen und Termini wie deutscher Faschismus oder Hitler-Faschismus zu meiden.

(6) Das Manifest findet sich unter www.eustonmanifesto.org

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last modified: 25.3.2008