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Die freien Entscheidungen der willigen Vollstrecker | |||
Daniel J. Goldhagen wieder gelesenDaniel Jonah Goldhagens Buch Hitlers willing executioners ordinary Germans and the Holocaust erschien in deutscher Sprache unter dem Titel Hitlers willige Vollstrecker ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust bereits im Jahre 1996 im Berliner Siedlerverlag. Das Buch löste damals eine immense Empörung in der deutschen Öffentlichkeit und vor allem auch in der deutschen Linken aus. Einerseits wurde es wütend abgewehrt: deutsche Durchschnittsbürger, wie auch Linke, witterten hier mal wieder einen Vertreter der von ihnen selbst in die Welt hinein phantasierten Kollektivschuldthese. Andere feierten das Buch, weil es zwar schonungslos mit der deutschen Vergangenheit abrechnete, aber gleichzeitig deutlich machte, wie schwer doch der Weg der Deutschen in die Demokratie gewesen sei, die dann glorreich doch noch gesiegt habe. Heute ist dieses Buch aus der linken wie bürgerlichen Öffentlichkeit weitgehend verschwunden.Allerdings birgt es aber auch nach wie vor ein großes Potential für eine Auseinandersetzung mit dem deutschen Antisemitismus in sich, gerade auch im Kontext seiner äußerst schrägen Rezeption. Nicht zuletzt gehörte es zu jenen Werken, die mein eigenes Denken grundsätzlich gestürzt und umgewälzt haben, die Thematik des Antisemitismus ins Zentrum meiner Auseinandersetzungen rückten und mir selbst deutlich machte, dass das, was die Leute denken, nichts Nachgeordnetes und Ableitbares ist. Daher hier eine Betrachtung, nachdem nunmehr seit der Herausgabe fast zehn Jahre vergangen sind. Nach knapper Vorstellung der grundlegenden Thesen Goldhagens werde ich zwei Probleme seines Buches diskutieren, die Freiheit der Entscheidung und den Antisemitismus als Krisenideologie. Auf andere Schwierigkeiten, etwa dass Goldhagen nicht fragt, warum sich in Deutschland ein auf Massenmord angelegter Antisemitismus durchsetzen konnte, gehe ich hier nicht ein. Die Thesen Goldhagens Die grundlegenden Ansatzpunkte des Buches sind schnell dargelegt:
Zur Frage von Sein und Bewusstsein Goldhagen wendet sich in seinem Buch entschieden gegen das, wie er es selbst nennt, Marxsche Diktum, dass das Sein das Bewusstsein bestimme. Der eliminatorische Antisemitismus durchherrschte, so Goldhagen, die damalige deutsche politische Kultur und bewog ganz normale deutsche Bürger zur Beteiligung an einem gegen Juden gerichteten Massenmord (vgl. Goldhagen, S. 533). Es war also die Überzeugung der einzelnen deutschen Bürger, die sie bewog, sich an einem derartigen Massenmord zu beteiligen. Goldhagen will der Tendenz entgegentreten, lediglich immer notorisch auf die Verhältnisse zu verweisen, welche die Menschen erst dazu gebracht hätten, dass sie also Getriebene gewesen wären, dass es sich bei ihnen um Leute gehandelt hätte, die überhaupt keine Verantwortung für ihr Handeln getragen hätten. Goldhagen weist zu Recht darauf hin, dass dies die Täter im Nachhinein entschuldigt. Man könnte jetzt bezüglich des marxschen Diktums, von dem der Autor spricht, entgegenhalten, Marx hätte jenen Satz vom Sein und vom Bewusstsein so ja nie geschrieben. Dieser ging vielmehr vom gesellschaftlichen Sein aus, welches das Bewusstsein bestimme. Damit wäre dann aber allerdings ein völlig anderer Begründungszusammenhang angesprochen. Dies ist zwar zweifellos notwendig und auch ich selbst habe dies an anderer Stelle getan. Man sollte sich jedoch vor Augen halten, dass Goldhagens Argumentation nicht auf eine Marxexegese zielt, sondern dass er eine Kritik des wissenschaftlichen Alltagsbewusstseins intendiert. Er attackiert ein Denken, welches sich die einzelnen Taten nicht verdeutlicht, welches weder bei den Tätern noch bei den Opfern die einzelnen Individuen vor Augen hat und welches im großtheoretischen Entwurf über das einzelne Geschehnis mühelos kritisch-theoretisch beflügelt und dennoch materialistisch geerdet hinweg gleitet und ein solches Bewusstsein ist tatsächlich häufig mehr oder minder marxistisch inspiriert, liest also den marxschen Satz vom Sein und vom Bewusstsein wirklich so, wie ihn Goldhagen unterstellt. Eine derartige Herangehensweise muss vor dem Hintergrund des hier besprochenen Buches als unkritisch behandelt werden. Wer sich dies verdeutlichen möchte, der oder dem sei es auch nunmehr zehn Jahre nach seinem Erscheinen dringlich ans Herz gelegt. Goldhagens gesamtes Buch sei ein Plädoyer für die freie Entscheidung des Einzelnen, sagte er selbst mal auf einer Veranstaltung irgendwo in Deutschland auf einer Vortragsreise. Dies sei hier als Ansatz genutzt, die Frage vom Sein und Bewusstsein in einer Form zu behandeln, die nicht über die Leiden der Opfer und über die Bestialität der Täter theoretisch sich aufspreizend hinweg gleitet, also in einer Form, die Goldhagens Buch ernst genug nimmt. Macht man Antisemitismus nämlich einzig an der Entscheidung des von ihm Überzeugten fest, dann müsste auch der Umkehrschluss gelten: nur der oder die ist antisemitisch, wer sich tatsächlich zu diesem als einer Art politischem Programm bekennt. Einem Antisemitismus von Leuten, die sich selbst als alles andere denn als Antisemiten betrachten, steht das Buch also ziemlich hilflos gegenüber. Die Freiheit des einzelnen Individuums und seine Entscheidungsfähigkeit macht Goldhagen zum unhintergehbaren Ausgangspunkt seiner Argumentation. Nun ist dies, um zu einer Erkenntnis der Tätermotivationen zu kommen, durchaus berechtigt, allerdings bleibt Goldhagen dann dabei stehen. Er bettet die bürgerliche Freiheit des Individuums nicht in ihren gesellschaftlichen Zusammenhang auf den Punkt gebracht: Goldhagen konstatiert zwar, dass die Deutschen aus freier Entscheidung aufgrund antisemitischer Überzeugung mordeten und ist auf dieser Ebene völlig im Recht; aber er fragt sich nicht, wie überhaupt Persönlichkeiten konstituiert werden, denen sich die Frage nach der Beteiligung an einem antisemitischen Massenmord überhaupt stellt, und er fragt nicht nach den tiefenpsychologischen Prädispositionen, welche die Entscheidung für die Beteiligung an einem solchen Mord nahe legen. Eine Konfrontation des Goldhagenschen Ansatzes mit psychoanalytischen Erkenntnissen ist aber insoweit gerechtfertigt, als sie nicht den Antisemitismus der Täter verharmlost oder entschuldigt, sondern vielmehr die Position einer Kritik an dieser Ideologie schärft und ergründet, wo Goldhagen selbst dem Anspruch an eine Kritik des Antisemitismus nicht gerecht wird. Antisemitismus als Krisenideologie Eine Abfuhr erteilt Goldhagen auch jenen Positionen, die den Antisemitismus als eine Krisenideologie zu fassen versuchen. Seine Argumentation: Der Antisemitismus ist keine Sündenbockideologie, die Bevölkerung ließe sich nicht gegen jede Bevölkerungsgruppe mobilisieren, es sei kein Zufall, dass immer wieder gezielt die Juden als Opfergruppe herhalten müssen, wenn ökonomische Probleme auftauchen. Daher ist für die meisten Menschen der Antisemitismus bereits vor der Krise zentrales Moment des Denkens, aber zunächst nur im Latenzstadium vorhanden. In einer Wirtschaftskrise kommt der Antisemitismus dann aber manifest zum Ausdruck. Antisemitismus ist für Goldhagen also keine Krisenideologie, sondern vielmehr ein in die Verstehensfähigkeit des Einzelnen wie in die Grammatik der Sprache eingeschriebenes kulturell-kognitives Modell (Goldhagen, S. 65). Auch hier ist Goldhagen auf der von ihm vorgeschlagenen Diskussionsebene uneingeschränkt zuzustimmen. Gegenüber Auffassungen, die behaupten, der Antisemitismus resultiere ursächlich aus ökonomischen Krisen und stelle selbst kein wesentliches Moment dieser Gesellschaft dar, ist seine Position ein für die Kritik des Antisemitismus nicht zu überschätzender Erkenntnisgewinn. In zahlreichen Theorien des Marxismus und auch der bürgerlichen Soziologie (letztlich auch etwa bei Heitmeyer) wird der Antisemitismus zu einem abgeleiteten Phänomen. Er ergäbe sich daraus, dass Menschen in bestimmten Zeiten an den Rand der Gesellschaft gedrückt werden bzw. Angst davor haben, dass dies geschehen könnte. Dagegen muss auf der Eigenständigkeit des Antisemitismus zwingend beharrt werden. Als Reaktion auf gängige Theorien, die den Antisemitismus als Krisenideologie zu fassen versuchen, erweist sich die Studie Goldhagens somit als probates Antidot. Gegen alle marxistischen und anderen soziologistischen Verharmlosungen muss auf der Eigenständigkeit dieser Ideologie, auf ihrer besonderen Qualität, beharrt werden. Die Lektüre von Goldhagens Buch ist dafür eine treffliche Schule. Aber auch hier bleibt Goldhagens Ansatz letztlich in seiner Durchführung nicht radikal. Seiner Theorie liegt ein einfaches Schema zugrunde. Der Antisemitismus wäre als ewiger in vielen Gesellschaften vorhanden, in Deutschland als eliminatorischer in besonderer Weise und in Zeiten ökonomischer Unsicherheit bräche er dann hervor. Dies schreit nach Konkretion und Radikalisierung. Goldhagen glaubt, nah an den Tätern und ihren Opfern dran zu sein, indem er exakt den Motivationen der Täter nachspürt und ins Auge fasst, was die Opfer erdulden mussten. Aber die entscheidende Konkretion ist letztlich doch dadurch zu erzielen, dass die Individuen, speziell die Täter, als das erfasst werden, was sie wirklich sind, nämlich gesellschaftlich gewordene. Nur in diesem Kontext ist auch der Antisemitismus als eine Ideologie bestimmbar. Ein Begriff, den Goldhagen zwar verwendet, aber an keiner Stelle seines Buches ausführt. Es handelt sich bei Ideologien um bewusste Reflexionsleistungen von vergesellschafteten Individuen, die eine Gesellschaft aktiv hervorbringen, welche sich dann fetischistisch verselbständigen. Ihrem individuellen Denken gehen objektivierte gesellschaftliche Denkformen voraus, die dem bewussten Denken bereits die entscheidende Prägung verleihen. Diese Denkformen, etwa Geld, Arbeit, Geschlecht oder Wert müssen nicht individuell generiert werden, sondern sind gesellschaftlich ihrerseits vorgedacht. Die bewussten individuellen Reflexionen bauen auf diesen Kategorien auf, stellen sie nicht in Frage, sondern gehen von ihnen aus und legitimieren sie damit. Antisemitische Ideologie ist somit eine Denkweise, die auf bestimmten gesellschaftlichen Grundlagen aufbaut, die sich strukturell aus ihnen ergibt. Er kann also auch nicht aus ihnen abgeleitet werden. Es handelt sich vielmehr um eine grundlegende gesellschaftliche Denkweise. Vor diesem Hintergrund muss der Antisemitismus adäquat als eine Krisenideologie in einem umfassenderen Sinne verstanden werden, als es bei Goldhagen debattiert wird. Die Krise ist keine reine Wirtschaftskrise, sie ist nicht reduzierbar auf Überakkumulation oder Unterkonsumtion, sondern in einer Krise des Kapitalismus als patriarchaler vergesellschafteter Gesellschaft zieht sich diese wesentlich, also nicht bloß äußerlich, durch die einzelnen Subjekte hindurch. Sie wird zwar von ihnen konstituiert, besteht aber dennoch unabhängig von ihnen. Die Krise ist den Subjekten wie der gesamten Gesellschaft nichts Äußerliches. Sie kommt nicht von außen über eine an sich gesunde Welt. Ich hatte oben festgestellt, der Antisemitismus könne nicht abgeleitet werden, sondern er ist eine grundlegende gesellschaftliche Denkweise. An diesem Punkt ist auf die Argumentation Postones zu verweisen. Auch dieser gegenüber hat Goldhagens Ansatz eine Menge für sich. Zwar ist Postones Position in seinem berühmten Text Nationalsozialismus und Antisemitismus geradezu daraufhin angelegt, eine Sündenbockerklärung des Antisemitismus zu vermeiden. Aber auch Postone ignoriert hier ganz in der Tradition der klassischen kritischen Theorie Horkheimers und Adornos und wohl auch Hannah Arendts die subjektive emotionale Beteiligung der Täter an den Massenmorden. Sie gelten ihm als gefühlskalte Befehlsempfänger. Dennoch sollte festgehalten werden: Die Juden gelten den Antisemiten als unfassbare, nach Auffassung von Antisemiten scheinbar von außen kommende Macht, welche angeblich die Gesellschaft zersetzen würde. Sie stehen für das Abstrakte dieser Gesellschaft, welches sich seinerseits nochmals in einzelnen Menschen niederschlägt, den Juden. Vor diesem Hintergrund bedeutet Antisemitismus als Krisenideologie nicht, dass die Juden zufällig für diverse ökonomische Störungen verantwortlich gemacht werden, sondern: Die kapitalistische, vergesellschaftete, sich von ihren Akteuren fetischistisch verselbständigende Gesellschaft dichtet ihr eigenes destruktives Potential bestimmten Menschen an und macht daraus ein abstraktes Prinzip, welches sie auch anderen Objekten, heute etwa dem Staat Israel als Juden unter den Staaten, anhaften kann. Allerdings droht bei Postone der Antisemitismus in Personifizierung des Abstrakten in den Juden restlos aufzugehen, was auch daran zu bemerken ist, dass er die sozialpsychologischen Probleme und die entscheidende Frage, warum die Verbrechen der Shoah von Deutschen begangen wurden, nach- und ihnen sein Konzept einer materialistischen Erkenntnistheorie ausdrücklich vorordnet. Damit droht seine Kritik zur marxistischen Methode, letztlich zur Schablone mit dem Wert als Universalprinzip der Erklärung aller Missstände zu verkommen (dem hier von mir vertretenen Ansatz liegt ein Begriff von Wert zugrunde, welcher diesen nicht als oberstes Prinzip, sondern zusammen mit der mit ihm korrespondierenden Abspaltung als ein alle Ebenen der Gesellschaft durchziehendes Prinzip betrachtet, vgl. Literaturliste). Goldhagen und die Deutschen Für die Zeit nach 1945 spricht Goldhagen bizarrerweise von einer Heilung der Deutschen vom Antisemitismus, obwohl er selbst deutlicht macht, dass dieser häufig in Zeiten relativer politischer und ökonomischer Stabilität schlicht und ergreifend nur noch latent vorhanden ist und sich oft nicht manifest äußert. Diese Position verweist dann tatsächlich auf eine durchgehende Schwäche des Ansatzes. Das demokratische System der freien Wahlen und Meinungsäußerung, welches Goldhagen mit der reeducation von den USA in Deutschland durchgesetzt sieht, taugt nicht als Kur gegen den Antisemitismus, so sehr man sich dies als Pragmatiker im besten Sinne des Wortes, also in dem Sinne, dass man jetzt und hier praktisch Relevantes zur Verbesserung des eigenen Lebens und des Lebens anderer tun will, auch wünschen mag. Die antisemitische Ideologie ist für Goldhagen letztlich ein Gebrechen bestimmter Kulturen (nunmehr im schlechtesten Sinne des Wortes), von welchen man sie immanent heilen könne. So sind auch die eingangs bereits erwähnten Reaktionen der deutschen Kritiker Goldhagens nichts als folgerichtig. Die einen hassten ihn zwar, selbstverständlich für Deutschland, weil er die Verstrickung der Durchschnittsdeutschen schonungslos benannte; aber die anderen liebten ihn natürlich ebenfalls für Deutschland (vgl. Beyer/Plättner) weil er zeigte, dass die Deutschen zwar einst sehr böse waren, aber inzwischen zu den Guten gehören, die überall auf der Welt (ob friedlich oder militant) Auschwitz zu verhindern helfen und gerade deswegen mit Auschwitz nichts mehr zu tun haben wollen. Martin Dornis Zum Weiterlesen Primärliteratur: Goldhagen, Daniel J.: Hitlers willige Vollstrecker ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust; Berlin 1996 Sekundärliteratur: Dornis, Martin: Von der Harmoniesucht zum Vernichtungswahn. Der Antisemitismus als basale Krisenideologie der Wertabspaltungsvergesellschaftung. Einige Überlegungen; in Exit! 3, Bad Honnef 2006 Küntzel und andere: Goldhagen und die deutsche Linke; Berlin 1997 Beyer/ Plättner: No Germans No Holocaust: Daniel Jonah Goldhagen und die Nachkommen der willigen Vollstrecker; in: AG Antifa/ Antira im StuRa der Uni Halle: Trotz und wegen Auschwitz Antisemitismus und nationale Identität nach 1945; Münster 2004 Postone, Moishe: Nationalsozialismus und Antisemitismus; in: Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen, Freiburg i. Br. 2005 Die angeführte Literatur ist im Infoladen Leipzig ausleih- bzw. einsehbar. |
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