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Stein auf Stein, damals wie heute


„Der Aufwand hat sich gelohnt“, hat vermutlich auch der Baumeister von König Cheops gesagt, als er vor ca. 4 500 Jahren auf die zu einer großen Pyramide gehäuften 2,3 Millionen Steine blickte, die Cheops’ Grabstätte werden sollten. Vierhunderthausend Menschen haben an der königlichen Grabstätte zwanzig Jahre lang gebaut. Die Pyramide wurde aus religiösen Gründen zudem auf eine bestimmte Art und Weise nach den Himmelsrichtungen ausgerichtet, wofür extra noch mal im Vorfeld eine Konstruktion zur astronomischen Vermessung erbaut werden musste. Herodot, der griechische Geschichtsschreiber, stand 2 000 Jahre nach dem Bau vor der gigantischen Pyramide und war völlig baff. Der Zweck der Pyramide, Königsgrab zu sein, stand für ihn in keinem Verhältnis zu den aufgewendeten Mitteln. Auch Napoleon war überfordert und befahl seinen Truppen andächtig zu schweigen, als die Pyramiden sich vor ihnen erhoben: „Soldaten, vier Jahrtausende blicken auf euch herab“. Unvorstellbar auch für uns, wie Menschen auf so eine Idee kommen und diesen immensen Aufwand dann auch noch umsetzen. Doch der König, in den späteren Dynastien Pharao genannt, war angesehen als Gott, der vor den Naturgewalten schützte, also eine existentielle Funktion für Land und Leute inne hatte. Und ein solcher Glauben hat eben nicht nur fiktive, sondern auch reale Auswirkungen: beispielsweise Arbeit – man muß es so nennen. Die Arbeit für den König wurde von den verpflichteten Bauern nicht als Sklaverei, sondern als Tausch für die Verschonung durch Naturgewalten empfunden. „Der unerträgliche Schrecken wird durch das Äquivalent eines erträglicheren ersetzt.“ (Christoph Türcke, 2002, S.211)
Doch so unvorstellbar sollte uns das gar nicht vorkommen. Denn: auch heute muss man Opfer bringen. „Der Aufwand hat sich gelohnt“, ist eigentlich ein Satz aus dem Munde Robin Paul Weijers’, als sein Werk vollbracht, beziehungsweise alles umgefallen war. Dem Bauherren des Weltrekord-Domino-Parcours standen neunzig Leute aus acht Nationen acht Wochen lang arbeitend zur Seite. Sie stellten vier Millionen Steine mit einem Gesamtgewicht von 32 Tonnen aneinandergereiht so auf, dass am Ende möglichst alle umfallen sollten. Und die ganze Scheiße hätte man von vorne aufbauen müssen, wenn eine Person zu stark gehustet hätte. „Durch die Masse der verbauten Steine ist es in der Halle eng geworden. Eine falsche Bewegung und die Katastrophe ist perfekt“ (Weijers). Es hat zum richtigen Zeitpunkt geklappt, der Weltrekord ist perfekt. 3.847.295 Dominosteine sind – notariell bestätigt – am 15. November 2002 umgekippt. Und schön hat es ausgesehen wie 92 Minuten lang ein Motiv nach dem anderen erschien und die Aorta – so der der Humanbiologie entnommene Fachbegriff für die umkippende Dominosteinreihe – über Brücken, durchs Wasser und bergauf wanderte. Die Motive, die sich bildeten – die Steine waren auf den nach dem Fallen erscheinenden Seiten bemalt –, waren entweder Reminiszenzen an „andere“ Weltwunder, sozialpolitische Botschaften, also ehrwürdige Abbildungen von vom Aussterben bedrohte Tier- oder Menschenarten (z.B. irgendwelche Leoparden und z.B. Indianer), oder Werbungen, durch welche das Projekt, wofür eine riesige Halle gemietet wurde, sicher erst möglich geworden ist. Wofür das alles? Jeder der neunzig Leute, die nicht als Lohnarbeiter, sondern als Fans schufteten, hat acht Wochen lang Tag für Tag in der notwendigen gebückten Haltung Stein um Stein aufgestellt. Am Ende standen Einträge in irgendwelche Rekordbücher, saßen 12,63 Millionen Zuschauer vor dem Fernseher und die zuvor aufgestellten Dominosteine lagen. Diese Mühe kann wohl nicht mehr als Spiel oder Spaß, sondern nur als Produktion erklärt werden, an deren Ende der Fetisch Ware den Alptraum der Arbeit in den Traum ihres Verkaufs verwandelt. Schön ungewollt symbolisch karikiert dabei das Zusammenstürzen der aufgestellten Dominosteine den Sinn eines grotesken gesellschaftlichen Zustandes. Da guckt man am Fernseher genüsslich zu, wie tausend Stunden mühevoller Verausgabung menschlicher Kräfte in neunzig Minuten umsonst werden. Und in der Halle selber schauen die Aufbauer zu, wie ihre mühevoll verausgabte Handarbeit Stein für Stein in sich zusammenfällt. Leistungssport pur: Man läuft im Stadion Runde für Runde, um irgendwann am Ziel, von dem man, als es noch Start hieß, losgelaufen war, völlig kaputt und feiernd angekommen zu dürfen. Der ästhetische und freudige Genuss, der am Ende der Dominosteinaufstellarbeit stand, kann wohl mit dem verglichen werden, den Sisyphus immer dann erlebte, wenn er zusah, wie sein Stein abermals den Berg hinunterpurzelte. Wer an dieser Stelle glaubt, Tätigkeit könnte doch auch Spaß machen und Sinn stiften, meint eigentlich, dass diejenigen, die in wochenlanger monotoner Aufstellarbeit ihren Spaß gefunden haben, zumindest eins gelernt haben: jede Arbeit in dieser Gesellschaft ist annehmbar. Wenn der alte Grieche Herodot in die Zukunft gereist wäre, wäre er wohl ein zweites Mal baff gewesen. Der Zweck der Steine – in Reih und Glied umzufallen – stände für ihn in keinem Verhältnis zu den aufgewendeten Mitteln, um sie aufzubauen.
Man hätte dem Griechen Herodot wohl schwerlich erklären können, dass in der kapitalistischen Gesellschaft Arbeit eine besondere Art Selbstzweck geworden ist, nämlich Ideologie. So wie er den Fetisch des Pyramidenbaus nicht in Gänze hatte nachvollziehen können, weil er das zwanghafte Verhältnis zur ersten Natur – Schocks durch Hunger, Überschwemmungen etc. – nicht in den zu Zeiten der alten Ägypter wirkenden Ausmaßen begreifen konnte, so würde er auch nicht die verrückt gewordene Herrschaft der zweiten Natur – die kapitalistische Gesellschaft – verstehen. Sowohl die Pyramiden, als auch kapitalistische Arbeitsprodukte sind Fetische; „sinnlich übersinnliche Dinge“ (Marx). Und so war es wohl kaum ein Zufall, dass im Domino-Parcours auch eine riesige Pyramide aus Dominosteinen in sich zusammenbrach: Ähnliches entdeckt sich im Ähnlichen wieder.
Übrigens haben Robin Paul Weijers & Co. jetzt zum fünften mal den eigenen Weltrekord überboten. Jedes Jahr wieder, das erinnert doch sehr an einen weisen Spruch aus alter DDR-Zeit, in der ja die Dynamik des Kapitals ungebremst ihr Unwesen trieb: „Bau auf, reiß nieder, hast du Arbeit immer wieder.“

Euer Sportfreund Hannes


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last modified: 28.3.2007