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Kultur-Report, 1.7k

Die Kultur des deutschen Widerstands


Wahrzeichen, keine Zeichen und Zeichen des Friedens


Pace-Fahnen, 28.5k Was im Sommer des letzten Jahres in der Dresdner Neustadt zu sehen war, hat verdutzt. Aus vielen Fenstern hingen sogenannte Pace-Fahnen und aus anderen weiße Bettlaken. Warum hingen erst jetzt – 60 Jahre zu spät! – Friedenszeichen aus dem Fenster? Wahrscheinlich hängen heute Friedenszeichen aus dem Fenster, gerade weil sie eben 1945 nicht aus den Fenstern hingen – weil man den „Imperialisten“ und „Kulturzerstörern“ heute wie damals Widerstand entgegensetzt.
Nun könnte erwidert werden, dass diese Friedenszeichen nicht gegen bestimmte Feinde gerichtet waren, sondern ganz allgemein für den Frieden rumhingen. Aber dagegen spricht die Empirie. Die Friedensdemos schwollen erst im letzten Jahr gewaltig an. Es fand die größte politische Demonstration in Deutschland seit 60 Jahren statt. 500.000 Leute gingen in Berlin gegen den Angriff der Briten und Amerikaner auf die Straße. In Leipzig fanden sich am Tag X 40.000 Leute zusammen, um gegen den britisch-amerikanischen Angriff auf den Irak zu protestieren – 100 mal mehr Leute als zu jener Demonstration, die einstmals in Leipzig gegen den Jugoslawienkrieg stattfand. Auch hingen 1998 fast keine Pace-Fahnen und weiße Bettlaken aus den Fenstern, als Deutschland einen Krieg gegen Jugoslawien führte. Diesen hatte übrigens Scharping mit der unglaublichen Lüge und ein paar Fotos, auf denen Tote zu sehen waren, begründete – man müsse, so Scharping, ein neues Auschwitz verhindern. Jedoch gab es über Scharpings geschichtsrevisionistische Riesen-Lüge in keiner Weise solch starke, verbreitete und anhaltende Empörungen, wie über Bushs mutmaßliche Lügen. Die deutsche Regierung, die für einen Krieg gelogen hat, ist weiterhin in Amt und Würden und nicht an ihren Lügen gescheitert. Übrigens sind laut hiesiger landläufiger Meinung die Amerikaner borniert und unmoralisch, weil sie den Krieg absegneten und sich von Bush belügen ließen.
Vor 60 Jahren wären Peace-Fahnen und weiße Bettlaken in den Dresdner Fenstern vielleicht sogar ein Akt des bewussten antifaschistischen Ungehorsams gewesen, mindest aber ein Akt der individuellen Selbsterhaltung, der in seiner Konsequenz antifaschistisch ist, da der gegen den nationalen Gemeinnutz den Eigennutz stark gemacht hätte. Doch 1945 gab es keinen Eigennutz mehr. Die Nazi-Parole „Gemeinnutz vor Eigennutz“ war längst schon in den großen Schlachten gegen die inneren und äusseren Feinde zur anerkannten Maxime geworden. Nur als Schicksalsgemeinschaft war es den Deutschen möglich, einen gewaltigen Krieg an allen Fronten, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte, und eine akribische und aufwändige Massenvernichtung, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte, durchzuführen. Nur als Schicksalsgemeinschaft verfällt man schließlich in den Wahnsinn, längst verlorene Schlachten bis zum letzten Blutstropfen durchzustehen.
Um nur zwei Beispiele zu nennen: Weder gab die sechste Armee in der schier aussichtslosen Lage im Kessel von Stalingrad auf, noch machte die Dresdner Bevölkerung während der Bombardierungen im Februar 1945 Anzeichen, die Heimatfront selbständig aufzulösen. Während die Sechste Armee durch die Sowjetunion marschierte und dabei nicht allein einen fanatischen Krieg führte, sondern auch die Vernichtung der Juden möglich machte und auch mit durchführte, lauschten die Deutschen an den Volksempfängern den Berichten von der Front gegen den jüdisch-bolschewistischen Feind und besorgten die Kriegsproduktion.
Dass die Deutschen währenddessen von der gezielten Ermordung von Juden, sogenannten Zigeunern und anderen wussten und teilweise auch direkt daran beteiligt waren, belegen Feldpost und andere Aufzeichnungen.
Während die 6. Armee gen Stalingrad marschierte, wurde in Dresden gearbeitet – z.B. im Rüstungsbau –, wurden Zwangsarbeiter bevormundet, antisemitische Filme im Kino geschaut, den Führeransprachen im Radio gelauscht, die ohne Umschweife den Krieg gegen die Juden betonten, und es wurden Feldpostbriefe gelesen. Bevor Dresden bombardiert wurde, saß die 6. Armee im Kessel von Stalingrad. Dort kämpfte man bis zum letzten Blutstropfen. Die Angebote der Roten Armee, das aussichtslose Blutvergießen durch die Aufgabe der eingekesselten Armee abzuwenden, wurden durch Paulus und Co. beharrlich ausgeschlagen. In den letzten Tagen der Schlacht, als die 6. Armee in Kleingruppen ohne Kommandostruktur zerfallen war, hissten die Soldaten kein weißes Unterhemd, sondern kämpften weiter.
In Dresden wusste man zum Zeitpunkt der deutschen Niederlage in Stalingrad, dass schon lange keine Erfolge mehr an der Front erzielt wurden. Und man wusste auch, dass keine Juden mehr in der Stadt waren. In der Dresdner Bevölkerung regte sich kein Widerstand. Eine solche Ordnung und der Krieg an zwei Fronten lässt sich nicht durch eine kleine bösartige Minderheit organisieren. Dazu braucht man Blockwarts, Hitlerjugendliche, Volkssturm-Opas, bündig-deutsche Mädels, zukünftige Trümmer-Frauen in den Munitionsfabriken, Lokal-Nachrichten-Schreiber, Polizisten und Lehrer.
Zwei Jahre nach dem Kessel-Fiasko bombardierten die Alliierten Dresden, um den innersten deutschen Verteidigungsring, den die Bevölkerung bildete, zu demoralisieren und somit den alliierten Bodentruppen einen halbwegs verlustarmen Einmarsch nach Deutschland zu ermöglichen. Doch in Dresden wurden trotz der Bombardierung weiter Nazi-Zeitungen gedruckt, die Verteidigung mit den Hitlerjungen organisiert und Behördenmitteilungen befolgt, statt mit weißen Bettlaken die Schicksalsgemeinschaft aufzukündigen und dem hoffnungslosen Kampf ein schnelleres Ende zu bereiten.
Die Dresdner der Gegenwart haben in einer stoischen Akribie und unermüdlichen Leistungsbereitschaft gezeigt, dass die Bombardierung irgendwie bewältigt werden muss: in den Körpern der Arbeiter der Faust und derer der Stirn und in ebenjenem Gebäude, was nun in alter Größe Dresden als Dresden markiert. Wurden in ganz alten Zeiten Kirchen um die Wette in die Höhe gebaut, obwohl grösste Armut herrschte, um der Größe Gottes Ausdruck zu verleihen und um einen Sieg über das Irdische zu erzielen, wird heute im Osten – dort, wo sonst seit Jahren abgebaut wird – ein Bauwerk wider die und wegen der Geschichte aufgebaut, um Selbstvertrauen zu gewinnen und gleichzeitig den Schmerz anzuzeigen – weniger ist die Frauenkirche ein Phallussymbol, mehr eine Prothese, die den Verlust nicht nur begleicht sondern auch repräsentiert.
Man stelle sich übrigens drei alte Soldaten vor, die im letzten Sommer Dresden besucht haben. Ein alter Brite, ein alter Amerikaner und ein ehemaliger Soldat der Roten Armee. Man stelle sich die drei vor, wie sie sich über die schmerzlichen Erfahrungen unterhalten, die sie an der Front gegen Deutschland im zweiten Weltkrieg gemacht hatten. Nachdem sie mitbekommen haben, welche Kraft und Zeit die Dresdner investierten, um die Frauenkirche wieder zusammenzupuzzeln, laufen die drei nun durch die Dresdner Neustadt und sehen plötzlich jene Bettlaken, die sie vor sechzig Jahren so ersehnt haben; die vor sechzig Jahren ein schnelleres Ende des Krieges bedeutet hätten. Und nun – im Sommer 2003 – hängen sie, diese Bettlaken – aber als Zeichen gegen die amerikanische und die britische Armee.

Hannes

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last modified: 28.3.2007