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Über den Stillstand in der islamischen Welt

Buchcover, 13.5k

Dan Diner: Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt
Propyläen Verlag,
Berlin 2005
ISBN 3549072449

Das Buch „Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt“ des Historikers Dan Diner versucht die brennend aktuelle Frage zu beantworten, wie die fundamentale Krise in der arabischen Welt und die Entwicklungsdiskrepanz zwischen Orient und Okzident zu erklären ist. Hierzu holt er weit aus und führt die Leser von der Gegenwart aus zurück zur Entstehung der islamischen Religion. Das Buch ist in essayistischer Form gehalten, was es sehr lesenswert macht und dennoch der theoretischen Tiefe keinen Abbruch tut.
Der Autor kritisiert den in der akademischen Diskussion vorherrschenden Bezug auf das Konzept des Orientalismus, das auf Edward Said zurückgeht. Dieses schließt in kulturrelativistischer Manier das Verständnis des Orients als das Andere a priori aus. Die Verhältnisse im Nahen Osten dürfen somit nicht mit den Maßstäben der universellen Vernunft und der Aufklärung gemessen, sondern müssen in ihrer Eigenheit hingenommen werden. Alles andere sei eurozentristisch. Die Realität erscheint nur noch als Text, wodurch über Gesellschaft im allgemeinen und über materielle Verhältnisse im besonderen nicht mehr reflektiert werden muss. Die Postmoderne erweist sich folglich als die Umkehr der marxschen Thesen über Feuerbach. Über Möglichkeiten der Veränderung wird von ihr gar nicht mehr nachgedacht, es erscheint als hinreichend, eine neue Interpretation zu präsentieren. Gesellschaftskritik wird also abgelöst vom universellen Geplapper des akademischen Diskurses. Diner möchte dazu beitragen den „entstandene[n] intellektuelle[n]Schaden“ (29)(1) wieder gut zu machen und die „Allianz zwischen den im Vorderen Orient noch immer waltenden vormodernen Verhältnissen und dem im Westen über sie grassierenden apologetischen postmodernen Diskurs“ aufzulösen. Dies ist absolut notwendig, weil sie dazu führt, dass „die Menschen des Vorderen Orients um die mit der Moderne einhergehenden Errungenschaften und damit um ihre Gegenwart“ (13) gebracht werden. Die Richtigkeit dessen manifestiert sich in erschreckender Weise im Arab Human Development Report, der im Jahre 2002 von den Vereinten Nationen veröffentlicht wurde. Er zeigt die alle gesellschaftlichen Bereiche durchziehende Krise, sei es in der Ökonomie, im Bildungswesen oder hinsichtlich der Existenz bürgerlicher Rechte. Das Missverhältnis „zwischen einem hoch besetzten, auf vorgebliche religiös-zivilisatorische Überlegenheit insistierenden Selbstwertgefühl – und seinem beständigen Dementi durch die unbestechliche Wirklichkeit“ (26) kann nicht weiter kaschiert werden.
Zur Überwindung dieses Hiatus bedürfte es der radikalen Selbstkritik als Prämisse für die grundlegende Veränderung der Verhältnisse. Jedoch gibt es in der arabischen Welt einige Faktoren, die einen ungetrübten Blick auf die Gründe für die Unterentwicklung verhindern. Zu nennen ist die koloniale Vergangenheit, die zu einem Trauma, einer kollektiven narzisstischen Kränkung geführt hat, deren Auswirkungen sich bis in die Gegenwart durchziehen. Zweifellos hat dieses Trauma eine reale Basis, allerdings führt der Rekurs darauf allzu häufig dazu, jedes Problem exogenen Einflüssen zuzuschreiben und von den endogenen zu schweigen. Die permanente Externalisierung interner Probleme führt zu einer gesellschaftlichen Lähmung und bietet zugleich eine offene Flanke für Verschwörungstheorien. Dies zeigt sich in aller Deutlichkeit beim Umgang mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt in der arabischen Welt. Israel steht in dieser Weltdeutung symbolisch für den Westen, den Imperialismus und Kolonialismus. Es repräsentiert die kollektive Schmach der Araber und demonstriert immerzu die reale Zurückgebliebenheit der arabischen Länder.
Eines der Hauptprobleme sieht Diner in der fehlenden Säkularisierung, verstanden als „eine Tendenz der Verwandlung, die alle Lebensbereiche berührt.“ (33) Säkularisierung impliziert die Separierung sozialer Sphären, also die Trennung der Bereiche der Intimität, der Privatheit und der Öffentlichkeit voneinander sowie ihre Institutionalisierung in Gesellschaft und Staat. Der Säkularisierungsprozess tangiert jedoch auch das Denken auf der individuellen Ebene. Er ermöglicht die „kognitive Durchdringung und intellektuelle Aneignung der Lebenswelten“ (34), d.h. die rationale Auseinandersetzung mit sozialen Phänomenen.
Dass die Voraussetzungen für die kritische Auseinandersetzung mit den realen Gegebenheiten nicht gut sind, offenbart sich etwa in der hohen Analphabetenrate, der harten staatlichen Zensur und der lächerlich geringen Zahl von Übersetzungen von Büchern ins Arabische. Zentral ist hierfür, dass die arabische Hochsprache als Sprache des Korans „sakral versiegelt“ (40) ist.
Diner intendiert die Aufhebung dieser Entwicklungshemmnisse, was nur durch eine Säkularisierung und Profanisierung der Gesellschaft erreicht werden kann. Hierzu gehört die Stärkung des Individuums, die Entzauberung der Welt mit Hilfe der rationalen Methodik der Sozialwissenschaften und die Etablierung einer offenen Kultur. Es geht um die Zurückdrängung der „notorischen Präsenz des Staates in allen Domänen des sozialen und politischen Lebens.“ (51)
Die bisherigen Versuche der Modernisierung in der arabischen Welt müssen als gescheitert betrachtet werden. Sie waren, wie etwa in Ägypten oder Algerien, von oben oktroyiert und führten zur Bildung von Entwicklungsdiktaturen, die die Industrie nationalisierten, Sozialprogramme implementierten, aber auf der politischen Ebene sehr repressiv blieben. Realiter führten sie zur Herausbildung von Nepotismus, Korruption und Pfründewirtschaft. Spätestens der Zusammenbruch der Sowjetunion hat ihren Bankrott evident werden lassen. Diner merkt an, dass „sich ab einer gewissen Stufe der Entwicklung der Produktionsmittel ökonomischer Fortschritt ohne politische Partizipation nur schwer realisieren lässt.“ (46)
In den autokratischen Gesellschaften des Vorderen Orients war die Mehrheit der Bevölkerung nie in politische Entscheidungsprozesse integriert, und sie ist es bis heute nicht. Dies hat sowohl strukturelle Gründe, die in der ökonomischen Basis der Gesellschaften zu suchen sind, als auch historisch-kulturelle, die auf den Islam zurückgehen.
Entgegen der landläufigen Annahme sind die arabischen Gesellschaften nicht reich. Ihr Bruttosozialprodukt ist vergleichsweise niedrig trotz der vorhandenen Ölvorräte. Das Öl erweist sich vielmehr als „Fluch“ (55), denn es führt zur Stagnation oder gar Regression der Entwicklung. „Das Phänomen der rückläufigen Entwicklung wegen des schier grenzenlos zur Verfügung stehenden Reichtums hat weder mit der Kultur der Araber noch mit dem Islam etwas zu tun. Es ist einer Form der Einkünfte geschuldet, die als Rente, genauer: als Grundrente bekannt ist.“ (56) Die Einkünfte der Rentierstaaten resultieren lediglich aus der Ausbeutung und dem Verkauf von Rohstoffen. Die Verfügung über die Rohstoffe liegt in den Händen des Staates. Dieser hat die absolute Verfügungsgewalt. Es entwickelt sich eine bürokratische Struktur, die die Distribution des Reichtums regelt und gänzlich kontrolliert.
„Und die Verteilungsgerechtigkeit wird über islamrechtliche Maßgaben legitimiert. Damit knüpft der Staat im Vorderen Orient über die auf dem Weltmarkt realisierte Grundrente aus den Öleinnahmen an eine frühe, vormoderne Praxis der dort verankerten Tradition der Herrschaft an.“ (59)
Diese ökonomische Struktur, die eine spezifische Form der politischen Herrschaft impliziert, ist de facto ein Entwicklungshindernis, weil sie die Entstehung anderer Industriezweige scheinbar überflüssig macht. Ablesen lässt sich diese Tendenz etwa daran, dass in arabischen Ländern so gut wie keine Grundlagenforschung betrieben wird und ein arabischer Nobelpreisträger in Chemie oder Physik nahezu unvorstellbar ist. Es kommt zu einer Abwertung von kreativen Fähigkeiten, Gelehrsamkeit und Wissen.
Die grundlegende Krise in der arabischen Welt schwelte seit langem unter der Oberfläche täuschender Stabilität. Spätestens seit Anfang der 90er Jahre bricht sie immer wieder eruptiv hervor. Die Existenz der Sowjetunion als konkurrierende Supermacht ließ ein Lavieren zwischen den beiden feindlichen Blöcken zu und ermöglichte das Hochhalten vermeintlicher Blockfreiheit. Diese Zwischenlage fand ihr jähes Ende. Es wurde jede Perspektive dementiert, die eine alternative, d.h. sich vom Westen abgrenzende Entwicklung postulierte. „Was blieb war der Maßstab des Westens, auch als Maßstab für die eigenen zivilisatorischen Mängel und Gebrechen.“ (67)
Damit einher geht ein Erstarken der islamistischen Bewegungen, die ihr barbarisches Potential am 11. September 2001 zeigten, als fanatische Weltanschauungskrieger ein Passagierflugzeug in eine Bombe verwandelten und in New York City ein Massaker veranstalteten. „Die Tat interpretiert sich aus sich selbst. Der Westen, Amerika, ist zu bestrafen, weil es der Westen, weil es Amerika ist.“ (64) Diese Entwicklung wurde jedoch bereits in den letzten Jahrzehnten vorbereitet, so etwa durch den (damals von den USA unterstützten) Kampf der Mudjahedin gegen die Sowjetunion in Afghanistan und durch die erfolgreiche islamische Revolution im Iran im Jahre 1979.
Es reicht aber nicht, die heutige Krise in der arabischen Welt zu konstatieren und sich ihr theoretisch zu nähern. Deshalb geht der Autor nach der theoretischen Analyse der strukturellen Gründe zu einer historischen Betrachtungsweise über, die zunächst ins Jahr 1924 zurückführt. In diesem Schlüsseljahr wurden von Mustafa Kemal Pascha (Atatürk) grundlegende Reformen implementiert, die den Weg der Türkei in die Moderne öffnen sollten. Neben der Abschaffung des Kalifats und dem Amt des obersten islamischen Rechtsprechers und Rechtsinterpreten wurde ein paar Jahre später auch das arabische Alphabet durch lateinische Buchstaben substituiert. Dieser von den staatlichen Autoritäten zwangsweise verordnete Laizismus war die zweite große Kränkung gläubiger Muslime innerhalb weniger Jahre. Bereits 1918 wurde das Osmanische Reich, das im Ersten Weltkrieg mit Deutschland verbündet gewesen war, aufgelöst und unter den europäischen Mächten England und Frankreich aufgeteilt, was die Unterlegenheit offenbarte.
Als Konsequenz aus den dargelegten Ereignissen ergab sich eine Stärkung der Bewegungen, die eine Rückkehr zu einem authentischen und reinen Islam forderten, der eine Barriere gegen den dekadenten, zersetzenden Westen bilden sollte. Vordenker dieser Strömung war der in Britisch-Indien lebende Maududi. Er propagierte eine holistische Interpretation des Islam, die als strikter Gegensatz gegen westliche Ideen gesehen wurde. So verdammte er folgerichtig die Aufklärung und sämtliche zivilisatorische Errungenschaften des Westens. Der Islam erschien als Halt für die durch die Moderne aus ihrer Tradition und Verwurzelung gerissenen Menschen. Im Jahre 1928 wurde in Ägypten die Muslimbrüderschaft gegründet, was den Prozess der Transformation des Islam zu einer politischen Bewegung deutlich macht. Der Vordenker der Muslimbrüder war Sayyid Qutb. Er verfasste unzählige Schriften und eine dreißigbändige Koraninterpretation. Seine Weltsicht fasst Diner folgendermaßen zusammen: „Der Islam stelle eine in sich geschlossene göttliche Wahrheit dar, die keinerlei Anlass zum Vergleich mit der Erkenntnis- und Wissenskultur des Westens und seiner Moderne gebe. Die Muslime lebten in einer zeitlosen, einer sakral imprägnierten Zeit, für die jegliche historische Zeitauffassung Anathema sei. Alles sei in Koran und Sunna vorgegeben. Jegliche Veränderung komme einer Häresie gleich. Kompromissen oder Adaptionen anderer Weltanschauungen wurde der Kampf angesagt.“ (97)
Sowohl Nationalismus als auch Imperialismus und Kolonialismus wurden als Feinde des Islam gesehen, die die traditionelle, gottgegebene Lebensweise der Muslime unterminieren. Neben diesen äußeren Feinden des wahren Glaubens gebe es aber noch andere, die häufig als gefährlicher angesehen wurden, weil sie schwerer zu lokalisieren waren: innere Feinde. Qutb verstand darunter Apostaten, Häretiker und alle, die eine Modernisierung und Reformierung des Islam anstrebten.
Als Grund für die missliche Lage der Muslime wurde der Abfall vom wahren Glauben ausgemacht, der rückgängig gemacht werden sollte. Intendiert wurde eine Rückkehr zum Ideal des frühen Islam zur Zeit des Propheten. Die Veränderungen seit 1918, also die Prozesse der Modernisierung, mussten in einer Weise erklärt werden, die ein Festhalten an der Superiorität des Islam weiterhin gestattete. Deshalb „führt Qutb ebenso wie eine im Orient vorherrschende Selbstdeutung die Veränderungen nicht auf profan erklärbare Gründe zurück, sondern überträgt sie in die Sprache von Verschwörung, Kabale und anderen, gegen den Islam gerichteten Machenschaften. Dabei sind auf Komplott und Verschwörung beruhende Erklärungsversuche von komplexen Zusammenhängen Ausdruck jener fundamentalen Täuschung, die mit dem traumatischen Zusammenstoß vormoderner Kulturen mit den Zivilisationsphänomenen der Moderne einhergehen. Die Vorstellung von Verschwörung beruht auf einer Bebilderung der unverstanden gebliebenen gesellschaftlichen Abstraktion mit aus den eigenen lebensweltlichen Zusammenhängen entliehenen Erfahrungen.“ (103)
Ein Verständnis dieser Phänomene erheischt, noch weiter in der Zeit zurück zu gehen und ein Verhältnis zu untersuchen, das bis heute oft unterschätzte Implikationen hat: das Verhältnis von Sprache und Schrift im Islam. Es gibt zwei Varianten der arabischen Sprache, eine vernakulare, die im Alltag als Umgangssprache Verwendung findet und eine religiöse Hochsprache sakralen Charakters. Diner konstatiert demgemäß eine „sakrale Versiegelung der arabischen Sprache“ (108), die als Barriere gegenüber modernisierenden Tendenzen wirke. Verdeutlicht wird dies am Beispiel der Erfindung des Buchdrucks, der in der Mitte des 15. Jahrhunderts in Europa zu massiven Umbrüchen beigetragen hat. In dieser Zeit „griffen Buchdruck, Renaissance und Reformation ineinander. Die davon ausgelöste zivilisatorische Beschleunigung ist ohne Beispiel.“ (111) Das Wissen hörte auf, Privatbesitz privilegierter, klerikaler Kreise zu sein und wurde sukzessive zu einem öffentlichen Gut. Die primäre Form der Wissensvermittlung war nicht mehr das kollektive Hören, sondern das individuelle Lesen.
Anders verlief die Entwicklung im islamischen Kulturraum, wo sich der Buchdruck erst dreihundert Jahre später etablieren konnte. Das autoritative Druckverbot aus dem Jahre 1485, das der damalige osmanische Sultan erließ, reicht als Erklärung jedoch keineswegs aus. Die Gründe reichen tiefer. Die arabische Hochsprache als Sprache des Koran wird verstanden als ein in Schrift umgewandeltes gesprochenes Wort. Der Koran gilt als das verschriftlichte Wort Gottes und neben ihm wird kein anderes Buch geduldet. Daraus ergibt sich eine Aversion gegen Schriftkultur und ein Primat der mündlichen Tradierung, das bis heute fortwirkt. Die schriftliche Vervielfältigung des Koran war Kaligraphen vorbehalten und der Druck mittels Maschinen verpönt. „Denn die Aura des Sakralen geht verloren, wenn Texte durch den Druck mechanisch reproduziert und für jeden in seiner Vereinzelung als Lesender zugänglich werden. Der ursprüngliche, durch rezitierendes Vorlesen sakral imprägnierte Text verliert durch die Schriftlichkeit seine unverfälschte Religiosität.“ (122/123)
Der Buchdruck ist somit ein Angriff auf die Grundfesten des Glaubens, weil das Verhältnis zu Gott individualisiert und damit die Religion in toto konfessionalisiert und teil säkularisiert wird. Dies steht im Islam noch aus und es eine fundamentale Reform der arabischen Sprache wäre hierzu erforderlich.
Zwar ist, so Diner, auch das Hebräische eine im Kern sakrale Sprache, jedoch lief die Entwicklung bei den Juden als diasporische Minderheit anders ab. Die Juden bewegten sich in zwei Welten, waren gezwungen sich an die Mehrheitsgesellschaft anzupassen und deren Sprache zu übernehmen. „Diese hybride Diglossie [..] erlaubte den Juden, die unterschiedlichen Lebensbereiche im Spannungsverhältnis von Sakral und Profan sprachlich zu diversifzieren.“ (140) So bildeten sich verschiedene sprachliche Mischformen heraus, wie das Jiddische oder das Ladino, die im Alltag Anwendung fanden, während das Hebräische für den religiösen Bereich vorbehalten blieb.
In Westeuropa vollzogen sich parallel zur Erfindung des Buchdrucks weitere Entwicklungen, die zu einer Revolution des alten Weltbildes und einer ungekannten Beschleunigung führten. Die Entdeckung Amerikas, der Neuen Welt, brachte den Zwang mit sich, die Welt neu zu interpretieren. Im ausgehenden 15. Jahrhundert befand sich der Islam in einer Position der Überlegenheit gegenüber dem christlichen Europa. Kaufleute aus dem osmanischen Reicht hatten das Monopol auf den Transithandel zwischen Orient und Okzident. Der Versuch christlicher Seefahrer, einen Seeweg nach Indien zu finden und somit das muslimische Monopol zu schwächen, fand demnach aus einer Position der Schwäche heraus statt. Auch wenn die Entdeckung Amerikas im Osmanischen Reich kaum zur Kenntnis genommen wurde, sollte sie doch weitreichende Konsequenzen haben, die die osmanische Vorherrschaft unterminierten. Der massive Import von Edelmetallen leitete in Europa die Herausbildung des merkantilen Wirtschaftssystems ein. Daraus resultierte eine Sozialdisziplinierung der Bevölkerung, was eine enorme Produktivitätssteigerung mit sich brachte. Mit der Veränderung der ökonomischen Bedingungen wandelte sich ebenfalls die politische Form der Herrschaft. Die beiden Sphären, Politik und Ökonomie, traten auseinander und es entstand eine Gesellschaft im modernen Sinn.
Die durch den Buchdruck beschleunigte Säkularisierung und die Genese des Merkantilismus beeinflussten und verstärkten sich gegenseitig. Im Gegensatz hierzu „blieb im Osmanischen Reich die für vormoderne soziale Zusammenhänge charakteristische ganzheitliche lebensweltliche Verschränkung von Herrschaft und Nutzen notorisch.“ (149) In wirtschaftlicher Hinsicht führte der Import von Edelmetallen zu einer Inflation, die die zentralstaatlich organisierten bürokratischen Institutionen des Osmanischen Reiches massiv schädigten. Die Entwicklung des Orients und des Okzidents traten auseinander und die Diskrepanz ist bis heute nicht überwunden.
Die für das Osmanische Reich spezifische Form der politischen Herrschaft wie der ökonomischen Struktur hat nach Diner ihre Gründe ebenfalls in den klimatischen und geographischen Gegebenheiten. „Ohne zentrale Reichgewalt wäre vor allem in den Steppenregionen Innerasiens und den Trockenzonen des Vorderen Orients ein gesicherter Transport über weite Strecken kaum vorstellbar gewesen. [...] So lag es nahe, dass Herrschaftsgewalt und Kaufmannschaft eine Symbiose eingingen.“ (192)
Eine weitere entscheidende Differenz ist die zwischen der europäischen und der orientalischen Zeitauffassung. Im Zuge der Umgestaltung des Arbeitsprozesses durch die Entstehung des Merkantilismus in Europa kommt es zu einer Veränderung der Zeit, die rationalisiert und abstrakt wird. Der Form nach gibt es demzufolge einen engen Konnex von Arbeit und Zeit. Erster Ausdruck hierfür sind die mechanischen Uhren, die bereits seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert an Kirchtürmen angebracht wurden. „Diese waren technischer Ausdruck abstrakter Zeit. Ihre Ursprünge gehen zurück auf eine Konversion von sakraler, von liturgischer Zeit in die Abläufe der Mechanik.“ (216) Die Zeitauffassung ist gekoppelt mit dem Verständnis von Geschichte. Die heutige Auffassung von Geschichte ist ein Produkt der Aufklärung. Geschichte wird als von Menschen gemachte begriffen und nicht mehr einer höheren Vorsehung zugeschrieben. Diesem Geschichtsverständnis ist das Moment der Entwicklung inhärent. Es ist in die Zukunft gerichtet und gewinnt „Richtung und Ziel.“ (231) Diner konzediert, dass im Westen eine eurozentristische Sicht auf die Geschichte vorherrscht, weil die Orientierung gebenden Periodisierungen (Antike, Mittelalter, Neuzeit) vom westlichen Standpunkt aus deduziert werden. „Dies ist der epistemische Standort, von dem aus der Orient immer wieder zu den Gründen befragt wird, weshalb er den westlichen Erwartungen von Entwicklung nicht nachkomme. Dies ist problematisch. Aber gibt es überhaupt eine andere Frage?“ (233)
Von der westlichen Geschichtsvorstellung differiert die muslimische fundamental. Es existiert keine lineare Auffassung, sondern angenommen wird die Wiederkehr des Immergleichen, eine Kreisbewegung des Aufstiegs und des Verfalls von Herrschaft im Orient. Jedes aktuelle Ereignis wird auf die sakrale Urgeschichte zurückgeführt. Geschichte ist Heilsgeschichte; sie basiert auf Offenbarung. Darum liegt das anzustrebende Ideal nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit, die wieder auferstehen soll. „Der Weg zur Errichtung des idealen Gemeinwesens der Muslime erfüllt sich in der Nachahmung des Gewesenen. Das Mittel der Nachahmung ist die strikte Erfüllung des sakralen Gesetzes. Es ist die aus den Maßgaben des Korans und der außerkoranischen Lehre des Propheten, der Sunna, schöpfende Scharia, die den Weg weist. Nicht Geschichte als eine Bewegung in Raum und Zeit, deren Verlauf zu interpretieren ist, sondern das das Verhalten der Muslime regelnde Gesetz steht im Zentrum allen Trachten und Handelns. Diese Art von Geschichte realisiert sich in der peinlichen Einhaltung des Gesetzes. Und die Einhaltung des Gesetzes hält Zeit auf – sie entschleunigt Bewegung.“ (241) Die Religion durchdringt somit alle Lebensbereiche vom Alltag über die Ökonomie bis zur Politik.
Zum Schluss kontrastiert Diner den Islam mit dem Judentum, die als Gesetzesreligionen affin sind. Die Entwicklung verlief aber völlig unterschiedlich. Zwar hat im Judentum das sakrale Gesetz eine vergleichbare Stellung wie im Islam, aber es wurde nie völlig implementiert. Die Juden hatten keinen eigenen Staat, sondern mussten sich in der Diaspora ihrer Umwelt anpassen und deren Anforderungen adaptieren. Sie konnten sich dem entstehenden Geschichtsdenken, das eine genetische Betrachtung der eigenen Geschichte impliziert, nicht entziehen. „Dem Judentum standen zwei Wege offen: sich den sie umgebenden profanen Lebenswelten anzuverwandeln und Religion in bloßen Glauben zu konvertieren, sprich: sie nach Innen zu verlegen, also zu ‚privatisieren’, oder eine klare Trennung zwischen den Anforderungen des Gesetzes und den Erwartungen der profanen Welt zu ziehen.“ (246)
Die Lektüre des Buches ist unbedingt zu empfehlen. Die Beschäftigung mit den im Buch behandelten Fragen ist kein voluntaristischer Akt, sondern wird dem Kritiker durch die Entwicklung der letzten Jahre aufgezwungen. Diner gelingt es einen historischen Bogen von der Gegenwart bis zur Entstehung des Islam zu spannen, ohne dass das Buch in einer reinen Abfolge historischer Ereignisse besteht. Er kommt immer wieder auf die Grundfrage, das Verhältnis von Sakralität und Profanität zurück und fragt nach den Gründen für den spezifischen Konnex zwischen beiden im Islam. Im Buch wird eine materialistische Analyse, die auf die ökonomischen Bedingungen reflektiert, mit kulturgeschichtlichen Ansätzen verbunden. Dadurch wird eine ökonomistische Reduktion umgangen. Zugleich steht das Buch quer zum postmodernen Diskurs, der im akademischen Raum hegemonial ist. Vielmehr versteht Diner sein Buch gerade als Versuch, einige der Schäden der Postmoderne zu beseitigen. Ohne Zweifel ist dies geboten.
Die Frage, ob die materiellen Bedingungen, die spezifische Ausformung des Sakralen determinieren oder ob umgekehrt die Omnipräsenz des Sakralen die materiellen Verhältnisse formt, wird nicht einseitig aufgelöst. Angenommen wird eine „Affinität zwischen materiellen Verhältnissen und den ihnen zu entsprechen suchenden sakralen Verdichtungen. Also nicht, dass das eine das andere aus sich hervorbringe, sondern dass beide ihrer Form nach affin sind, dass sie miteinander konvergieren. Diese Affinität oder Konvergenz führt in der lebensweltlichen Realität dazu, dass sie sich in ihrer Wirkung gegenseitig verstärken.“
Man könnte das auch Dialektik nennen.

Sebastian Steim

Fußnoten

(1) Alle Seitenangaben beziehen sich auf : Diner, Dan: Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt, Berlin 2005.

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last modified: 28.3.2007