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Stimme der Kritik.


Marcel Reich-Ranicki - Ueber Literaturkritik, 18.6k
Marcel Reich-Ranicki
"Über Literaturkritik", DVA 2002
Ders. "Lauter Verrisse", dtv 2002
Darf ein großer Autor schlechtes Zeug schreiben? Selbstverständlich. Er darf so banal, so trivial schreiben, wie es im größten Teil des jährlichen Verlagsausstoßes ohnehin steht. Das Schöne an den schlechten Teilen der DDR-Literatur war doch, dass dort ausdauernd "zwischen den Zeilen" geschrieben wurde, d.h. sich die Pein der Lektüre um 30 bis 50 Prozent verkürzte. Da aber der Autor ein geschätzter ist, deshalb ist es einem nicht egal, deshalb bleibt der Kritiker nicht gleichgültig. Womöglich muss er deutlicher und sogar lauter werden als üblich.

Daraufhin wird der Kritisierte düpiert, gekränkt sein und sich gründlich missverstanden wissen: Der Kritiker habe nichts verstanden, das Lesen sei dessen Sache nicht. Mit Letzterem mag der Autor oft Recht haben, allein, der kluge Schreiber wird auf Retour verzichten. Schlimm für ihn nur, wenn sich unbestellte Epigonen, so in Form von Leserbriefautoren, auf den Weg machen. Wie jenes Exemplar in konkret aus dem links-alternativen Gartenlauben-Milieu einer Berliner Wochenzeitung, der selbst als Referierender so langatmiger wie uninformativer Kiezgeschichten gilt. Da werden gefühlsechte Aufwallungen dargebracht, die, dass haben derlei Emotionen so an sich, von keinem Argument belastet sind. Form und Inhalt seiner Belege, lassen die Montage aus falsch Verstandenem erkennen. Und als Resultat der Mitteilung bleibt die Formulierung, wonach die Kritiker "neue Schnösel" seien, von denen einer – wie sagt man auf Deutsch? – einen "Untext" vorgelegt habe.
Grundsätzlich galt einmal, die wesentliche Aufgabe der Kritik sei es, Nein zu sagen, nicht aber Politikberatung zu betreiben, etwa "konstruktiv-gestalterisch" oder ähnlichen hirnzerreißenden Unfug. In diesem Betrieb, in welchem es keinen schlimmeren Vorwurf gibt als den, nicht dazu zugehören, Neinsager zu sein, Fundamentalopposition und Blockadehaltung zu betreiben, im Elfenbeinturm zu sitzen usf., sind solche Vorwürfe, Vorwürfe gegen real nicht existierende Zustände. So gibt es wohl keine Tageszeitung mehr, die die Lüge als Wahrheit für sich beansprucht, "unabhängig" zu sein. Keines dieser Tendenzblätter, das so ehrlich wäre, sich als ein solches zu bezeichnen. Die Tendenz ist in erster Linie, den Anzeigenkunden zur vollen Zufriedenheit zu Willen zu sein. Für dieses ökonomische Ziel bedarf es den Käufer, den Abonnenten. Den Leser bedarf es nicht, er stört. Und so kommt es, dass selbst der Journalist, den man mal als einen Mensch mit funktionierendem Kopfinhalt kannte, heute nur noch Referent des Vorgegebenen der herrschenden Meinung und nicht mal mehr Berichterstatter verschiedener Ansichten zum Thema ist. Er betreibt, was seine Aufgabe nicht wäre, und was in dieser Gruppe der lohnabhängigen Beschäftigen als härteste wie vollkommenste Form der Kritik gilt, die Politikberatung. Selbst Karl Kraus’ Satz, wonach der deutsche Journalist nicht bestochen werden muss, es reiche ihn zum Essen einzuladen, wurde von der Banalität der Realität noch unterboten. Ein Lächeln des zweiten Unterstaatssekretärs in Richtung des Lokalreporters, das ist dessen höchstes Streben.
In der Literaturkritik, um zum Thema zu kommen, ist es ähnlich. Bücher werden nur mehr referiert und nacherzählt. Besprechung heißt das vollkommen zu Recht. Und so wird wohl bald das entstanden sein, was der Dr. Goebbels noch mit Gewalt zustande bringen musste, die Literaturbetrachtung. Darauf hingewiesen hat in seiner lautesten Sendung "Das literarische Quartett" anlässlich des Erscheinens von Günther Grass’ ganz furchtbaren Roman "Das weite Feld". Seitdem kann Grass von seinem Verlangen, dass nur noch der Inhalt des Buches zu referieren sei, nicht mehr Abstand nehmen. Unterstützung gab es von Martin Walser, der allen Ernstes behauptet, kein Antisemit zu sein, also nicht Walser zu heißen, der ob der Rezeption seiner letzten veröffentlichten Notizen den Kritikerstand für die Geißel des deutschen Schriftstellertums hält. Ja, Grass hat einmal "Das Treffen in Telgte" geschrieben, Walser die "Ehen in Philipsburg". Ja und?
Es ist gut, dass im Zusammenhang mit Walsers dumpfer Geistfeindlichkeit – das war eine notwendige Tautologie – die DVA Marcel Reich-Ranickis "Über Literaturkritik" veröffentlicht hat. Es handelt sich hier um eine Auskoppelung aus seinem Longseller "Lauter Verrisse" von 1970. Es ist dies eine kurze Geschichte der Literaturkritik in Deutschland und der Verachtung dieser Kunst. Dass MRR nicht viel von Literatur versteht – so erklärt er uns u.a. seit Jahren mit den immer selben falschen Textbausteinen den ganzen Brecht – konnte bei Michael Scharang in einem Anfang 2003 erschienen konkret-Heft nachlesen werden. Und wenn so ein Literaturpapst da ist, sind natürlich auch die Imitatoren nicht weit. Seit über zehn Jahren gehört derlei, weil eben das Argument wohl eine zu komplizierte Angelegenheit ist, zum Repertoire des Showbiz. Wer hat sie gezählt, die Vokal- und Körperakrobaten, die sich an ihm gütlich getan haben? Wie es auch nicht geht, hat der scheint’s erst durch sein Interview in der Jungen Freiheit für viele erkennbare gewordene Eckard Henscheid bereits vor knapp 20 Jahren in den "Erledigten Fällen" dargelegt. Neben den genauen Betrachtung, von denen die meisten MRR-Verächter aus der vierten Reihe heute noch leben, heißt es in "Unser Lautester" am Schluss: "Man muß es begrüßen. Nämlich ihn irgendwie mögen. Nicht nur dafür, daß er uns wohltätigerweise sein ganzes Leben lang nie mit seiner Getto-Vergangenheit belästigt hat – andere würden nimmermüd hausierengehend davon leben." Wie eine Kritik am Kritiker, gern auch Großkritiker, aber aussehen kann, hat Horst Tomayer in der Juni-Ausgabe 2002 von konkret mit der großen Kunst des Zitats gezeigt. In der Literaturkritik, heißt es im Vorwort der "Verrisse", ist oft "erst der Hintergrund, der geistesgeschichtliche, der gesellschaftliche und politische, der die jeweiligen Motive des Kritikers begreiflich macht, der sie rechtfertigt oder auch kompromittiert..." Zur Bestätigung dieser simplen Aussage eignet sich der Zitierte, sich oft zum Antitotalitarismus der leichteren Sorte Bekennende. Vier aufeinanderfolgende Sätze einer Rezension: "Da hören wir, daß sich die Familie Nasemann während des Krieges an der Nylon-Produktion bereichert hat. Nur daß es damals Nylon überhaupt noch nicht gab. Da wird das besagte Amt ‘Staatssicherheitsdienst’ genannt, obwohl es sich nicht in der DDR befindet, sondern in der Bundesrepublik." Man muss "der DDR" durchaus zu Recht allerlei und allerhand antisozialistischen Vergehen und beschämende Anleihen in der Geschichte vorwerfen. Ein Amt diesen Namens aber, dessen Abkürzung neckischerweise wohl SS oder SSD gewesen wäre, gab es zu keinem Zeitpunkt Dass heute mehrere Behörden und Hannah-Arendt-Institute nebst ihren ansonsten schwer vermittelbaren ABMaßnahmen von dieser Geschichtslüge leben, und das nicht schlecht, spricht nicht für deren Richtigkeit.
Und so hat MRR also doch Recht, es ist der von ihm benannte Hintergrund, der die Motive des Kritikers kenntlich macht und kompromittiert. Und so liest man den unbewusst selbstironischen vierten Satz des ZDF-Stars. "Das sind, zugegeben, unerhebliche Kleinigkeiten, Lappalien, bei denen man sich nicht aufhalten sollte."

Doch trotz aller Einwände gegen MRR, "jetzt muß ich nur noch sagen, warum ich dennoch keineswegs bedauere, ihn gelesen zu haben" (MRR) und warum ich die beiden Bücher trotz aller Einwände empfehle. Es ist der einleitende Essay ein guter historischer wie inhaltlicher Abriss zur Literaturkritik in Deutschland und deren Entgegnung. Der Quellenapparat macht eine weitere Vertiefung zum Thema leicht. Und wer hier erst einmal angefangen hat zu lesen, wird den Thrill, eine Mischung aus bis zum Jüngsten Gericht nötigen und wohl immer gleichen Gesellschaftspolitik sowie -kritik und Literatur bekommen, von dem er nicht mehr lassen kann. Und vielleicht entsteht daraus die notwendige Kritik der Kritik und ihrer Erschaffer .

Gunnar Schubert


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last modified: 28.3.2007