...und Bewegungsbeschimpfung anti-emanzipatorisch ist.
Ein Vortrag im Rahmen des tomorrow-Theoriecafés. Vom Mausebär
Es geht um die Brötchen
Im grabesstillen Leipziger Demonstrationszug gegen Hartz IV erhebt sich
plötzlich Schreien: Über zehn Jahre hab ich auf so
nem Ding gearbeitet [der Schreiende zeigt auf einen Kran] und jetzt
alles futsch, arbeitslos, ich weiß nicht mal, ob ich in meiner
Wohnung bleiben kann. Der Mann mit Schiebermütze und Stoffbeutel
hyperventiliert, läuft knallrot an und schreit dann wirklich nur noch
unartikuliertes Zeug. Ein paar Leute gehen auf ihn zu und bemühen sich
darum, dass er wenigstens wieder normal atmet und weitergehen kann. Das klappt
auch und nach einem letzten Stoßseufzer Scheiße ist
das! herrscht wieder Ruhe, nur die Nazihippies von BüSo singen von
Ferne ihr Freude schöner Götterfunken. Vielleicht
überlegt sich unser Mann seine Handlungsoptionen, die ihm ab Januar 2005
bleiben: 331 plus Wohngeld samt Verfolgungsbetreuung durch den
Fallmanager und permanente Weiterbildungsschikane oder er findet vielleicht
doch einen lumpigen Elendsjob im Süden des Landes, für den er dann
selbstverständlich umziehen müsste. Der monotone Fabrikalltag bzw.
das Schuften auf dem Bau wird durch Dienstleistungsprekarisierung bzw. den
Zwang zu immerwährender Simulation von Bewerbungsanstrengungen
abgelöst.
Reflektierte jüngere Gesellschaftskritiker mögen sie nun zu
tomorrow gehören oder nicht finanzieren ihre
Reproduktion vermutlich über die Eltern, Kindergeld, Bafög,
Gelegenheitsjobs, Sozi oder eine Mischung davon. Ihr Leben wird ab 2005 nicht
weniger prekär als das unseres Kranfahrers. Und die Zukunft hält
nichts Gutes bereit: Unter Umständen peilt man eine Unikarriere an, bei
der die frühe Beschäftigung mit Theorie sich durchaus als
nützlich erweisen mag. (Das ist nicht denunziatorisch gemeint.) Diese
Karriere wird aber immer problematischer. Ein kurzer Bericht aus
Österreich, von einem der es wissen muss, vom Biologen und
Vegetationsökologen Andreas Exner (vgl. Streifzüge, 30/04), der dort
an der Uni in wechselnden Forschungsprojekten beschäftigt ist:
Das magere Gehalt des Fonds, aus dem wir bezahlt wurden, glich seit
vielen Jahren nicht mehr die Inflation aus. Durch einen Zeitungsbericht erfuhr
ich von einer Interessensgemeinschaft der prekär Beschäftigten im
akademischen Bereich. Schätzungsweise 60 Prozent von Lehre und Forschung
werden von Menschen mit befristeter Anstellung, niedrigem Gehalt, ohne
Karrierechancen und Prestige geleistet, stand da zu lesen. Auch bei uns bestand
die Belegschaft aus einem kleinen Kern von Professoren, Assistenten und
Dozenten und einem breiten Rand von Drittmittelangestellten und
Gelegenheitsforscherinnen. Doch jeder Schritt in Richtung einer Organisierung
mit anderen aus der universitären Peripherie schien mir sehr weit weg. Die
Möglichkeit einer Einflussnahme war kaum gegeben, der eigene Verbleib im
Uniland doch immer nur eine Frage der Zeit, für den eine solidarische
Anstrengung aufzubringen sich kaum lohnte.
(...)
Danach gab es wieder ein Forschungsprojekt. Die Zeiten wurden schlechter, sie
trieben uns der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in die Arme.
Nur mit Tricks konnte mich mein Mitarbeiter zugleich wissenschaftlicher
Leiter, informeller Projektmanager und Sekretär vor der Schrumpfung
meines früheren, schon eher dürftigen Gehalts retten. Im Verein, wo
ich meinen Zivildienst abgeleistet hatte, machte ich weiter Nachtdienste; bis
zu sechs Mal im Monat.
Die Akademie zahlte ihre Projekte nicht nur schleißig, sie war auch alles
andere als interessiert an ihnen. Insgesamt auf drei Jahre angelegt musste
jedes Projektjahr einzeln bewilligt werden, wohl um den Geldhahn bei Bedarf
rasch zudrehen zu können. Die Projektangestellten erhielten nach jeder
Vertragsverlängerung monatelang kein Gehalt, es musste durch
Vorschüsse von anderen Projekten der Abteilung gedeckt werden. Zur
Weihnachtszeit gab es kein Geld mehr für Druckerpatronen und Papier. Ein
Assistent streckte die nötigen Mittel vor. Ich dachte an ukrainische
Universitäten, in denen die wenigen Verbliebenen, entweder verrückt
oder aus begütertem Hause, im Winter froren.
Apropos Ukraine: Vor einigen Jahren hörte man zum ersten Mal von
Bergleuten, die dort monatelang kein Gehalt bekamen. Ein erbitterter Kampf
hatte den Erfolg, dass wenigstens zwei ausstehende Monatslöhne nachgezahlt
wurden. Die Empörung auch in Deutschland war groß und
die Sympathie für die streikenden Bergleute einhellig: Sie müssen
doch essen, sich kleiden und wohnen können, wenn sie arbeiten! Nach nur
wenigen Jahren des forcierten Neoliberalismus ist die Verletzung dieser
kapitalistischen Banalität schlicht und einfach keine Meldung mehr wert,
es interessiert niemanden mehr, wenn im Wissenschaftssystem eines
hochentwickelten Landes der ersten Welt zwar Arbeitskraft verausgabt wird,
diese sich aber über Monate hinweg nur aus Ersparnissen reproduzieren
kann.
Die Aussichten für unseren Kranfahrer und die für die
Nachwuchsintellektuellen sind dieselben. Es macht schlicht keinen Unterschied
mehr, ob man in sozial nicht abgesicherten 10-Stunden-Jobs vor sich hinstirbt
oder sich dem akademischen Lumpenproletariat, das den eigenen Arbeitsplatz auch
mal selbst bezahlt, zurechnen muss.
Beide erhalten eine neue Reproduktionsuntergrenze: Das Niveau von 331
plus Wohngeld WENN sie sich arbeitswillig zeigen und ihre gesamte
Lebensenergie einer staatlichen Behörde überantworten.
Beide werden einsehen müssen, dass der Slogan Jede Arbeit ist
besser, als keine! vom feuchten Traum hardcoreliberaler Einpeitscher zur
grausigen Realität geworden ist.
Revolutionsromantik oder Bewegungsbashing die falsche Alternative
Oft wurde von den Gegnern der Anti-Hartz-Demonstrationen vorgebracht, die
Demonstranten hätten überhaupt nicht ihre eigenen Interessen, sondern
lediglich den Standort im Blick, würden alles tun, um nur irgendeine
Arbeit zu bekommen.
Ein Einwand, den man ernst nehmen muss auch für uns ist das
Kriterium für wenigstens die Möglichkeit von Gesellschaftskritik,
dass man SELBST ein Unbehagen an den herrschenden Zuständen hat und nicht
permanent Stellvertreterkriege für jemanden führt, der das u.U. gar
nicht will.
Hier müssen wir denn doch mit der Realität kontern: Der Slogan
Niedriglohn und Zwangsarbeit dafür haben wir keine Zeit
wurde am Anfang vom kleinen Grüppchen der Libertären und
Klassenkämpfer gerufen, einige Wochen später war er an der Spitze des
Demozuges zu hören; Gewerkschaftsvertreter forderten die 30-Stunden-Woche
und ein Existenzgeld von 1500 für alle, unabhängig ob
Arbeitswillige oder -unwillige, Deutsche oder Ausländer; es
wurde sich immer und immer wieder gegen die Teilnahme von Nazis an der
Demonstration ausgesprochen (freilich auf eine linksliberale Weise); ein
unüberhörbarer libertärer Block fordert Alles für
Alle und zwar umsonst.
Ja, alles das sind nur Beispiele. Ebensolche Beispiele, wie sie von jenen
vorgebracht werden, die Transparente abschreiben und hinterher im stillen
Kämmerlein nein: nicht Marx lesen, sondern messerscharf
analysieren, dass Schröder in die Produktion nun wirklich
keine emanzipatorische Parole ist und dass verdächtig oft Banken und
Bonzen kritisiert werden.
Es spielt bei der Einschätzung der Demos eben eine große Rolle, WIE
man sich auf eine Bewegung bezieht. Bedingungslos zustimmend, wenn sie die
richtigen Inhalte hat bzw. bedingungslos ablehnend, wenn sich falsches zeigt
ODER aber ganz altmaterialistisch ob man eine Bewegung als
Ausfluss materieller Verhältnisse in der Gesellschaft nimmt, die es zu
analysieren und als Ausgangsbedingung für Kämpfe ernst zu nehmen
gilt. Wir hatten und haben es mit einer Ein-Punkt-Bewegung zu tun, in der
unterschiedlichste Leute eben auch Nazis versuchen, ihr
Süppchen zu kochen. Wenn man natürlich auf absolute Sicherheit
erpicht ist, nie etwas falsch machen will, kann man solche Ein-Punkt-Bewegungen
am Rand liegen lassen, muss sich von Adorno allerdings sagen lassen: Die
Funktion des Begriffs von Sicherheit ... schlug um. Was einmal Dogma und
Bevormundung durch Selbstgewißheit überholen wollte, wurde zur
Sozialversicherung einer Erkenntnis, der nichts soll passieren können. Dem
Einwandfreien passiert tatsächlich nichts. (Negative Dialektik)
Bei der Einschätzung der Montagsdemos durch die bewegungsbeschimpfende
Linke hatte die gute alte Logik wieder mal nix zu lachen. Es wurde
skandalisiert, dass Nazis an den Montagsdemos teilnehmen UND es wurde von den
selben Leuten begründet, warum die Nazis auf dieser Volksgemeinschaftsdemo
gut aufgehoben sind, weil es ja wie ein Referent des Bündnisses
gegen Realität (BgR) verkündete sowieso nur Nazis und
Nazi-Nazis gäbe (Deutsche = Nazis, deutsche Neonazis = Nazi-Nazis). Man
regt sich also auf und man begründet, warum man sich nicht aufregen darf!
Fakt ist, dass es auf den Demos klare Ansagen gegen die Nazis gab. Fakt ist
auch, dass immer wieder welche aufgetaucht sind. Nur und hier sind wir
wieder bei der Frage wie man sich auf eine Bewegung bezieht : Wenn eine
Bewegung in jedem Fall das Richtige macht, braucht man nicht mehr an ihr
teilzunehmen. Natürlich ist das keine emanzipatorische Angelegenheit,
natürlich ist das nicht ...Kommunismus (als) die wirkliche
Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt (Marx/Engels, Deutsche
Ideologie). Aber es geht bei den Anti-Hartz-Aktionen im Gegensatz zu den
Weltordnungskriegen (Robert Kurz) nun wirklich um die Erhaltung der
Bedingung der Möglichkeit des Kommunismus nämlich das
physische Überleben.
Eins haben die Demonstranten auf alle Fälle begriffen, ohne Friedrich
Engels gelesen zu haben: die ... einfache Tatsache, daß die
Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden
müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben
können (Friedrich Engels, Das Begräbnis von Karl Marx, MEW
19).
Nebenbei: Der Einwand, die Leute hätten nicht ihre eigenen Interessen im
Blick, sondern würden sich Gedanken um ungelegte Eier machen, ist
allerdings bei der Beurteilung der realen Friedensbewegung gegen den Irakkrieg
im wesentlichen berechtigt gewesen. (Auch wenn natürlich die
Identifikation einer Anti-Kriegs-Position mit dieser finsteren Friedensbewegung
falsch war und ist.) Die sog. Friedensbewegung war nun wirklich ideologisch
aufgeladen, ihre Repräsentanten haben einen Zusammenhang des Irakkrieges
mit ihrem höchst eigenen Leben in einem westlichen Zentrum weder
herstellen können noch wollen. Jene hat von ein paar ehrlich
betroffenen Pazifisten und wertkritischen Querschlägern abgesehen
den Irakkrieg lediglich als Aufhänger und Vorwand genommen, um ihren
antiamerikanischen Ressentiments freien Lauf zu lassen und gehört
dafür schonungslos kritisiert. Ihre Angehörigen wollten alle
große Weltpolitik machen sie haben Material für jede
Schweinerei der USA gesammelt, das Schicksal der Iraker unter der Diktatur
Saddam Husseins hat sie nicht interessiert. Die Eiseskälte, die sie Israel
entgegengebracht haben, ist allein schon ein ausreichender Grund für
Kritik. Sie sind zusammengekommen, um sich gegenseitig immer wildere
Verschwörungstheorien zu bestätigen es gab keine Diskussionen,
sondern Hetze.
Die Anti-Hartz-IV-Demonstranten treibt schlicht die Verzweiflung, weder
Entlarvungswille, noch Welterklärungsanspruch. Man trifft sich in einem
Ziel und hat sehr unterschiedliche Vorstellungen, wie das erreicht werden soll
es wird erbittert diskutiert, ob die DDR nun Sozialismus war, ob
Lafontaine ein Spinner ist, oder ernst genommen werden muss, ob ein
Existenzgeld die Probleme lösen würde, welche
Arbeitszeitverkürzungen möglich sind. Die Form des Austausches ist
solidarisch und nicht unkritisch, alle sind sich bewusst, dass sie einen
Abwehrkampf führen und nicht Weltpolitik machen.
Massenansatz?
Einen Einwand, den wir, die Wertkritischen Kommunisten, angesichts unserer
Präsenz auf den Montagsdemos oft gehört haben: Der Massenansatz von
Leuten, die auf starke soziale Bewegungen setzen, hat sich blamiert und ist nie
gefeit vor Antisemitismus. Ein starker Einwand, der etwas Richtiges
übertreibt, so dass es komplett falsch wird.
Was mit dem Schlagwort Massenansatz bezeichnet wird, ist in der Tat
eine gefährliche, potenziell antisemitische und übrigens auch
verdammt lächerliche Art, Politik zu machen.
Wir denken an Berufsaktivisten vor Werktoren oder die ewigen Nerds der
Spartakisten auf Versammlungen. Nicht zu vergessen, die fatale kommunistische
Agitation der Arbeiter kurz vor der NS-Zeit, als von der KPD massenhaft Plakate
geklebt wurden, die neben dem Sowjetstern das Hakenkreuz zeigten. Damals wurde
nicht an das berechtigte Bedürfnis, die eigene Reproduktion zu sichern
angeknüpft, sondern man hat die regressiven, antisemitischen
Sehnsüchte des Krisenpöbels bedient.
In jeder Hinsicht typisch für den Massenansatz ist eine im
Vor-Nazi-Deutschland gehaltene Rede der Berliner KPD-Chefin Ruth Fischer vor
faschistischen Studenten. In der ermuntert sie sie zum Klassenkampf: Sie
rufen auf gegen das Judenkapital, meine Herren? Wer gegen das Judenkapital
aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht
weiß. Sie sind gegen das Judenkapital und wollen die Börsenjobber
niederkämpfen. Recht so. Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt
sie an die Laterne, zertrampelt sie. Aber meine Herren, wie stehen sie zu den
Großkapitalisten, den Stinnes, Klöckner...? Und dann kommt sie
darauf, dass man bei den Judenkapitalisten eben nicht stehenbleiben könne.
Massenansatz heißt, dass man jede spontane Äußerung von
Volksmassen als im Kern emanzipatorisch abfeiert und glaubt, diese Massen dann
nur noch über die eigentliche Stoßrichtung oder die
wirklich konsequente Führung des Kampfes belehren zu müssen.
Unmut sei eben grundsätzlich erstmal gut und müsse ausgenutzt werden,
Massen hätten intuitiv schon die richtige Ahnung, es gälte nun, die
Ahnung Wissen werden zu lassen.
Das allerdings hatten wir bei den Montagsdemos weder getan, noch auch nur im
Sinn gehabt. Wer das aber jeder eingreifenden Agitation entgegen der
Faktenlage unterstellt, wie bspw. das BgR-Mitglied Susanne Fischer in
der Jungle World, zeigt, dass er die eigenen Projektionen für die Wahrheit
nimmt.
Unter der Überschrift Keine revolutionären Subjekte in
Sicht schreibt Frau Fischer: Hineinzuwirken gibt es da
nichts. Und schon gar nicht zu radikalisieren, denn radikalisiert will man
diese Menge auf keinen Fall erleben. Die nahe liegenden Fragen lauten vielmehr,
ob die Masse gefährlich wird und man den Botschaften der Demos etwas
entgegensetzen kann.
Aber manche Linke beharren auf einem angeblich emanzipatorischen Potenzial und
gemeinsames Handeln ist für sie eine Option. Dabei müssen sie in
ihrer Argumentation an der Oberfläche bleiben oder pathetisch
werden. (http://www.jungle-world.com/seiten/2004/37/3919.php)
Erneut hilft die Logik weiter: Um so wie die Autorin denken zu können,
muss man annehmen, dass jede Massendemonstration nur dazu veranstaltet werde,
die Emanzipation voranzubringen oder gar das revolutionäre Subjekt zu
sammeln. (Sonst kann man nicht enttäuscht darüber sein, dass es nicht
geschieht. Nur wem das revolutionäre Subjekt als doch irgendwie
erstrebenswert im Kopf herumgeistert, nur der/die kann empört
vorführen, dass es dort, wo andere es angeblich annehmen, gar nicht ist.)
Ein typischer linker Szeneirrtum: Die Aktivistin der radikalen Linken kann sich
nicht vorstellen, dass Demonstrationen mal nicht für den Kommunismus, den
allgemeinen Umsturz, gegen Europa, gegen Deutschland, gegen Kapitalismus usw.
veranstaltet werden sondern schlicht gegen das menschenfeindliche Hartz
IV-Gesetz. Sie interpretiert in das Anliegen der Veranstalter den Willen zur
Emanzipation hinein, den diese nicht haben, und zeigt dann gnadenlos
auf, dass das, was diese tun, gar nicht emanzipatorisch ist. Die linke Szene
zeigt sich hier als Auffangbecken für psychisch gestrandete Leute, die
jeden Kontakt zur Realität verloren haben.
Wir jedenfalls gaben uns keinerlei Illusionen hin: weder denen der
Klassenkämpfer, noch denen, die hier die faschistischen Massen auf der
Straße sahen. Wir wussten von vornherein, dass es nicht angenehm sein
wird, was wir dort zu sehen bekommen werden: Arbeitswahnsinn,
Staatsgläubigkeit, keynesianische Flausen und Sektenagitation. Warum
bitteschön sollte nur weil die Arbeitslosenhilfe auf
Sozialhilfeniveau zusammengestrichen wird sich spontan irgendeine
Arbeitskritik, noch gar eine kommunistische einstellen?
Wir hatten zu den Demonstranten also ein höchst instrumentelles
Verhältnis: Anknüpfen wollten wir an ihrem Unmut über die
dekretier-te Verarmung, wollten erklären, was wir an ihrem Protest falsch
und was wir richtig finden und hatten die kleine Hoffnung, dass die
Demonstrationen dazu führen, dass wenigstens die äußersten
Sauereien wieder zurückgenommen werden. Nach dem Mund geredet haben wir
den Arbeitsbegeisterten zu keiner Zeit. Wer das sagt, lügt.
Weil wir gerade beim Thema Massenansatz sind, möchte ich jetzt den
Spieß umdrehen und begründen, dass Massenansatz-Gelüste ganz
woanders lauern. Zuvor allerdings ein kleiner
Exkurs über den Mob
Als Verb to mob kann man es mit den Worten über jemanden
lärmend herfallen, anpöbeln, angreifen, attackieren, als
Substantiv the mob mit Gesindel, Pöbel(haufen)
umschreiben. Seinen Ursprung hat der Begriff im Lateinischen. Mit mobile
vulgus wird die aufgewiegelte Volksmenge, die wankelmütige Masse
bezeichnet, eine Masse, die auf Grund ihrer puren Quantität keine
Beherrschung kennt. In ihm schwingen auch mit: immer wiederkehrende Schikanen,
Vorgriffe auf den Pogrom; es gibt aber auch Anklänge an organisiertes
Verbrechen wie von Mafia bzw. Camorra bekannt. Hauptbedeutung aber ist: eine
aufgebrachte Volksmenge im Zustand der Entfesselung (Stichwort:
Reflexionsausfall), gemeint sind die Rasenden, diejenigen, die Lynchjustiz
begehen. Das von Hannah Arendt beschriebene Bündnis von Mob und Elite
meint: Einpeitscher und Stichwortgeber brauchen einander. Adorno (The
Psychological Technique of Martin Luther Thomas Radio Addresses) bringt
mob violence in Zusammenhang mit >>spontaneous action
und to act by non-legal means. Ein Beispiel für die Aufhetzung
eines Mobs bildet die Ansage von Joseph Goebbels an die deutschen Volksmassen:
Sollte es gegen die Juden zu spontanen Racheaktionen kommen
(gemeint ist der Terror, der später mit Pogromnacht bezeichnet
wurde), werde die Polizei nicht eingreifen.
Hooliganismus Massenansatz im linken Szene-Sumpf
Als auf der Anti-Europa-Demo des BgR der Mann auf dem Lautsprecherwagen
enthusiastisch verkündete, dass sich diese Demonstration nicht nur gegen
Europa, sondern auch gegen den deutschen Mob richte, fand daran niemand etwas
Bemerkenswertes weder die angereisten Demonstranten, noch der
beobachtende wertkritische Kommunist. Wer wäre nicht gegen den deutschen
Mob, gegen die spontan und begeistert agierenden ostdeutschen Antisemiten und
Rassisten? Als ein paar Minuten später derselbe Mann immer noch unendlich
begeistert ins Mikro brüllt, dass WIR hier schließlich der Mob sind
und gleich die Innenstadt rocken, kratzte sich der wertkritische Kommunist am
Kopf und ließ die Leute mit ihrer Begeisterung und ihrer
gefährlichen Dummheit allein.
Um es ganz klar zu sagen: Der aufkommende Hooliganismus der radikalen Linken im
Verein mit dem inhaltlichen Heruntertransformieren des Antifaschismus auf die
Beschimpfung von Ostdeutschen DAS ist Massenansatz, DAS ist das
allerfinsterste Sich-Gemein-Machen mit der Krisenbarbarei.
Wer Kühe, Schweine, Ostdeutschland ruft, hat schlicht und
einfach kein Recht mehr, über Stoiber, Merkel, Schröder werden
immer blöder zu zetern.
Hier wird nichts anderes getan, als Anschluss gesucht, Anschluss an die Werte
des Neoliberalismus, die man sonst als Linker so schmerzlich missen muss: Cool
sein, modern sein und von schlecht Angezogenen gehasst. Was will man mehr als
Poser?! Jederzeit und das ist ein gewaltiger Unterschied zu den von
Hartz IV geknechteten Langzeitarbeitslosen kann man aussteigen aus
diesem Trip, der ja doch nur noch politparolenhaft verbrämte 3. Halbzeit
ist: Sich ins Bürgerliche zurückziehen, privatisieren, schlicht und
einfach ruhiger werden. Diese Möglichkeit wird nicht dadurch
unwahrscheinlicher, dass man zusammmen mit den Demonstranten mit
einiger Sicherheit prekarisiert zwangsarbeiten wird und auch nicht dadurch,
dass man von größeren Erbschaften oder Lottogewinnen abgesehen
sich bald wird entscheiden müssen, ob man sich Bücher kauft,
um die Kritik voranzubringen, oder sich teurer kleidet und verblödet.
Jede Anti-Hartz-Demo ist emanzipatorischer als diese Action-Linke, die sich
auch in den nächsten Monaten nicht die Frage stellen wird, warum
Naziaufmärsche genauso aussehen, wie Antifa-Demos, ganz genau so, die
immer nur darauf kommen, dass die bösen Nazis unsere Symbolik und
Organisationsformen klauen und nie darüber nachgrübeln, warum genau
die eigene Präsentation für die Übernahme durch Nazis attraktiv
ist. Um Robert Kurz zu zitieren: Die einst bitter feindlichen
Polaritäten fallen im Krisensturz zusammen, und zwar auf allen
Ebenen (Negative Ontologie, Krisis 26). Im Falle der pseudo-radikalen
Systembekämpfer treffen sie sich im Punkt frei flottierender
Hooligan-Gewalt, des umherstreifenden Bandenwesens des Mobs.
Antisemitismus und Personalisierung
Massenansatz ist nie gefeit vor Antisemitismus. Wohl wahr
wer in Krisenzeiten und noch dazu in Deutschland einer wütenden Masse nach
dem Mund redet, kann nichts anderes tun, als antisemitische Stereotype zu
reproduzieren. Dennoch ist eine Warnung angebracht:
Personalisierende Kapitalismuskritik ist nicht gleich Antisemitismus. Beim
Antisemitismus handelt es sich um ein Weltbild, dessen Kern das Phantasma der
jüdischen Weltverschwörung zum Zweck der Erringung der
Weltherrschaft ist. Das gesamte Weltbild zentriert sich auf den
Juden, die Juden stecken hinter allem, hinter Kriegsbefürwortung und
ablehnung, Arbeitszwang und Arbeitslosigkeit, Inflation und Deflation,
Kooperation oder Konkurrenz des Auslandes. Sie gelten als Helfershelfer oder
direkte Repräsentanten von Zersetzern aller natürlichen Ordnungen.
Damit sich das verschwörerische Weltbild halten kann, muss bewusst
jegliche reflektierende Rationalität ausgeschaltet werden. Adolf Hitler
über die Protokolle der Weisen von Zion: Wie sehr das
ganze Dasein dieses Volkes [der Juden] auf einer fortlaufenden Lüge
beruht, wird in unvergleichlicher Art in den von den Juden so unendlich
gehassten Protokollen der Weisen von Zion aufgezeigt. Sie sollen
auf einer Fälschung beruhen, [...] der beste Beweis
dafür, dass sie also echt sind. (zit. bei
www.hagalil.com/antisemitismus/antisemitismus/nationalsozialismus/tex)
Hätten die Juden gesagt, die Protokolle seien echt, hätten sie selbst
ihre Verschwörung zugegeben, sagen sie, sie seien eine Fälschung, ist
das für den Antisemiten ein noch besserer nämlich: der beste
Beweis.
Wer auf korrupten Managern oder geldgierigen Anteilseignern herumhackt, die auf
die Bedürfnisse von Beschäftigten keine Rücksicht nähmen,
nährt zwar die Illusion, Management ließe sich außerhalb von
Korruption bewerkstelligen und der Aktienkauf könne zu etwas anderem
nütze sein, als zur Geldvermehrung, ist aber nicht zwangsläufig
Antisemit, sondern u.U. blöd bürgerlich-demokratischer
Zivilgesellschaftler, der eben die korrupten durch korrekte Manager ersetzt und
die Spekulationsgewinne besteuert sehen will. Beides ist zwar dämlich,
aber nicht antisemitisch. Es ist auch nicht deutsch, denn wer jedem und
sei er noch so illusorischen Vorschlag zur Kapitalismuszähmung aus
welchem Land auch immer das Etikett deutsches, verstaatetes Denken
anhängt, muss sich zwangsläufig auf den entfesselten Markt, das
neoliberale Credo, vergattern lassen.
Personalisierung, das Reduzieren gesellschaftlicher Strukturen auf das bewusste
Wirken von Personen, also die falsche Verortung des Abstrakten (in Personen,
statt in einem subjektlosen Zusammenhang) kann Einfallstor für
Antisemitismus sein, ist aber eben nicht der Antisemitismus selbst.
Die Unterscheidung Personalisierung/Antisemitismus ist also nicht
überflüssig, sondern bezeichnet die Frage ums ganze: Wäre
Personalisierung = Antisemitismus, dann wäre mit denen, die
personalisieren, nicht mehr zu diskutieren, wohingegen ein Einfallstor durchaus
noch im letzten Moment geschlossen werden kann, vorausgesetzt (das lernen wir
von James Bond), dass man weder sich, noch die Sache aufgibt.
Wo ist der Platz des Kritikers?
Wie immer macht es der Kritiker nicht unter einer fast unlösbare(n)
Aufgabe, nämlich der, weder von der Macht der anderen, noch
von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen (Adorno, Minima
Moralia). Heute heißt das: Eine kommunistische Perspektive aufzeigen und
dabei weder in Bewegungspopulismus zu machen, gar das alte Klassenkampfmonster
wieder aus der Rumpelkammer der Geschichte zu holen, noch, sich der neulinken,
modischen Bewegungsbeschimpfung anzuschließen, deren Protagonisten nichts
anderes mehr rufen können als Volksgemeinschaft
bekämpfen!.
Erster Schritt zur Lösung wäre, ein paar UNNÖTIGE
Schwierigkeiten auszuräumen und die Frage zu stellen und zu beantworten:
Was ist der Lackmustest für das Emanzipatorische an einer sozialen
Bewegung? Kritiker von Wert und Abspaltung antworten: die Ablehnung der Arbeit.
Ebenso auf der Hand liegt damit die Einschätzung, dass die
Montagsdemonstranten per se eben keine emanzipatorische soziale Bewegung
verkörpern, weil dort die fundamentale Arbeitskritik eine
Minderheitsposition inne hatte.
Konsequente Arbeitskritik hätte aber anknüpfen können an der
einhelligen Ablehnung (und wer anderes sagt, lügt!) von Zwangsarbeit. Vor
dem Hintergrund der Fundamentalkrise des Kapitals, die alle Demonstrierenden
mindestens durch die permanent steigenden Arbeitslosenzahlen mitbekommen,
hätte eine solche Strategie durchaus Erfolg haben können. Wird diese
Fundamentalkrise nicht ökonomistisch beschrieben oder gar mit irgendeinem
Zusammenbruchsautomatismus in Verbindung gebracht, sondern gekennzeichnet als
permanente Verschlechterung der Lebenssituation aller Gesellschaftsmitglieder
bis hin zu deren physischem Ableben, dann kann daraus durchaus so etwas wie
relevanter Widerstand erwachsen.
Bei wem sonst, wenn nicht bei Demonstranten, die eine menschenwürdige
Wohnung und ein halbwegs erträgliches Auskommen wichtig finden,
könnte man darauf pochen, dass ein System, das einen selbst für
reproduktionsunwürdig erklärt, weg muss?! Wer die Nivellierung auf
Elendsniveau nicht hinnehmen will, erachtet sein eigenes Wohlergehen für
wichtiger, als den Standort der Aufruhr gegen die rot/grüne
Verelendungspolitik wird somit antifaschistische Tat. Bewegungsbashende
Soziallooser allerdings rechnen anders: Hartz IV betrifft mich nicht, meinen
sie und zitieren die finanziellen Verbesserungen für
SozialhilfeempfängerInnen herbei. Das ist schlicht und einfach eine
Mischung aus Blödheit und Ignoranz, die auch in Leipzig die Runde macht.
Es stimmt schon: Wer bisher zu dumm war, beim Sozialamt die meist beachtlichen
Sachleistungen zu beantragen und sich mit Geldleistungen begnügt hat, der
freut sich wie ein Schneekönig über die kleine Erhöhung. Fakt
ist aber auch, dass dieser Zuschuss mit der Streichung all dieser Beihilfen und
der Zutat schikanöser Rundumbetreuung erkauft wird. Man muss
schon in einem Paralleluniversum leben, um anzunehmen, dass eine
rot/grüne-Reform für die von der Wertgesellschaft Ausgespuckten
tatsächlich eine materielle Verbesserung unterm Strich bringen
könnte. Wieder einmal löst einfache Logik die Probleme: Wenn ich
bisher monatlich von mir zustehenden Leistungen ein Zehntel wieder ans Amt
zurückgegeben habe und diese Praxis ab Januar 2005 unterlasse, kann ich
mich natürlich über eine Erhöhung meiner Bezüge freuen.
Da wir uns keine soziale Bewegung backen können, müssen wir
kritisch-solidarischen Bezug nehmen auf Leute, die die Schnauze voll haben vom
kapitalistischen Normalbetrieb und ihre Reproduktion nicht einem subjektlosen
Zwang unterordnen wollen. Es geht also um Vermittlung: weder Besserwisserei,
noch populistischer Massenansatz, noch Bewegungsbeschimpfung, sondern
gegenseitiges Ernstnehmen. Denn wer sagt schließlich, dass die
theoretisch reflektierten Linken nichts lernen könnten von einem, der
jahrzehntelang seiner Gewerkschaft mit umstürzlerischen Forderungen auf
den Nerv geht?
Man müsste darauf drängen, dass in dieser Bewegung die
Grundkategorien dieser Gesellschaft Wert, Ware, Geld, Arbeit, Staat
in Frage gestellt werden. Das haben wir als Wertkritische Kommunisten
versucht. Wir können keine greifbaren Erfolge vorweisen, doch wir werden
es wieder versuchen.
(Nebenbei: Warum es schlecht sein soll, wenn der durchaus vorhandenen deutschen
Staatshörigkeit möglichst viele Menschen Fuck Standort
Deutschland! entgegenschreien, konnte uns bisher auch noch niemand
erklären.)
Es hätte einige Erfolgsaussichten gehabt, innerhalb der Bewegung eine
Polarisierung herbeizuführen: die Arbeits- und Geldwahnsinnigen auf
einer, die Verteidiger des schönen Lebens auf der anderen
Seite.
In Leipzig aber beschäftigt man sich weiter mit Faschismustheorien, stellt
sich im Dienste des Aufbaus einer antideutschen Bewegung den
Montagsdemonstranten entgegen oder schreit in die kalte Winterluft, dass die
Klasse kein Vaterland hätte. Im Übrigen geht man relativ bald
studieren oder zwangsarbeiten. Da wird man dann andere spannende Theorien
rezipieren können, oder aber vor lauter Schufterei überhaupt nicht
mehr zum Lesen kommen. Die Klassenkämpfer werden weiter ins Blaue hinein
agitieren, d.h. an der Uni die Studenten und in der Fabrik das
postrevolutionäre Kleinbürgertum am Band zum revolutionären
Subjekt aufblasen.
Wie wärs damit, wenn man diese trübe Zwangsläufigkeit
durchbricht und sich der Realität in die Arme wirft, (sich),
wie Adorno sagt, hinlänglich mit der Sache ...
(ge)sättigt und endlich aufhört, einwandfrei sein
zu wollen?!
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