home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt
[126][<<][>>]

review corner Buch, 1.8k

Narzißtische Regression

Buchcover, 21.8k

Margarete und Alexander Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern

Eine Diagnose der deutschen Volksgemeinschaft

Die Psychoanalytiker Margarete und Alexander Mitscherlich verfassten 1967 den Band „Die Unfähigkeit zu trauern“, eine sozialpsychologische Untersuchung der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Ausgehend von ihrer Feststellung eines allgemeinen Desinteresses an der Neuordnung der Gesellschaft im Politischen und Sozialen, dem aber gleichzeitig ein reger Eifer im Wiederaufbau und dem Ausbau des industriellen Potentials Deutschlands gegenüber steht, stellt sich ihnen die Frage, inwieweit eine Demokratisierung als „lebendiges Empfinden von Freiheit“ wirksam geworden ist, oder ob nicht vordemokratische Anschauungen und Tendenzen weiter bestehen. Es hätte zwar eine Identifikation mit dem neuen Wirtschaftssystem stattgefunden, aber die politische Apathie der Massen könne auf ein verdrängtes Festhalten an alten Werten und Vorstellungen hindeuten. Die Suche führt die Autoren zu der Hypothese, dass ein determinierender Zusammenhang zwischen dem vorherrschenden „sozialen Immobilismus“ und der Abwehr der Vergangenheit besteht. Den Schlüssel zum Verständnis bietet die Psychoanalyse.
Die kollektiv zu verantwortende Schuld, so die Autoren, sei es die Schuld der Handlung oder die Schuld der Duldung, wurde instinktiv und unbewusst abgewehrt, um der Konfrontation mit den eigenen Verbrechen zu entgehen. Damit aber geht eine eingeschränkte Realitätswahrnehmung und die Verbreitung stereotyper Vorurteile einher. Das bedeutet, dass eine Bewusstseinsspaltung den Weg an einer totalen Selbstentwertung vorbei wies, wobei das „Wirtschaftswunder“ seinen Teil zur Kompensation beitrug. Die psychischen Energien konnten ungehindert auf die rasante Entwicklung der deutschen Industrie orientiert werden und ersparten eine Aufarbeitung bzw., um im psychoanalytischen Jargon zu bleiben, die Durcharbeitung der eigenen Vergangenheit. Damit konnte der „Sprung vom Gestern ins Heute“ von den Deutschen so leicht vollzogen werden. Im Unbewussten jedoch verlaufen aufwendige Abwehrprozesse der Verleugnung ungenehmer und dem Filtern genehmer Erinnerungen. Die lustvolle Teilhabe an der Volksgemeinschaft wurde verdrängt und das Selbst entfloh schwersten Gewissensanklagen und Zweifeln. Der Selbstwert konnte auf diese Weise aufrecht erhalten bleiben. Da die Spaltung in genehme und nicht genehme Erinnerungen so aufwendig ist, blieb nur wenig Energie zur Bewältigung gegenwärtiger Probleme. Damit sind auch die affektgeladenen Reaktionen zu erklären, wenn von sog. „Sühnedeutschen“ der Finger immer wieder in die Wunde gelegt wird und sie nicht endlich vergessen. Dass dies keineswegs nur ein Phänomen der ersten Jahre nach dem Nationalsozialismus blieb, zeigt die Debatte um die Wehrmachtsausstellung 1997. Die Ressentiments wurden unverblümt ausgesprochen: von einem „moralischen Vernichtungsfeldzug gegen das deutsche Volk“ sprach damals der „Bayernkurier“ und der CDU-Abgeordnete Alfred Dregger erklärte im Bundestag: „Die Ausstellung versöhnt nicht, sie spaltet. Sie empört durch die Art ihrer Darstellung die Generation der Großväter und Väter und verwirrt die Generation der Söhne und Enkel. [...] Aus solchem Selbsthass kann nichts Gutes entstehen: kein rationales berechenbares Verhalten in der Politik und keine wirkliche Versöhnung.“ (zitiert nach Dubiel S.26) Im Text bringen Alexander und Margarete Mitscherlich zahlreiche Beispiele dieser Art.

Sehr ausführlich und in mehreren Wiederholungen stellen die Autoren die Abwehrmechanismen Verleugnung, Verdrängung und Projektion dar, in deren Zusammenhang näher auf das psychische Geschehen während des Nationalsozialismus eingegangen wird. Und hier beginnt der eigentlich spannende Abschnitt in ihrer Studie. Zentral in ihrer Analyse ist die Führer-Figur Adolf Hitler. Er verkörperte für die Massen ein neues Ich-Ideal, das typisch deutsche Werte wie Gehorsam mit einer Aufwertung des Selbstgefühls zu verbinden schaffte. Dies sei in Zeiten wirtschaftlicher Instabilität besonders verführerisch gewesen, zumal das deutsche Selbstbewusstsein nach dem ersten Weltkrieg geschwächt wurde. Adolf Hitler hatte die Rolle einer neuen autoritären Vater-Figur übernommen: „Er war ein Objekt, an das man sich anlehnte, dem man die Verantwortung übertrug, und ein inneres Objekt.“ (Mitscherlich, Mitscherlich S.38)
Zwei Aspekte machen dieses Objekt reizvoll. Zum einen erlaubte es den infantilen Durchbruch aggressiver Triebe gegen freigegebene Objekte. Dies geschah laut den Autoren mittels einer „Umdrehung des Gewissens“. Raub, Gewalt und Mord wurden zu heroischen Taten erklärt, denn sie standen im Dienste eines gesunden Volkskörpers. Juden wurden zu Parasiten erklärt und dadurch ihre Vernichtung legitimiert, ja geboten. Aggressionsabfuhr gegen Minderheiten und Schwächere befriedigte also die sadistischen Bedürfnisse. In diesem Zusammenhang offenbart sich das problematische Verständnis vom Antisemitismus, den das Autorenpaar hat. Sofern sie überhaupt auf das Thema kommen, dient es nur der Illustration. Es erscheint symptomatisch, dass der Begriff Antisemitismus in den rund 400 Seiten, welche der gesamte Band umfasst, nur einmal auftaucht, und auch nicht im Rahmen des hier besprochenen Textes. In Anlehnung an die klassische Theorie vom „Autoritären Charakter“ enthüllen die Autoren die Aggressionen als ursprünglich der eigentlichen Vater-Autorität geltenden Hass. Es seien Rivalitätsaggressionen, die vom Vater-Objekt auf die Juden gelenkt werden. Da der Vater nicht nur gehasst, sondern auch geliebt wird, besteht eine Abhängigkeit zu ihm. Die Juden aber als Minorität, die fremde religiöse Werte vertritt, böten sich als perfektes Objekt der Triebabfuhr. Mit diesem Argument verfehlen die Autoren aber den Kern des modernen Antisemitismus. Zum einen spielen hier religiöse Aspekte, wenn überhaupt, nur eine marginale Rolle. Eine nicht geringe Zahl der in Deutschland lebenden Juden war kulturell weitestgehend assimiliert und hätte sich die Anerkennung als, in erster Linie, deutsche Staatsbürger gewünscht. Konfession galt ihnen nach der Haskalah (wie die jüdische Aufklärung genannt wird) längst nicht mehr als Identität stiftendes Band und eher vertraten sie bildungsbürgerliche Werte. Vielmehr dienten die Juden den breiten Massen als Projektionsfläche diffuser Ängste vor nicht genau zu lokalisierender Gefahr. An die Stelle von unmittelbarer Herrschaft ist mit der kapitalistischen Produktionsweise eine über den Wert und Geld vermittelte getreten. Da Juden im Laufe der Geschichte in Kaufmannsberufe, Geldverleih und Handel gezwungen waren, wurden sie auch später mit der Zirkulationssphäre identifiziert, die vermeintlich Schuld am persönlichen Unglück der Menschen sei. Das antisemitische Stereotyp des Wucherjuden, des jüdischen Schachers stehen dafür. Soviel soll zur Ausführung genügen. Leider verfolgen die Mitscherlichs diese Abgründe antisemitischer Projektion nicht und gelangen so nicht zu einer tiefer gehenden Analyse, welche auf den Zusammenhang zwischen autoritärer Persönlichkeit und kapitalistischer Produktionsweise zu sprechen käme.
Der zweite Aspekt, der mit dem Sadismus einhergeht, ist das Streben nach masochistischer Befriedigung. Das schwache Ich kann die Unterwerfung unter das überhöhte Ideal des Führers lustvoll erleben. „Identifiziere ich mich mit ihm und erhöhe es nach Kräften, so spüre ich die von ihm ausgehende Unterdrückung nicht mehr als Last, sondern als Lust. .... Ihm zu gehorchen wird ein Vergnügen, eine in die Geschichte eingehende Auszeichnung.“ (Mitscherlich, Mitscherlich S.37) Infantile Omnipotenzphantasien konnten auf diese Weise erfüllt werden. Die Identifikation mit der allmächtigen Autorität, die Ideologie eines Herrenvolkes, verspricht Teilhabe an seiner Macht.

Psychologisch betrachtet ist es also diese ganz besondere Vereinbarkeit von Realität und regressiven Triebansprüchen, welche durch alle Schichten der deutschen Gesellschaft hindurch bereitwillig angenommen wurde. Nach der Niederlage wurde das gemeinsam geteilte Ich-Ideal, im Führer verkörpert, traumatisch entwertet. Was kurz zuvor als Heldentat galt, wurde zu dem, was es vor dem Nationalsozialismus war. Es waren Verbrechen. Es hätte, so die Mitscherlichs, zu einer Melancholie der Massen kommen müssen. Damit beziehen sie sich auf die Freudsche Theorie über Trauer und Melancholie und wenden sie auf die deutsche Bevölkerung an. Freilich weisen sie schon im Vorwort darauf hin, dass die Übertragung von individuellen Prozessen auf Kollektive nicht unproblematisch ist. Sie wollen daher ihre Studie zunächst hypothetisch verstanden wissen. Es sei in aller Kürze die Bedeutung von Trauer und ihrer pathologischen Form, der Melancholie, ausgeführt: Der Schmerz bei Verlust eines „Wesens, mit dem der Trauernde in einer tiefer gehenden mitmenschlichen Gefühlsbeziehung verbunden war“ (Mitscherlich, Mitscherlich S.41) löst Trauer aus. An die Stelle einer geliebten Person kann auch eine „Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.“ (Freud S.429) treten. Muss das geliebte Objekt aufgegeben werden, vollzieht sich eine schrittweise Lösung der libidinösen Energie von den Objektbindungen. Während dieser Zeit ist der Trauernde geschwächt in seiner Leistung, das Interesse für die Außenwelt ist aufgehoben. Am Ende des langwierigen Prozesses der Trauerarbeit aber ist das Ich wieder frei und ungehemmt. Die krankhafte Steigerung der Trauer wird Melancholie genannt. Sie kann ausgelöst werden durch den realen Verlust eines geliebten Objekts, aber auch durch den Verlust eines ideellen Liebesobjektes. Im Unterschied zum Trauernden weiß der Melancholiker nicht, was ihm genau verloren gegangen ist, der wahre Grund bleibt unbewusst. Wie die Verarbeitung des Verlusts geschieht, ob Trauer oder Melancholie, hängt von der Art der Liebe zum Objekt ab. „Trauer entsteht dort, wo das verlorene Objekt um seiner selbst willen geliebt wurde, oder anders ausgedrückt, Trauer kann nur dort entstehen, wo das Individuum der Einfühlung in ein anderes Individuum fähig gewesen ist.“ (Mitscherlich, Mitscherlich S.43) Im Gegensatz dazu steht die narzißtische Liebe zum Objekt, welches nach dem eigenen Ebenbild gewählt wird und das leicht in die eigene Phantasie eingefügt werden kann. Um diese Art der Liebe handelte es sich bei der deutschen Volksgemeinschaft zu ihrem Führer. Daher der volle Titel des Aufsatzes: „Die Unfähigkeit zu trauern – womit zusammenhängt: eine deutsche Art zu lieben.“ Muss das narzißtisch geliebte Objekt aufgegeben werden, folgt eine Herabsetzung des Ichgefühls, „eine großartige Ichverarmung“ (Freud S.431). Nur der Melancholiker erlebt eine derartige Ich-Entleerung.
Genau dies hätte mit dem Ende des Nationalsozialismus und dem Verlust des Führers in der deutschen Bevölkerung eintreten müssen. Statt dessen erfolgte die Abwehr von Schuld und Scham in derselben Art wie das kleine Kind seine Schuldgefühle den Eltern gegenüber abwehrt. Dass auf reale Schuld größten Ausmaßes mit kindlichen Entlastungstechniken reagiert wird, finden die Autoren erschreckend. An anderer Stelle wiederum heißt es: „Die Mechanismen, um die es hier geht, sind Notfallreaktionen, Vorgänge, die dem biologischen Schutz des Überlebens sehr nahe, wenn nicht dessen psychische Korrelate sind.“ (Mitscherlich, Mitscherlich S.39) Die Folgerung ist dementsprechend: „Es ist also sinnlos, aus diesen Reaktionen sofort nach dem Zusammenbruch einen Vorwurf zu konstruieren. Problematisch ist erst die Tatsache, dass – infolge der Derealisation der Naziperiode – auch später keine adäquate Trauerarbeit um die Mitmenschen erfolgte, die durch unsere Taten in Massen getötet wurden.“ (ebd.)

Was die Autoren fordern, nämlich Trauerarbeit, wird von ihnen selbst in der Analyse als schwer möglich dargestellt. Einsicht in die eigene Schuld kann, aus therapeutischer Sicht, nicht erfolgen, ohne völlige Selbstentwertung. Es bleibt im Text eine Leerstelle zwischen Diagnose und Forderung, denn die Autoren können keinen Anlass oder Zeitpunkt benennen, an dem eine solche Reflexion auf die eigenen irrationalen Motive einsetzen sollte oder könnte, ohne dass die benannten Folgen eintreten.
Ebenso irritierend ist die Haltung der Verfasser: Als Therapeuten betrachten sie das deutsche Kollektiv als Patient und erhoffen sich, durch die Lektüre Anstoß zur Einsicht und Läuterung zu geben. Diese Hoffnung wurde nicht erfüllt. Alexander Mitscherlich selbst zieht in seiner Autobiographie die Bilanz: „Dieses Buch („Die Unfähigkeit zu trauern“, L.) entstand in den 60er Jahren und erschien 1967. Die große Resonanz, die es zu haben schien, führte allerdings kaum zu einer sichtbaren Veränderung im politischen Verhalten. Die Verdrängung der Vergangenheit wurde weitgehend aufrechterhalten.“ (Alexander Mitscherlich S.239) Als Kritiker der deutschen Nachkriegsgesellschaft äußert sich bei den Autoren aber auch ihre Wut und Verzweiflung, was die Aporie der psychoanalytischen Herangehensweise deutlich macht. In der Tat gratwandert der Psychoanalytiker bei diesem Thema. Zeichnet er unbewusst ablaufende Abwehrmechanismen nach, ist damit der Patient noch als voll schuldfähig anzusehen? Ist nicht „die Gesellschaft“ schuld, die den autoritären Charakter und damit ein schwaches Ich, das nicht widerstandsfähig ist, hervorbringt? Ein Schüler der Mitscherlichs und selbst Psychoanalytiker in Freiburg, Tilman Moser, benennt in seinem Text „Die Unfähigkeit zu trauern – Hält die Diagnose einer Überprüfung stand?“ von 1992 dieses Problem: „Ich schließe mit dem tragischen Paradox, vor dem auch ich selbst hadernd und ohnmächtig stehe: Auch der ins Verbrechen Verstrickte braucht Einfühlung, wenn er den Weg zur Umkehr finden soll.“ (Moser, S.389) Die Frage, wie mit der Schuld umzugehen ist, wird dem Therapeuten dann zum Verhängnis, wenn er in Konsequenz Einfühlung mit den Tätern suchen muss.
Diesen Schritt gehen die Mitscherlichs nicht, was nicht zuletzt dem damaligen Stand der psychoanalytischen Theorie zu verschulden oder auch zu verdanken ist.
Von diesen Schwierigkeiten, vor welche sich der Leser gestellt sieht, abgesehen, beleuchtet „Die Unfähigkeit zu trauern“ einen wesentlichen Aspekt des Nationalsozialismus und liefert eine klare Kritik am deutschen Geschichtsverständnis. Dies ist umso bemerkenswerter, als dass es das Autorenpaar trotzdem schafft, auf eine wirklich demokratische deutsche Gesellschaft zu hoffen.

Erinnert man sich an die Berichterstattung und die Gedenkveranstaltungen zum 13. Februar in Dresden wird klar, dass sich qualitativ auch seit Verfassen der „Unfähigkeit zu trauern“ bei der breiten Öffentlichkeit nicht viel geändert hat im Umgang mit dem Nationalsozialismus, auch wenn die Analyse auf die heutige Generation natürlich nicht eins zu eins übertragbar ist. Die Opferrolle, die dieses Jahr von vielen ungehemmt für die deutsche Bevölkerung reklamiert wurde, bietet allerdings den Anlass, das Buch noch einmal zur Hand zu nehmen.

Leila

Literatur:
  • Alfred Dregger in der Bundestagsdebatte vom 13. März 1997, Zitiert nach: Helmut Dubiel: Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des deutschen Bundestages, München/Wien 1999
  • Sigmund Freud, Trauer und Melancholie, Gesammelte Werke Band X, Frankfurt am Main 1999
  • Alexander Mitscherlich, Ein Leben für die Psychoanalyse: Anmerkungen zu meiner Zeit, Frankfurt am Main 1980
  • Margarete und Alexander Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern – Grundlagen kollektiven Verhaltens, Leipzig 1990
  • Tilmann Moser, Die Unfähigkeit zu trauern: Hält die Diagnose einer Überprüfung stand? Zur psychischen Verarbeitung des Holocaust in der Bundesrepublik, in: Psyche, XLVI.Jahrgang, Heft 5, Frankfurt am Main 1992

home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt |
[126][<<][>>][top]

last modified: 28.3.2007