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Eine kritische
Theorie der Schrift

Buchcover, 15.6k

Christoph Türcke: Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Eine kritische Theorie der Schrift, München 2005

Christoph Türckes neuestes Buch ist eine materialistische Geschichte der Schrift oder in den Worten des Autors eine kritische Theorie der Schrift. Er folgt damit einem Theorieverständnis, das die Wahrheit eines Begriffes oder einer Hypothese (um es sehr allgemein zu formulieren), niemals allein in ihrer bloßen Gegenwärtigkeit, im bloßen Übereinstimmen von Aussage und Ausgesagtem fasst, sondern das die Geschichtlichkeit des Phänomens als conditio sine qua non immer mit zu berücksichtigen versucht. Dieses Vorgehen ist dabei kein äußerliches, vielmehr sachlich geboten; die Geschichte des Phänomens – in unserem Fall der Schrift – ist keine rein kontingente und auch keine aus Freiheit, sie unterliegt der Logik eines Verhängnisses. Nicht die Menschen machen ihre Geschichte, die Geschichte macht die Menschen und dies lässt sich – partiell zumindest – fassen mit dem Begriff der Wiederholung. Was wird wiederholt und warum?
Um diese Fragen zumindest anzutippen, muss man ein wenig ausholen: Gewöhnlich und in aller Regel denkt sich der Mensch der Moderne (alle denen dieser Begriff zu akademisch ist, können hier auch „der böse Kapitalismus“ einsetzen, der dann „in uns“ denkt) als gespaltenes Wesen: als Geist und Körper, als Subjekt und Objekt. Diese als Entitäten gedachten Vorstellungen stehen sich strikt gegenüber, die Trennung bleibt auch nicht theoretisch, sondern ist erfahrbar und real. Ich denke mich in Abgrenzung von meinem Körper, ich denke ihn (der ja doch Ich ist) als Objekt. Diese Trennung kann man – und das ist oft genug geschehen und geschieht oft genug – als ewig menschliche hypostasieren. Dann fallen Denken und Natur (aber auch Gesellschaft) von Beginn an und immer schon auseinander und die Frage nach der Herkunft des Denkens kann nicht mehr gestellt werden. Denken wird als reines Denken begriffen und als völlig abgelöst von Natur, aus der es doch nur herkommen kann. Zwar ist es notwendig und sinnvoll eine begriffliche und praktische Trennung zwischen Mensch und Natur zu vollziehen – und wir vollziehen sie auch jeden Tag. (Auch eine Versöhnung zwischen Mensch und Natur kann es streng genommen nicht geben, jedenfalls kann sie nicht gedacht werden – weil es dazu zweier Individuen bedarf, die sprechen können – ich kann mich vielleicht mit meiner Natur versöhnen wollen, aber die Natur will sich nicht mit mir versöhnen, sie will nichts, der Begriff des Willens ist schlechthin sinnlos, wendet man ihn auf Natur an.) Andererseits bin ich nicht das ganz andere der Natur, denn das was jenseits der Natur liegt (die Gesellschaft, das Ich), ist immer auch als Reaktion meines natürlichen Leibes auf das, was als Natur bezeichnet wird, zu verstehen. Zusammengefasst: Das Mensch-Natur-Verhältnis ist hochgradig prekär und begrifflich nicht bis ins Letzte auflösbar. Es ist aber höchst berechtigt, die Frage nach der Herkunft des Menschen und seiner Institutionen nicht von vornherein auszublenden. Genau dies tut herkömmliche Institutionengeschichtsschreibung, so auch die der Schrift. Schrift wird dann immer schon als hochgradig sublimierte, rationale und profane Angelegenheit einige tausend Jahre v.u.Z. vorgefunden. Alles, was davor geschehen sein muss, findet keine Erwähnung, es ist und wird verdrängt und Verdrängung, das wissen wir seit Freud, rächt sich, indem sie sich in den unpassendsten Situationen geltend macht und diese der Wiederkehr des Verdrängten unterwirft.
Türckes Buch ist dagegen eine Aufarbeitung. Es geht ihm darum die Phylogenese der Menschheit als einen Verdrängungsprozess sichtbar zu machen und ihr Anhaltspunkte an die Hand zu geben, die es erlauben, das Verdrängte aufzuarbeiten. Eine Herkunftsgeschichte des Menschen zu schreiben, stößt dabei natürlich an Grenzen, an solche des empirisch Wissbaren, wie auch an begriffliche. Ebenso bleibt die Frage, inwieweit ein universalgeschichtlicher Bogen, nicht immer darunter leiden muss, Epochenbrüche nicht genügend zu berücksichtigen und das spezifisch Neue, das sich an gesellschaftlich-geschichtlichen Institutionen ausbildet, auszublenden. Aber dies tangiert nicht die Berechtigung der Fragestellung Türckes, setzt ihr lediglich Grenzen.
Die Verlaufslinie der Entwicklung der Schrift kann man mit Türckes Worten wie folgt beschreiben: „Schrift ist dem Kult entsprungen und schlägt in Schriftkult zurück“ (11). Dies bedeutet, dass Schrift zu den archaischen Errungenschaften der Menschheit gehört, zu ihrem sakralem Bestand, dessen Sakralität (religiöse Bedeutung) sich als Wiederkehr des Verdrängten im einem Schriftkult niederschlägt. Aber der Reihe nach.
Am Anfang aller Kultur steht in Türckes Konzeption der Naturschrecken.(1) Die ersten Menschen sind gehetzte Wesen, auf denen ein ungeheurer Druck lastet, der sie umtreibt, mit dem sie fertig werden müssen. Der Umgang, der mit dem Schrecken gefunden wird, ist seine Wiederholung. Wiederholung des Schreckens in veränderter Gestalt, der dem Schrecken seinen Schrecken nimmt, indem er wiederholt wird (durch die Wiederholung zu etwas anderem wird, sublimiert, bearbeitet wird). Die Praxis der Wiederholung des Schreckens ist zuallererst das Menschenopfer. „Es gibt keine opferlosen Kulturen. Konsens ist ferner, dass Opfer ursprünglich stets Blutopfer waren und dazu da, höhere Mächte zu besänftigen.“ (27)
Man richtet ein Mitglied der eigenen Sippe, in der Hoffnung, dass so nicht die ganze Sippe gerichtet wird. Das Opfer wird dadurch zu einem ausgezeichneten und – wenn das Wortspiel erlaubt ist – zur Urszene des Zeichens. Irgendwann – durch ein endloses Wiederholen – tritt nämlich, so
Schaufensterpuppe, 7.0k

Schaufensterpuppe, 10.3k
Türcke, die reale Praxis des Opferns zurück und eine neue Praxis entsteht, die dieses Opfern bloß noch bedeutet. Das Loch in der Schädeldecke, das den Tod nicht nur bedeutet, sondern das der Tod ist, tritt zurück gegen ein Zeichen, das diesen Tod nur noch bedeutet. Dieses Zeichen ist das Kainszeichen, es bedeutet den Tod und gleichzeitig ist es die Verschonung. Das Kainszeichen ist der erste Signifikant, der dann ausdiffundiert in eine Vielzahl von Bedeutungssystemen und -nuancen (45). Er ist der Keim der Schrift. Dabei sind diese Zeichen anfangs rohe Zeichen: Einritzungen, Einkerbungen, Verletzungen des Körpers.
Diese ersten Zeichen haben nicht bloß Bedeutung, sondern sie haben höchste Bedeutung, da sie vor dem Tod verschonen sollen. Sie werden als göttliche imaginiert, die Menschen stellen sich unter den Schutz Gottes, indem sie an sich ein Zeichen machen. Die ersten Zeichen sind also hochgradig sakral. Doch schleift sich diese Sakralität ab, diffundiert ins Profane. Mit der Entstehung des Eigentums vollzieht sich ein Wechsel des Objektes: Nun werden Tiere als Eigentum des Menschen gezeichnet, nicht mehr Menschen als Eigentum Gottes. Mit der Entstehung von Städten und ihrer schon hochgradig arbeitsteiligen sozialen Struktur entsteht dann eine wirklich profane Schrift (die erste bekannte stammt von den Sumerern um 3000 v.u.Z.), die zugleich bildlich ist. Es wird nun möglich, Besitzwechsel zu regeln, später Gesetzeswerke zu schaffen. Schrift wird nun selber zum Mittel der Distanzierung von der Natur und nicht mehr bloß zum Ausdruck dieser. Sie setzt Regeln und prägt das Denken.(2) Zugleich verändert sie sich aber weiterhin selber. Deuten Schriftzeichen zuerst nur auf die Sache selbst, bzw. besitzt jedes Wort ein Zeichen (wie heute noch in China), so gelingt in einigen Kulturen die Ablösung des Lautes vom konkreten Wort und die Verschiebung auf den Laut. Statt des Wortes (bzw. des Gegenstandes), wird nun der Laut, der den Gegenstand ja ebenfalls nur bezeichnet symbolisiert. Es entsehen Phonogramme (Lautzeichen), die die akustische Verlaufsform sehr genau nachzeichnen können, dem Bezeichneten aber absolut unähnlich sind. (82) Auch hier findet man also wieder Möglichkeiten der Distanzierung vom Unmittelbaren. Mit den Griechen, die das Alphabet erfinden, findet diese Entwicklung der Zeichen einen vorläufigen Abschluss, die Schrift ist nun profan. Zugleich aber spricht Türcke von einer ersten Krise der Schrift. (105) Schrift in ihre profane Gestalt gebannt, wird zum Gestell (d.h. zu einem mehr oder weniger starren Gefüge) und zum Gedankenspeicher. Zwar sichert sie die Gedanken, zugleich aber haben nieder-geschriebene Gedanken etwas totes. Sie sind nur zum Leben zu erwecken, wenn sie gelesen werden. Im Kommentar wird die Schrift kritisch und selbstbezüglich, sie verliert ihren Absolutheitsanspruch. Mit Platon deutet Türcke die antike Krise der Schrift. Schrift hat nämlich den Charakter des Unmittelbaren nicht, den Wahrheit beansprucht. „Wer von der Schrift Ernst erwartet, also die Einsicht selbst, die Wahrheit selbst, den führt sie in die Irre.“ (115/116) Für die Philosophie und für jede Wissenschaft mit einem solchen Anspruch ist dieses Problem nicht aufhebbar. Der starre Charakter der Zeichen verhindert jegliche Wesenschau (dieses Problem kommt aber bereits der Sprache zu). So kann Schrift allenfalls den Anspruch auf Wahrheit formulieren, niemals jedoch die Wahrheit selbst sein. (120)
Eine Krise anderer Art ist die moderne Krise der Schrift. Sie ist nicht selbst verursacht, sondern von Außen an sie herangetragen. Kurz und knapp könnte man sie auch als Krise des Buches bezeichnen. Das Buch droht den neuen Medien Film und Internet zu unterliegen. Der Film greift viel unmittelbarer auf den Rezipienten zu, als Bücher dies je vermögen werden. Gegen den Film kann man sich nicht wehren. (124) Der Film simuliert die Wirklichkeit und setzt die Menschen einer permanenten Reizüberflutung aus, während „Schrift ein nicht zu unterschreitendes Minimum an Hingabe (verlangt).“ (127)
Gegen den starren, linearen Buchtext war die in den 40er Jahren aufkommende Idee des Hypertextes gerichtet. Seine Pioniere verstanden unter ihm ein alles umspannendes Linksystem, welches das starre Schriftgestell wieder aufbrechen sollte und ein freies Assoziieren ermöglichen. Schrift sollte die Lebendigkeit von Sprache erhalten. So zumindest das Programm und dieses – konstatiert Türcke – musste scheitern. Letztlich ist das heutige Hypertextsystem (das Internet) keine verwirklichte Utopie, es kann nur „festgestellte Assoziationen“ (132) liefern, sei daher bloß ein „schrankenloses Verfügen über Fertiggerichte“ (147). Im Computerspiel etwa, wird die Freiheit der Wahl zur Freiheit zwischen vorgegebenen Möglichkeiten. Zugleich negiere das neue Netz die Schwerkraft der Schrift, indem es durch sein zuviel an Information gerade die Möglichkeit ihres Aufnehmens verhindere. „Glücklich, wer vom Zugriff auf die Textbestände dieser Welt so wenig erdrückt wird, dass er geistig mehr gewinnt als verliert.“ (152)
Trotz, vielleicht auch wegen, dieser schwerwiegenden Krise des Mediums Schrift und ihrer traditionellen Vermittlung durch das Buch und den linearen Text diffundieren der Begriff und verschiedene Bedeutungsmuster, die sich mit ihm verbinden, mittlerweile auf dem Markt der Möglichkeiten. Diesen Ausfaserungen und Verschiebungen widmet Türcke die letzten drei Kapitel des Buches.
Unter dem Begriff „Krypto-Ontologie der Schrift“ (153) versucht Türcke die französische Postmoderne zu fassen. Im Einzelnen kritisiert er Derrida und Deleuze. Letzterem wird Pseudo-Radikalismus attestiert: Deleuze‘s Denken beginnt – laut Türcke – mit dem Diktum, dass jede Bevormundung aufhören solle – insbesondere auch die der Logik selber: Der abendländische Logozentrismus gilt Deleuze alleinig als Herrschaftsform, das Denken müsse aus dem Dualismus befreit werden. Dem alten herrschaftlichen Denken setzt Deleuze das Rhizom gegenüber, bei dem jeder Punkt mit jedem verbunden sei, das also ein Netz sein soll und keine hierarchische Struktur. Die Absurdität des Deleuzeschen Unternehmens offenbart sich recht schnell: Um die Dualismen des abendländischen Denkens zu kritisieren, greift Deleuze selber auf Dualismen zurück. Er kann sein rhizomatisches Denken nur in deutlichster Abgrenzung zum Bisherigen entwickeln – betreibt abstrakte Negation. Zudem verlässt er qua Postulat den Rahmen des Argumentierens und ist schlechthin nicht mehr kritisierbar, denn jede Kritik baut auf Argumenten auf, welche wiederum als richtig oder falsch bewertbar sein müssen. Deleuze setzt am Ende gar Rhizom (Wirklichkeit) und Text in eins und kehrt zu einem reinen Identitätsdenken zurück. Zumindest wenn man vom Zustand des Delierens absieht, in dem sich Deleuzes Texte befinden: „Es ist gerade das Markenzeichen des Deleuzeschen Denkens, wie die Grammophonnadel auf einer Schallplatte zu laufen, deren Loch nicht genau in der Mitte sitzt: eine Art philosophisches scratching, längst ehe Discjockeys daraus eine musikalische Mode machten.“ (158)
Mit Derrida wird Türcke nicht ganz so einfach fertig wie mit Deleuze. Dennoch sind die Ähnlichkeiten zwischen den beiden frappant. Auch Derrida geht von einem herrschenden Denken aus: In der traditionellen Philosophie herrsche die Linie. Dagegen müsse ein neuer Zugang zur Mehrdimensionalität gebahnt werden, das Verfahren der Dekonstruktion. Auch Derrida greift also den Logozentrismus zentral an, allerdings unter dem Eingeständnis der Paradoxie dieses Unternehmens, denn er habe nur die „logozentrischen“ Mittel zur Verfügung. Was jedoch – so Türcke – solle man von einem Autor erwarten, der postuliere nichts sagen zu wollen. „Wie soll man ihn beim Wort nehmen, der jedes Wort schon unter Vorbehalt gestellt hat.“ (181) Letztlich wird bei Derrida die Metapher zum Ursprünglichen, er hypostasiert die différance. Sie ist der nicht zu fassende Urgrund von allem: „Die différance ist noch eine Umdrehung mysteriöser als ... Gott. Sie ist dasjenige, was übrig bleibt, wenn man vom Schöpfungsakt den Schöpfer und das Geschaffene abzieht und auch noch leugnet, dass das, was zurückbleibt, ein Schöpfungsakt ist.“ (187) All dem setzt Türcke ein dualistisches Denken entgegen, das sich seiner Grenzen bewusst ist. Nie kann der logos aufhören logozentristisch zu sein, er kann bloß aufhören, sich zum Weltengrund und Weltsinn aufzuspreizen. Immer gebe es einen Naturgrund, auf den der Logos sich zu beziehen habe. Dies jedoch verleugnet die Postmoderne und wird zum Schriftfetischismus.
Türcke geht noch einen Schritt weiter und versucht, das postmoderne Denken selber wieder auf seine gesellschaftlichen Bedingungen zurückzuführen. „Offenbar trifft die Hypostasierung der Schrift zur Urspur den Nerv einer Zeit, in der es auf unerhörte Weise schwierig geworden ist, Spuren zu hinterlassen.“ (190) Er benennt Phänomene, die einen Rückfall der Schrift ins Sakrale anzeigen. Mit dem Logo, der Warenmarke, gewinnt die Schrift eine Aura zurück. Die Marke wird zur Selbstmarkierung durch eine umfassende Firmenidentität. Die Menschen bringen sich wieder selbst Zeichen an, um sich dem Schutz einer höheren Macht zu unterstellen. „Ohne Logo sein, heißt unmarkiert sein, ein unbeschriebenes Blatt, ohne Zugehörigkeit, ohne Identität sein, verloren sein.“ (194) Sogar das Kainszeichen kehre wieder – als Mode – , wenn sich Angestellte und Kunden das Swoosh von Nike in die Haut ätzen ließen. „Vielleicht kommt man der philosophischen Hypostasierung der Schrift ... am ehesten auf die Schliche, wenn man sie als etwas überspannte Philosophie der Markenzeichen verstehen lernt.“ (196) Marken müssten Identität schließlich immer auch als Differenz darstellen; dies als letzter Grund dafür, dass pure Differenz keineswegs emanzipatorische Kraft entfalten könne.
Mit dem Kapitel zum genetischen Code geht Türcke dem Phänomen der Verlegung der Schrift in die Natur selbst nach. Der Begriff der Codes könne für die Struktur des Genoms allenfalls eine metaphorische Umschreibung sein, nicht jedoch eine reale Eigenschaft bezeichnen. Mit dem Begriff des Codes, der dann auch zu entschlüsseln sei (als hätte ihn jemand verschlüsselt), legt man Natur Absichten bei, die sie nicht haben könne. Zwar – das macht Türcke mit Rekurs auf Kants Kritik der Urteilskraft deutlich – müsse man der Natur Absichten unterstellen, wenn man sie zu beschreiben sucht, doch sei auf dieses Müssen immer wieder zu reflektieren. Dies geschieht in der modernen Genomforschung kaum, so dass die Rede vom genetischen Code und seiner anstehenden Entschlüsselung ideologischen Charakter bekommt: Sie ist eine frohe Botschaft und scheint einen Weg von der Dunkelheit zum Licht zu vermitteln. Da ist die Hybris nicht weit. Entschlüsselt man den Code, macht man seine Druckfehler ausfindig, liegt der Gedanke nahe, nun auch Gott zu spielen und die Fehler der Schöpfung zu reparieren. Dabei – so Türcke – gibt es keinen richtigen Urtext. Niemand könne definieren, was Gesundheit sei und darüber den perfekten Menschen schaffen. Sämtliche Perfektionsideale sind borniert d.h., ihrem Kulturkreis verhaftet. Die Natur hat Grenzen ihrer Bearbeitung und seien sie noch so unscharf. Sie müsse zwar bearbeitet werden, „damit man sie überhaupt aushält“, „richtig schreiben“ könne man sie jedoch nicht. (132)
Im kurzen Nachwort fasst Türcke sein Projekt genealogischer Aufklärung noch einmal zusammen und synthetisiert die Synthesen seiner letzten Bücher. So ist der Umschlag von Schrift in Schriftkult – die Wiederkehr des Verdrängten in neuer Gestalt – auch anderswo auszumachen als beim Phänomen der Schrift. Auch der Markt trägt sakrale Spuren(3) und hat die Funktion eines calvinistischen Gottes: Er nimmt die Ware Arbeitskraft an oder verwirft sie: „Sie mag noch so qualifiziert und unschuldig an ihrem Los sein und zudem auch noch die Marktlogik durchschauen; der Fluch dass unverkäufliche Waren keine Sinn haben, drückt sie gleichwohl nieder.“ (237) Türcke spricht vom Marktkult, der den modernen Fundamentalismus hervorruft(4) und endet da, wo heutzutage Gesellschaftskritik fast immer endet: Bei der Utopie. „Zur Bedeutung der Schrift gehört ... ihr Gegenteil: ihr Drang nach einem guten Ende.“ (242) Dadurch, dass sie immer auf ein Außen verweist oder Bedeutung hat, enthält sie zugleich den Drang dieses Äußerliche aufzuheben. „Erst die Schrift, die nicht mehr beherzigt werden muss, weil sie schon ins Herz geschrieben ist, wäre am Ziel ... Eine Schrift, die nichts mehr befiehlt, intendiert, bedeutet. Mit einem Wort, sie wäre erfüllt – das Gegenteil von fetischisiert.“ (243)

Michael Reich

Anmerkungen

(1) Der Anfang ist sicherlich eines der größten Probleme jeglicher Geschichtsschreibung. Gegen Türcke kann und muss man an dieser Stelle fragen, was den Schrecken zu einem Schrecken macht. Menschen sind erst dann Menschen, wenn sie den Schrecken nicht bloß erleiden, sondern auch eine Vorstellung von ihm besitzen. Sie müssen sich ihn gegenüberstellen können. Ohne eine solche Kulturleistung wären Opfer nicht möglich. (vgl. dazu – wenn auch unter ontogenetischem Aspekt – Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Bes.: Die Frage nach dem Ursprung der Vorstellung, Frankfurt am Main 1990, S. 468-483)
(2) Es ist, nebenbei bemerkt, eine der wichtigsten Leistungen Türckes, immer wieder das Eigengewicht des Phänomens herauszuarbeiten, wie hier an den verschiedenen Entwicklungsstufen der Schrift.
(3) Nachzulesen in: Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation, München 2002.
(4) Siehe: Fundamentalismus – maskierter Nihilismus, Springe 2003 und die Rezension im CEE IEH #102.

  • Review Corner: Türck'sches Allerlei (Türcke: Fundamentalismus – maskierter Nihilismus) aus CEE IEH #102

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last modified: 28.3.2007