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review corner Buch, 1.8k

„Erstens kommt
es anders, zweitens
als man denkt.“

CD-Cover, 14.2k

„Meine Biographie liegt in der Weltgeschichte.“ Lisa Fittgo erzählt aus ihrem Leben. Ein Hörbuch von Hanne und Hubert Eckart, Abacus Medien 2006.

Solidarität unerwünscht. Meine Flucht durch Europa. Erinnerungen 1933-1940. Carl Hanser Verlag 1992

Wenn sie so zurückblicken auf ihr Leben, können sie ein Resumee ziehen?“ „Ich wüsste eigentlich nicht, wie ich ein Resumee ziehen sollte (...) Es schadet ja nichts nachzudenken und ich lehne es auch nicht ab, aber ich bin eben ungeduldig und ich möchte etwas daraus machen; und wenn etwas zu machen ist dann soll man es auch tun. Das ist ein Resumee vielleicht meiner persönlichen Haltung – aber das Resumee im Allgemeinen, über meinen Lebenslauf, liegt in der Weltgeschichte.“ Ist es sehr unverschämt, einer 95jährigen am Ende eines langen Interviews zu einem langen Leben etwas abzuverlangen, was wohl nur post mortem möglich wäre? Was immer jedenfalls die Frage nach der Bilanz bezwecken soll, und was auch immer schließlich die Aussage bedeuten mag, dass sich eine Biographie „in der Weltgeschichte“ verberge: hinter uns liegen knapp dreieinhalb Stunden gesprochenes Wort.

Es spricht die Frau mit Namen Lisa Fittko, geboren 1909 in Uzgohrod. Von ihrer Kindheit spricht sie, ihrem Vater, der im ersten Weltkrieg eine Antikriegszeitung herausgegeben hatte, ihrem Bruder, der Marx gelesen habe, ihrer eigenen Politisierung und ihren Schwierigkeiten mit der SA im antifaschistischen Untergrund ab Januar 1933 – als, wie sie sagt, „der Terror ohne wirklichen Verfassungsbruch Masse und Charakter angenommen hatte“. Sie spricht über die so genannten „Märzgefallenen“, über die ersten „Judenboykott-Tage“, über ihr Verschwinden, zunächst in der Illegalität in Berlin, dann in Prag, über die Gestapo in Basel, über Frankreich, und über drei lange CDs hinweg über sich und sehr viel mehr, bis zu ihrer Niederlassung im Chicago der sechziger Jahre. Vor uns liegt etwas, das sich Hörbuch nennt. Der Titel: „Meine Biographie liegt in der Weltgeschichte. Lisa Fittko erzählt aus ihrem Leben.“
Die Produktion hört sich redaktionell und auch technisch kaum versiert an. Das ist zum einen einigermaßen schade, andererseits aber kann man nur froh sein, nicht permanent irritiert zu sein von schulmäßiger Betonung und mittelmäßigem Theater. Im Hintergrund von Lisa Fittkos gelassener Stimme hört man ihre Chicagoer Wohnung, ab und zu Tassengeklapper, Strassen- und Flugverkehrslärm. Sich nicht unerheblich voneinander abhebende Rauschpegel sind genauso unabsichtlich wie ohne jedes Problembewusstsein aneinander geschoben, die Schnitte ohnehin kaum geglättet. Immer wieder wird Fittkos Küchentisch-Sprachfluss abgeblendet von kurzen Stimmungsclips, was, wenn auch landläufiges Produktionscredo, gezwungen klingt und wohl den Hörbuchcharakter unterstreichen soll. Zum Glück beschränken sich diese Clips weitgehend auf Musik; zum Glück schafft es das Lisa Fittko- Hörbuch nicht wirklich zum Hörbuch. Also ein Interview? Ja und nein, weil es sich doch nur sehr beschränkt um ein Gespräch und um eine jedenfalls fragwürdige Interviewführung handelt. 95% der Zeit spricht Lisa Fittko, und zwar die gesamte Zeit frei aus ihrem Gedächtnis. Das meiste davon kann man bereits seit einiger Zeit in verschiedenen Büchern von ihr nachlesen.
Das Bundesverdienstkreuz hat sie bekommen, für ihre Leistung als so genannte Fluchthelferin an der französisch-deutschen Grenze. Allerdings verstehe sie das nicht so ganz; und letztendlich hätte ihr das auch kaum „in den Kram gepasst“. Denn das Gefühl von Gefahr und lebensbedrohlichem Risiko sei in der Berliner Antifa in den frühen dreißiger Jahren weitaus größer gewesen. Mit der bundesrepublikanischen Auszeichnung sei ihre ehemalige Tätigkeit als linksradikale Staatsfeindin beiseite geschoben worden. Die „Pyrenäen-Geschichte“, wie sie es nennt, wäre dagegen vor allem eine mittelmäßig-sensationelle Legende, die eng mit der Person Walter Benjamin und dessen verloren gegangener Aktentasche verbunden ist. Sie sei damit nicht einverstanden, habe aber inzwischen aufgegeben, dagegen zu kämpfen. „Ich sag nur was darüber wo immer ich die Gelegenheit habe und wo immer jemand mit einem Apparat sitzt und es aufnimmt und es vielleicht auch mal zeigen wird.“ Lisa Fittko ist im März 2005 gestorben. Sie selbst hat die Aufzeichnung ausdrücklich als Verbeugung vor all jenen verstanden, über deren Tätigkeit niemals berichtet wurde. Die ganze Sache kann ab sofort im Infoladen ausgeliehen werden.

vadim

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last modified: 28.3.2007