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das Erste, 0.9k

Alles andere ist Quark


Politik, die sich nur um Teilbereiche bemüht, verkennt den Zusammenhang des falschen Ganzen. Mit einem berühmten Satz Rosa Luxemburgs: Nur die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark. Von diesem Standpunkt aus werden Flüchtlingsräte, Antira-Gruppen, Umweltverbände und Antinazigruppen immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, dass Abschiebung, Rassismus, Naturzerstörung und Nazismus jeweils nicht ohne die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse abzuschaffen sind. Teilbereichspolitiker sind, so das kritische Urteil, Reformer oder gar ungewollt Handlanger des Systems.
Dass alles andere eben doch nicht Quark ist, beweisen reformistische Aktivitäten dort, wo sie Leuten ihr Leben erleichtern oder im Extremfall gar retten. Es kann einen sehr entscheidenden Unterschied bedeuten, Arbeitnehmerrechte in Anspruch nehmen zu können, vor Terrorakten geschützt zu werden, nicht von Neonazis angegriffen oder nicht staatlicherseits abgeschoben zu werden.

Flug-zeug-blatt, 22.8k

Dass alles andere als die revolutionäre Abschaffung des falschen Ganzen Quark ist, diese Aussage hat eine große Tradition – bis in Kreise der Kritischen Theorie hinein, die den Unterschied zwischen bürgerlicher Demokratie und kapitalistischer Produktionsweise auf der einen Seite und Nazismus auf der anderen Seite egalisierten, indem sie eine allgemeine Verfallssituation, eine finale Krise der bürgerlichen Gesellschaft konstatierten. Alfred Sohn-Rethel etwa war in den dreißiger Jahren – wie fast alle Kommunisten – davon überzeugt gewesen, dass alle kapitalistischen Staaten sich in faschistische transformieren werden: Der Kapitalismus ist auch „in den Demokratien [...] auf dem gleichen Weg zur kriegerischen Endkrise.“ Eine solche Krisentheorie dient als Fundamentalkritik und läuft solcherart Gefahr, entscheidende Unterschiede innerhalb des kritisierten großen Ganzen von vornherein auszublenden. Sohn-Rethel ist Mitte der 30er Jahre glücklicherweise der eigenen Theorie sowie den mehrheitlich pazifistischen und damit nicht antideutschen linken und linksradikalen Kreisen Englands in den Rücken gefallen und hat von Deutschland aus den antideutschen, bellizistischen Kräften in England, also den Konservativen journalistisch zugearbeitet.
Dass der Unterschied zwischen bürgerlicher Gesellschaft und dem Nationalsozialismus lebensentscheidend sein konnte und nicht in einem Jargon der Fundamentalkritik oder Revolution nivelliert werden darf, dass also nicht alles eine Soße von bürgerlicher Herrschaft ist, dafür hat sich Jean Améry in seinen Reflexionen stark gemacht – etwa in denen über das belgische Exil, in das er sich vorerst auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus hatte retten können.
„Es war [...] das unmittelbare Erlebnis ganz bestimmter Freiheiten, die definierbar nur sind durch die ihnen konträren Unfreiheiten [...] Da war der Polizist und drohte nicht mit einer Stahlrute, sondern sagte mehr oder weniger höflich `Mijnherr`; da war die sozialistische `Volksgezet` und nannte Franco mit rechtem Namen: eidbrüchigen Landesverräter; da waren die unheimlichen Freunde und mußten nicht bei Lebensgefahr ihre Unheimlichkeit verbergen, diskutierten vielmehr, so daß jeder es hören konnte [...] Man muß das freilich im Fleische erfahren haben: hier die bürgerliche Demokratie [...] und dort der Faschismus. Hat man sie [...] unmittelbar als Alltäglichkeit gelebt, was soll einem dann der verwischende Begriff `faschistoid`, der beide, Faschismus und Demokratie entgrenzt [...].“
Natürlich gibt es in der Analyse von NS und Demokratie keine solche eindeutige Grenze, wie sie Améry auf den Weg gen Belgien und damit in die Demokratie persönlich überschritt. In der Praxis kann der Unterschied, den der Grenzzaun markiert, einer von Leben und Tod sein. Als die Nazis in Belgien einmarschierten, wurde Améry als Jude und als Mitglied einer antifaschistischen Gruppe aufgegriffen. Erst musste er eine Tortur der Folter ertragen, danach Auschwitz, dass er als einer der wenigen überlebte.

Flug-zeug-blatt, 17.2k

Wie wirkt die Parole: laut derer alles andere als die Revolution Quark ist, angesichts der Befreiung von Auschwitz, die nicht nur Amérys Leben rettete? Richtig, sie wirkt zynisch und menschenverachtend. Die Parole besteht gerade darin, das Unwesen der Gesellschaft zu bejahen. Sie bejaht die Unterwerfung einzelner Belange unter ein großes Unterfangen, die Subordination des Individuums unter höhere Zwecke, oder philosophisch gesprochen: die Unterwerfung des Mannigfaltigen unter eine absolute Identität. Ganz praktisch hat der real existierenden Sozialismus die Parole, dass alles andere Quark ist, bewahrheitet und die Menschen zugunsten der Revolution unterjocht.
Die anfangs erwähnten Pole, auf der einen Seite die Reformer, auf der anderen Seite die Revolutionäre, haben aus dieser Perspektive nun ihre Ausgangspositionen getauscht. Die reformistischen Teilbereichspolitiker entpuppen sich als Radikale, die der Unterwerfung des Individuum unter höhere Ziele entgegenhandeln, während die revolutionären Kritiker als Büttel des gesellschaftlichen Unwesens kenntlich werden. Anders ausgedrückt: Die großspurigen Revolutionäre sind der kapitalistischen Gesellschaft, die freilich auch mit den Reformern gut kann, gar nicht so ungleich. Auch das Kapital subsumiert, instrumentalisiert oder zerstört alle Einzelbelange hinsichtlich seines großen Unterfangens: Akkumulation ist großartig, alles andere ist Quark.

Hannes Gießler

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last modified: 28.3.2007