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Lasst Euch verführen!

Zum Tod von Jean Baudrillard

In Frankreich gäbe es keine Intellektuellen mehr, behauptete Jean Baudrillard kürzlich in einem Interview. Dies läge daran, so die Argumentation, dass jene nur noch mit den Medien kommunizieren und nicht miteinander. Der Intellektuelle sei selbst zum Maskottchen, zum Pappkameraden einer Simulation geworden und verdiene gleichsam ausgehöhlt sein Etikett nicht länger. Nun ist der letzte echte Intellektuelle tot – es sei denn, er simuliert.
Baudrillard war Sprengstoff für die Linke seit seinem Aufstieg in die erste Theorieliga, da er als vermeintlicher Agent und Propagandist der Postmoderne den Sinn des Spiels in Frage stellte. (Für alle Kritiker: Selbst Foucaults vermeintlich poststrukturalistische Gesellschaftsanalysen hielt er zwar für schlüssig und dennoch für strukturkonservativ bis reaktionär.) Nicht das Ende der Geschichte (Fukuyama) sei eingetreten, sondern Geschichte ohne Ende, Zocken ohne Abpfiff, sinnentleertes (weil simulatives und endloses) Gedaddel von Quer- und Fehlpässen, andauernde Reproduktion von Signifikanten auf dem Spielfeld der Simulation: „The point of no return“. Zugegeben – Baudrillard war wenig optimistisch.
Nun mag man postmodernen Theorieansätzen, die jeden historischen oder realen Sinn, jedes Ziel und jeden Zweck durchstreichen, gespalten bis ablehnend gegenüberstehen oder diese eventuell als überzeichnete Metaphern von gewissem Wert ansehen. Vielleicht ist dies kurzsichtig, vielleicht notwendig. Jedoch die ideologischen Antennen so aufzustellen, dass alles, was das Etikett „Post“ trägt, geflissentlich übersehen wird, um stattdessen Second Life, 15.0k immer und immer wieder mit Marx und Adorno Doppelpass zu spielen (ohne Zug zum Tor versteht sich), mag für eine konsistente politische Position, die irgendeine Form der Praxis auf dem Schirm hat, zwingend sein. Schade ist es allemal.
Denn trotz oder wegen der „Agonie des Realen“ und bisweilen überdehnter Metaphern totaler Simulation hat Baudrillard als Platzhirsch der Postmoderne für die aktuelle Gesellschaftskritik einiges zu bieten, heute vielleicht mehr denn je.
Die Bedeutung massenmedialer Kommunikation (ob als Popkultur, StudiVZ oder Tagesschau) als die Instanz zu politischer, individualisierender und subjektivierender Wissensvermittlung ist schwer in Frage zu stellen. Die radikalen Konsequenzen, die Baudrillard konstatiert (nämlich dass nichts jenseits spezifischer Codierungen gilt, dass das Reale simulativ verdoppelt und damit bedeutungslos wurde und die politischen Kämpfe [sofern vorhanden] nur noch dissimulativ(1) das trügerische Realitätsprizip zu retten vorgaukeln) sind es erneut wert, zumindest bedacht zu werden.
Was Baudrillard schon in den siebziger Jahren fast visionär formulierte, scheint mittlerweile angesichts der Bedeutung von Zeichen und Information durchzusickern. Der reale Zeit/Raum (des Urbanen), dessen Assoziationen und Konflikte auf dem wirklichen Terrain des ökonomischen und sozialen Austauschs ihre Referenz fanden, hat keine Bedeutung mehr. „Heute ist zwar die Fabrik als Modell der Vergesellschaftung durch das Kapital nicht verschwunden, aber in der allgemeinen Strategie tritt sie ihren Platz ab an die gesamte Stadt als Raum des Codes.“ Die selbstzweckhafte und beliebige Reproduktion der Zeichenökonomie, der Wert von Information und Codierung, hat dem realen Raum längst den Rang abgelaufen. Die Bezugspunkte sozialer Kontake und politischer Konflikte sind simulativ, weil zeichengesteuert. Ihr Bodensatz ist die massenmediale Information. Folglich „ist nur das politisch wirklich von Belang, was heute diese Semiokratie, diese Form des Wertgesetzes attackiert.“
Die Architekturtheorie hat davon Wind bekommen und ist seit einigen Jahren von Schüttelkrämpfen geplagt. Nämlich seit sie begriffen hat, dass „Paris“ beispielsweise, aus Eiffelturm und Louvre bestehend, nur als Postkarte existiert (beziehungsweise der codierte, der hyperreale Raum von Bilderwelten und Stadtplänen den realen zur Fußnote hat werden lassen) und demzufolge authentisches Bauen obsolet geworden ist, weil dessen Fundament nur aus simulativen Bilderwelten besteht.
Auch die Subjekt- und Identitätskritik sollte sich Wohl oder Übel dem Thema stellen. Was ist noch real am Subjekt und dessen Wissen von sich und der Welt, wenn Individualität und sozialer Raum von Ratgebern aller Art, Serien und Werbesprüchen geformt ist, wenn Axe Sex und der Mini Revolution bedeuten? Wer BMW fährt, bewegt sich mit „Luxus in die Freiheit“ und Quelle liefert die „Ideen für ein schöneres Leben“. Communities haben kaum noch Bezug zum Raum, ihre Schnittpunkte sind kulturelle, simulative Codes.
Sicher, überzeichnete Werbesprüche sind ein alter Hut. Doch die Tatsache, dass sie nach wie vor für „teuer Geld“ über die Schirme flimmern, zeugt von ihrer Zugkraft. Der Warenfetischismus hat neue Dimensionen erreicht und ist zugleich an einem Umkehrpunkt gelangt. Nicht mehr der Gegenstand selbst ist sein Ziel, sondern die simulativen Codes, die seine Bedeutung erst formen. Die Werbewelt hat dies längst erkannt. Nicht das Auto wird verkauft, sondern die Freiheit, nicht Axe, sondern Sex und nicht die Jacke, sondern das Erlebnis des „Urban Outdoor“.
Dies muss man auch aus antikapitalistischer Pose ernst nehmen. Die simulative Wirkung der Zeichen ist dem Gegenstand vorgelagert, es geht nicht mehr um den realen Tausch von Waren, sondern um den symbolischen von Zeichen und Vorstellungswelten. Manche Waren sind vielleicht noch greifbar, ihre Bedeutung ist es längst nicht mehr.
Dass die Konsumenten sich nicht verwundert auf der Suche nach realer Freiheit und nach dem wirklich schönen Leben (was immer dies sein mag) die Augen reiben und stattdessen freudig Lebensstile konsumieren, verweist darauf, wie sehr das Subjekt selbst zur Simulation geworden ist beziehungsweise dass das Wissen von sich und der Welt nur noch simulative Referenzen aufweist. Der Gipfel freilich ist das Computerspiel „Second Life“, dessen Simulation Teil der simulierten Realität wurde – und umgekehrt.

Der symbolische Tausch, die Zeichenökonomie, hat längst das Politische erobert. Die großen Skandale und politischen Aufreger wirken dissimulativ, um dem politischen Theater das Attribut „real“ aufsetzen zu können.
„Es handelt sich stets darum, das Reale durch das Imaginäre zu beweisen, die Wahrheit durch den Skandal, das Gesetz durch die Überschreitung, die Arbeit durch den Streik, das System durch die Krise und das Kapital durch die Revolution. (...) Alles verwandelt sich in seinen entgegengesetzten Term, um in geläuterter Form zu überleben. (...) Die Macht inszeniert ihren eigenen Tod, um wieder einen Schimmer von Existenz oder Legitimität zu erlangen.“ Und schließlich: „In diesem Raum löst sich die Macht (...) auf und wird zu einer Simulation der Macht.“
Auch die Geschichte hat, seit Hayden White ihre Schriften als Fiktion überführte, kein Vetorecht mehr. Die Debatte um die deutschen Kriegsopfer zeigt dies aufschlussreich. Die simulativen Ereignisse der letzten Jahre haben „Geschichte gemacht“ – oder besser simuliert. Mit einer historischen Faktendebatte wird man dem Wehklagen der restaurierten Second Life, 10.7k Nation nicht entgegentreten können, weil deren Basis selbst als simulative Rekonstruktion überführt und den einflussreichen medialen Kompositionen weit unterlegen bleiben wird. Was das Wir der „erfundenen Deutschen“ (Der Spiegel) zusammenhält und konstituiert, ist nicht nur ein historisches Konstrukt. Die Referenzen sind simulativ, die Nation ist ein hyperrealer Machteffekt, dessen Zeichenökonomie das Subjekt selbst anordnet und somit Widerstand (wenngleich nicht jede Form) zum impliziten Bestandteil des Systems werden lässt.
Vielleicht lässt sich so die bittere Systemstabilität erklären, die die Linke so ungemein handlungsunfähig macht und möglicherweise ist es an der Zeit, radikale Positionen zu überdenken und neu zu formulieren. Baudrillard liefert dem geneigten Leser reichlich Stichpunkte, deren Aufnahme in linke Debatten mit durchaus kritischem Akzent sinnvoll wäre.
      „Für mich ist ein Denken in dem Maße radikal, wie es nicht danach strebt, sich in irgendeiner Realität zu beweisen, zu verifizieren. Das bedeutet nicht, daß es deren Existenz negiert, daß es ihrem Einfluss gegenüber indifferent ist, sondern daß dieses Denken es für wesentlich erachtet, sich als Element eines Spiels zu verhalten, dessen Regeln es kennt. Der einzige feste Punkt ist das Unentscheidbare, die Tatsache, dass eben dies bleiben wird und das Ziel der ganzen Arbeit des Denkens darin besteht, dieses Unentscheidbare zu bewahren.“
Oder abschließend und der Klarheit wegen in den Worten von Simon Joosten de Vries:
      „Der gelungene Ausbruch aus den theoretischen Dispositiven der systemkonservierenden gesellschaftlichen Sinn(Re-)Produktion ist als Artikulation der Möglichkeit von Un-Sinn immer schon revolutionäres Ereignis, insofern er zwar noch nicht die bestehenden Herrschaftsverhältnisse aushebelt, aber ihre Legitimation durch Wahrheit ad absurdum führt und sie als das darstellt, was sie in letzter Instanz sind: Gewaltverhältnisse.(2)
Robert Feustel

Anmerkungen

(1) Dissimulation: Verkleidung, Maskierung, Verstellung, Schein, Verheimlichung

(2) Simon Joosten de Vries: Die Welt des Denkens und das Denken der Welt, in: Lambert Schenkel; Simon Joosten de Vries: Umleitung oder: Wie heißt Bruno mit Nachnamen? Marginalien zu Althusser – Deleuze – Foucault, Giessen 1989, S. 55.

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last modified: 11.7.2007