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review corner Buch, 1.8k

Die DDR am Ende d. 19. Jahrhunderts


Edward Bellamy, 14.5k

Es hat wahrscheinlich selten ein Buch mit politischem Inhalt gegeben, dass sowohl in den Vereinigten Staaten als auch im real existiert habenden Sozialismus gleichermaßen positiv rezipiert wurde. Doch die angeblich sozialistische Utopie des US-amerikanischen Autors Edward Bellamy „Ein Rückblick aus dem Jahre 2000“ hat genau das geschafft. Interessanterweise scheint der Autor bereits 1888 die DDR vorwegzunehmen, jedenfalls fühlt mensch sich an vielen Stellen im Buch sehr stark an die eigene DDR-Vergangenheit erinnert und trotzdem ist das Buch seit seiner Veröffentlichung in den USA nie „out of print“ und noch dazu ein Bestseller gewesen.

Edward Bellamy, der auf einer Reise nach Deutschland 1868 das erste Mal mit sozialistischen Gedankengut in Kontakt kam, gab seine einträgliche Anwaltstätigkeit aus „Protest gegen den Mißbrauch der Klassenjustiz in den USA auf“(1), um Journalist und freier Schriftsteller zu werden. Neben einer Reihe von Aufsätzen und Erzählungen veröffentlichte er auch einige Romane, die diesen Namen allerdings nicht wirklich verdienen. Denn obwohl er in dem Vorwort zu „Ein Rückblick aus dem Jahre 2000“ verspricht, eine belehrende Ausdrucksweise zu vermeiden, gleicht das Buch eher einem politischen Manifest oder einer Ansammlung von Vorlesungen, umrahmt von einer klassischen Liebesgeschichte, die mit der Heirat der beiden Liebenden endet, als einem Roman. Der Erzähler Julian West, der eigentlich in den von „Arbeiterunruhen“ heimgesuchten USA des ausgehenden 19. Jahrhunderts lebt, schläft aufgrund einer fehlgeschlagenen Hypnose, mit deren Hilfe seine Schlaflosigkeit therapiert werden sollte, 113 Jahre und erwacht erst 2000 wieder. Er erkennt Boston zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum wieder, denn in einem Zeitraum von ein wenig mehr als hundert Jahren hat sich sowohl das Stadtbild als auch das Gesellschaftssystem grundlegend verändert. Er bekommt nun die geschehenen Veränderungen von der Familie, die ihn aus diesem Schlaf erweckt hat, allerdings hauptsächlich vom männlichen Familienoberhaupt Dr. Leete, genau erklärt und stellt stellvertretend für die LeserInnen kritische Fragen, um sich letztendlich voll und ganz von dem neuen gesellschaftlichen System überzeugen zu lassen und zu einem glühenden Verfechter zu werden.
Das erste, was ihm nach seiner Ankunft in dem neuen Zeitalter auffällt, ist natürlich die äußere Erscheinung der Stadt. Neoklassizistische Architektur und jede Menge Parks, sowie das Fehlen jeglicher industrieller Orte der Produktion (es werden ausschließlich Waren- und Lagerhäuser gezeigt) zeichnen das Stadtbild aus. Hier wird bewusst oder unbewusst auf eine ländlich-idyllische Vergangenheit rekurriert, die von den unschönen Auswirkungen der Industrialisierung, wie sie nicht nur für Boston im ausgehenden 19. Jahrhundert charakteristisch waren, nicht betroffen ist. Somit erhält der Titel des Buches neben der wortwörtlichen Bedeutung des Rückblicks aus dem 21. auf das 19. Jahrhundert noch einen zweiten Sinngehalt, nach dem eine Vision eine verloren geglaubte Vergangenheit für die Zukunft fruchtbar machen will.
Wirklich interessant wird es jedoch bei den Ausführungen über die vorgestellte Wirtschaftsordnung der USA zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Bellamy, übrigens der erste US-amerikanische Schriftsteller, der in der DDR verlegt wurde, beschreibt detailliert die Organisation der Wirtschaft und der Arbeit. Diese Darstellung ist eine Mischung aus Prinzipien, die eindeutig dem Kapitalismus entnommen sind, und solchen, die Ideen der jungen sozialistischen Bewegung in Europa sind. Obwohl „Ein Rückblick aus dem Jahre 2000“ immer wieder eine sozialistische Utopie genannt wird, sind die verwendeten Begriffe nicht einem sozialistischen Vokabular entlehnt und die Versuche von Kapitalismusanalysen eigentümlich bis vollkommen falsch.(2)
Der Staat ist in Bellamys Utopie der einzige verbliebene Kapitalist, dem alle wirtschaftlichen Bereiche untergeordnet sind, jedwede Konkurrenz ist ausgeschaltet, alle BürgerInnen erhalten Gutscheine, die alle auf ein und die selbe Höhe gezeichnet sind, Geld ist abgeschafft. Trotzdem funktioniert die Wirtschaft höchst effizient, die Arbeiter und Arbeiterinnen sind in getrennten „Arbeitsheeren“ organisiert und werden mit jeder Menge Auszeichnungen (u.a. Abzeichen in Silber und Gold) und Aufstiegsmöglichkeiten zum Arbeiten animiert. Eine Beförderung ist zwar nicht mit einem größeren „Verdienst“ verbunden, allerdings muss man erst alle Schichten durchlaufen haben, um ein politisches Amt bekleiden zu können. Die beschriebene Gesellschaft ist eine Arbeitsgesellschaft par excellence, in der „das Recht jedes einzelnen auf seinen Platz am Tische der Nation [einzig auf] der Tatsache beruht..., dass er ein Mensch ist und der Gemeinschaft gibt, was er zu geben vermag.“ (Hervorhebung d. A.) Denn all denjenigen, die sich der allgemeinen Arbeitspflicht entziehen, drohen harte Strafen. Und das Wahlrecht erhält man auch erst, nachdem man eine bestimmte Stufe im Arbeitsheer erreicht hat. Bellamy benutzt ausschließlich Begriffe aus dem Militär, um die Effektivität und die gute Organisation der ArbeiterInnenschaft zu beschreiben und sieht sich genötigt, immer und immer wieder zu betonen, wie effizient und leistungsfördernd die US-amerikanische Gesellschaft im 21. Jahrhundert ist, obwohl sich eigentlich kein Vorteil aus (Mehr)Arbeit ergibt.
Er erklärt außerdem ausführlichst, dass und warum das Wirtschaftssystem nicht nur aus moralischen oder ideologischen Gründen dem Konkurrenzkapitalismus vorzuziehen ist, sondern auch rein rechnerisch ein jeder kluger Kopf zu dem selben Schluss kommen müsste. Sein Beharren auf der Effizienz des beschriebenen Wirtschaftssystems bzw. dessen Produktion ähnelt auf verblüffende Weise dem erst noch folgenden Taylor- bzw. Fordismus. Warum das Buch sowohl in der DDR als auch in den USA ein Erfolg wurde, wird deutlich, wenn mensch sich vor Augen hält, dass es sich bei der beschriebenen Gesellschaft um eine elitäre Gesellschaft handelt, die es vermag, sich durch straff organisierte und genau geplante Produktion selbst am Leben zu halten. Sie verbindet sozialistische Gedanken mit den vermeintlichen Vorzügen des Kapitalismus. Effizienz ist das höchste Gut und anders als in vielen anderen (frühen) sozialistischen Utopien ist diese keine asketische, luxusfeindliche Gesellschaft, sondern es haben alle die Möglichkeit, frei und individuell zu konsumieren, was ihr Herz begehrt. Auch das Leistungsprinzip ist noch nicht völlig abgeschafft, denn obwohl alle für ihre Arbeit gleich „entlohnt“ werden, handelt es sich hierbei nicht um eine Art Existenzsicherung unabhängig vom Nutzen der jeweiligen Person für die Nation, sondern ist daran geknüpft, dass alle „ihr Bestes leisten“, allerdings mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass die „Entlohnung“ eben gerade nicht an das, was dann tatsächlich „geschafft“ wird, gebunden ist und nicht Arbeitsfähige ebenfalls besagte Gutscheine erhalten.
Besonders beim (Bildungs-)Bürgertum in den USA des ausgehenden 19. Jahrhunderts, welches den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen gegenüber ein diffuses Unbehagen empfand, und natürlich bei politisch Bewegten fand das Buch großen Anklang. Es gründeten sich zahlreiche sogenannte „Bellamy-Klubs“, die mit Hilfe von Vorträgen, Flugblättern und Broschüren versuchten, Bellamys Ideen zu verbreiten. An einer daraus entstandenen Nationalisierungsbewegung beteiligten sich vorwiegend Kleinbürgerliche. Ihre zentrale Forderung war die Verstaatlichung ganzer Industriezweige, damit sollte dem „fortschreitenden Monopolkapitalismus“ Einhalt geboten werden.
Der alles durchdringende Nationalismus in Bellamys „Ein Rückblick aus dem Jahre 2000“, der allerdings nur den männlichen Teil der Bevölkerung einbezieht, denn nur Männer besitzen das Wahlrecht, macht u.a. deutlich, dass Bellamy ein Kind seiner Zeit ist. 1888 besaßen Frauen in den USA nämlich noch kein Wahlrecht. Es finden sich allerdings doch einige Ideen der Frauenbewegung der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in dem Buch wieder: So sind Frauen der Hausarbeit entledigt, diese wird fast vollständig öffentlich organisiert und sie haben das Recht auf Lohnarbeit, wenn auch in anderen Berufen als Männer. Interessant ist hier jedoch der Gegensatz zwischen den theoretischen Abhandlungen zur Stellung der Frau und den zwei weiblichen Charakteren, die in dem Buch vorkommen. Mensch sieht diese beiden nie lohnarbeitend, sondern sie werden als Ehefrau, Mutter bzw. Tochter und zukünftige Ehefrau eingeführt. Sie sind es auch, die dem Erzähler nach seiner Ankunft im 21. Jahrhundert zum Einkaufen (!) mitnehmen und moralischen, psychologischen Beistand leisten. Die Tochter der gastgebenden Familie ist es dann auch, in die sich Julian West verliebt und die maßgeblich für seine Integration in die ihm zunächst völlig fremde Gesellschaft verantwortlich ist. Die Heirat ist dann auch Ausdruck der geglückten Einbindung in das neue gesellschaftliche System. Neben der Funktion, die die weiblichen Charaktere in dem Roman ausfüllen, ist die Liebesgeschichte wahrscheinlich maßgeblich aus rein ökonomischen Gründen einbezogen worden, um den Pamphlet-Charakter dieses Werkes – wenn auch nur ungenügend – zu verschleiern.
Blaubeere

Fußnoten:
(1) Zitat aus dem Klappentext einer Reclam-Ausgabe des Werkes von 1980.
(2) In den Anmerkungen der Reclam Ausgabe von 1980 wird mehrere Male Clara Zetkin mit dem Hinweis, dass Bellamy kein „wissenschaftlich durchgebildeter Sozialist“ sei, zitiert.

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last modified: 28.3.2007