home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt
[86][<<][>>]

Am 5. April findet im Tomorrow-Café (Braustr. 20, 19:00, nur für Jugendliche) eine Veranstaltung zur „Geschichte der Ausländerpolitik“ der Antirassistischen Gruppe Leipzig statt.

Der Vortrag kann durchaus im Zusammenhang mit der Veranstaltung zu „Einwanderungsdebatte, Verwertungslogik und den Bedingungen linksradikaler Politik“ am 1. März betrachtet und besucht werden. Denn anhand eines historischen Abrisses über die Ausländerpolitik, das Recht auf politisches Asyl und Entstehung von Arbeitsmigration wollen wir veranschaulichen, inwieweit die (deutsche) Ausländerpolitik von Kontinuitäten und Diskontinuitäten geprägt ist. Von den Anfängen der Arbeitsmigration in Zeiten der Kolonialpolitik und dem damit einhergehenden Sklavenhandel, dem Entstehen der Nationalstaaten, als Grundlage dafür, dass von Fremden und Einheimischen gesprochen wurde, über die deutsche „Anwerbungspolitik“ von ausländischen Arbeitskräften zu Beginn des ersten Weltkrieges als Zwangsarbeiter und in den 50er Jahren dann als „Gastarbeiter“: ein Blick in die Geschichte verdeutlicht, wie sich Motive und Argumentationsmuster beim Thema Ausländerpolitik gleichen.

An dieser Stelle dokumentieren wir einen Ausschnitt aus dem Buch „Europa in Bewegung – Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ von Klaus Bade (C.H. Beck: 2000) der einen detaillierteren Einblick in die Politik der Ausländerbeschäftigung in Preußen zur Jahrhundertwende, dem Beginn der gezielten Ausländerbeschäftigung in Deutschland, bietet. Die ausländerpolitischen Parallelen zur Anwerbepolitik der Bundesrepublik sind unverkennbar.

Ausländerbeschäftigung, Staatsräson und Sicherheitspolitik

Der Sonderfall Preußen

Die kontinentale Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte umfaßte nach amtlichen Schätzungen 1914 ca. 1,2 Millionen Arbeitskräfte im Reich, wobei von diesen <Deutschlandgängern> 70–80% <Preußengänger> waren. Die sicherheitspolitischen Erwägungen der antipolnischen <<preußischen Abwehrpolitik>> waren bestimmt durch die Angst vor dem nicht zu erstickenden Traum preußischer, russischer und österreichisch-ungarischer Polen von der Auferstehung eines polnischen Nationalstaats. Das war 1885 der Hintergrund für die Massenausweisung ausländischer Polen aus den preußischen Grenzprovinzen und das anschließende Zuwanderungsverbot. Der katastrophale Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft des preußischen Ostens nötigte seit dem Ende der 1880er Jahre dazu, nach einer Lösung zu suchen, die die ökonomischen Interessen befriedigen sollte, ohne die sicherheitspolitischen zu gefährden. Es ging darum, den nötigen Arbeitskräftezustrom aus dem östlichen Ausland nicht zur Einwanderung geraten zu lassen, sondern in den Bahnen einer transnationalen Saisonwanderung zu halten. Ergebnis war das seit Anfang der 1890er Jahre in Preußen entwickelte Kontrollsystem zur Überwachung und Steuerung auslandspolnischer Arbeitskräfte und zur Aufrechterhaltung ihrer transnationalen Fluktuation. Es wurde 1907 abgeschlossen mit der Übertragung seiner Funktionen auf die halbamtliche <Preußische Feldarbeiterzentrale>, die später <Deutsche Arbeiterzentrale> hieß. Sie hatte für Preußen das Zulassungsmonopol (<Legitimationsmonopol>), vermittelte ausländische Arbeitskräfte aber auch in andere Bundesstaaten. Das preußische System zielte nur auf die auslandspolnischen Arbeitskräfte. Es wurde aus Gründen der statistischen Kontrolle aber – ohne die damit verbundenen Restriktionen – bis zum Weltkrieg schrittweise auf alle ausländischen Arbeitskräfte in Preußen ausgedehnt. Das preußische System ging unter den Stichworten <Legitimationszwang> und <Rückkehrzwang> in der winterlichen <Karenzzeit> in die Geschichte von Arbeitsmarktpolitik und Ausländerrecht in Preußen-Deutschland ein: Legitimationszwang bedeutete verschärfte Ausländerkontrolle bei befristeten und jährlich neu zu beantragenden Arbeits- und Aufenthaltsgenemigungen. Der nur für auslandspolnische Arbeitskräfte gültige Rückkehrzwang bedeutete Pflicht zur Rückkehr ins Herkunftsgebiet während der winterlichen Sperrfrist (<Karenzzeit>) vom 20. Dezember bis zum 1. Februar. Sie konnten sich dieser Pflicht nur bei illegaler Beschäftigung oder dadurch entziehen, daß sie während der winterlichen Sperrfrist in andere deutsche Bundesstaaten auswichen. Bei den – nur bedingt erfolgreichen – Bemühungen Berlins, das preußische System auch anderen Bundesstaaten anzuempfehlen bzw. geradezu aufzunötigen, ging es darum, solche Ausweichmöglichkeiten zu beschneiden. Der Rückkehrzwang wurde nicht nur nach Staatsangehörigkeit (Russen) bzw. Nationalität (Polen), sondern auch beruflichsozial gezielt auferlegt: Er galt generell für die niedrigsten Qualifikationsstufen, also für Landarbeiterinnen und Landarbeiter und für un- bzw. angelernte Arbeitskräfte außerhalb der Land- wirtschaft, nicht hingegen für <Kopfarbeitcr> oder Werkmeister mit festem Gehalt, ebensowenig für verschiedene Gruppen von hochspezialisierten Arbeitskräften und einzelne Gruppen von Dienstboten mit Dienstbüchern. Legitimationszwang und Zwangsrotation bedeuteten für die auslandspolnischen Arbeitswanderer Mobilität und Immobilität zugleich: Mobil gehalten durch den jährlichen Rückkehrzwang, wurden sie auf dem Arbeitsmarkt in Preußen zugleich durch den Legitimationszwang immobilisiert; denn die <Legitimationskarte>, der einzig gültige Inlandsausweis der ausländischen Arbeiter, enthielt zwei Namen: den des Arbeitnehmers und den seines deutschen Arbeitgebers, an den der Ausländer für die Zeit seiner Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung bei Strafe der Ausweisung gebunden blieb. Einseitige Kündigung durch die Arbeitswanderer war im Vertrag nicht vorgesehen. Auslandspolen wurden ohnehin nur als einzelne Arbeitskräfte, nicht aber im Familienverband zugelassen. Kinder hatten jenseits der preußischen Ostgrenzen zu bleiben. Männer und Frauen wurden in den Arbeiterkolonnen getrennt. Schwangerschaft war ein Ausweisungsgrund bei Rücktransport auf eigene Kosten. Zu den zeitlichen Aufenthaltsbeschränkungen kamen noch die schon erwähnten räumlichen und branchenspezifischen Beschäftigungsbeschränkungen, Ergebnis der Verschränkung von Legitimations- und Rückkehrzwang war das einer Fieberkurve ähnliche Bild der jährlichen Arbeitswanderung über die preußisch-deutschen Reichsgrenzen im Osten mit ihrem Steilanstieg im Frühjahr, ihrem Höhepunkt in der sommerlichen Hochsaison und ihrem Steilabfall zu Beginn der winterlichen Sperrfrist. Zu dieser Zeit verwandelten sich die im Frühjahr trotz aller politischen Skepsis aus wirtschaftlichen Gründen willkommen geheißenen auslandspolnischen Arbeitskräfte alljährlich in <lästige Ausländer> im Sinne des Fremdenrechts, denen polizeiliche Abschiebung drohte, wenn sie nicht freiwillig heimkehrten. Seit der Einführung des Legitimationszwangs und der Stärkung der Preußischen Feldarbeiterzentrale bei der Rekrutierung und Vermittlung ausländischer Arbeitskräfte nahmen Auslandsrekrutierung und Inlandsvermittlung in Preußen festere Formen an: Wie die Zentrale berichtete, koordinierte sie die von ihren reisenden Arbeitsmarktbeobachtern und ausländischen Vertragsagenten aus den <Rekrutierungsgebieten> überbrachten Einschätzungen über die <<voraussichtlichen Verhältnisse auf dem ausländischen Arbeitsmarkt>> mit den Ergebnissen der Beratungen mit Landwirtschaftskammern, Arbeitgebern und Arbeitgeberverbänden über die voraussichtliche Bedarfslage im Inland. Auf dieser Grundlage stellte die Zentrale alljährlich ihre allgemeinen <Bedingungen für den Bezug> ausländischer Arbeitskräfte für das Frühjahr auf. Sie sandte diese Bedingungen zusammen mit den entsprechenden <Auftragszetteln> an die verschiedenen, für die Inlandsvermittlung zuständigen Verteilerstellen oder direkt an die jeweiligen Arbeitgeber. Die zurücklaufenden <Auftragszettel> wurden den ausländischen Vertragsagenten zugestellt, die die Auslandsrekrutierung über ihr Netz von Subagenten und Vertrauensleuten, Werbern, Schleppern und Vorarbeitern bzw. Kolonnenführern anlaufen ließen. In Galizien arbeitete die Zentrale zudem noch mit dem öffentlichen Arbeitsnachweis, dem Ruthenischen Fürsorgeverein und den mit dem Ruthenischen Nationalkomitee kooperierenden Geistlichen zusammen. ...
Viele Bereiche der Wirtschaft in Deutschland und insbesondere der Landwirtschaft in Preußen wurden vor dem Ersten Weltkrieg immer abhängiger von ausländischen Arbeitskräften. Von den Beschäftigungsbeschränkungen für Auslandspolen in nichtlandwirtschaftlichen Erwerbsbereichen in Preußen abgesehen, unterlagen sie keinerlei Beschränkungen. Trotz aller antipolnischen Reglementierung innerhalb der Landesgrenzen gab es in Preußen strikte Anweisungen an Landratsämter und Gendarmerie, die dringend nötige Zuwanderung als solche auf keinen Fall zu behindern. Die antipolnischen Maßnahmen am Arbeitsmarkt sollten vielmehr so gehandhabt werden, daß sie den Behörden im russischen Kongreßpolen und im österreichischen Galizien keinen Anlaß böten, die Zuwanderung zu beschränken. Deswegen war die antipolnische <Abwehrpolitik> ein doppelter Balanceakt – zwischen den widerstreitenden ökonomischen und politischen Interessen in Preußen und gegenüber den östlichen Ausgangsräumen, die im Jargon des Vermittlungsgeschäfts <Rekrutierungsgebiete> hießen. Dabei konkurrierten, von den <Selbststellern> abgesehen, lange vier verschiedene Formen der Rekrutierung: 1. die private Arbeiteranwerbung für den Eigenbedarf, 2. die kommerzielle Anwerbung und Vermittlung, 3. die Tätigkeit der von Landwirtschaftskammern eingerichteten <Arbeitsnachweise> (<Kammernachweise>) und 4. die Anwerbung, Vermittlung und <Legitimation> ausländischer Arbeitskräfte durch die halbamtliche Preußische Feldarbeiterzentrale, die 1907 das <Legitimationsmonopol> in Preußen erhielt. Um die Jahrhundertwende griff der Konkurrenzkampf auf die <Rekrutierungsgebiete> im östlichen Ausland über. Private Beauftragte preußischer Arbeitgeber, kommerzielle Agenten sowie Agenten von Kammernachweisen und Feldarbeiterzentrale suchten sich dort gegenseitig Arbeiter und Kontrakte abzujagen. Hinzu kam, daß im östlichen Ausland nicht nur deutsche mit ausländischen Rekrutierungsagenten konkurrierten, sondern auch mit Auswanderungsagenten der großen Transatlantiklinien. Wachsende Proteste von Regierungsstellen der <Rekrutierungsgebiete> gegen die ausländische Einmischung ins Arbeitsmarktgeschehen forcierten die Bemühungen der preußischen Regierung um transparente Strukturen bei der Rekrutierung und Vermittlung <ausländischer Wanderarbeiter> – die, wie erwähnt, in der Landwirtschaft vorwiegend aus Frauen bestanden. Durch die Übertragung des <Legitimationsmonopols> auf die Preußische Feldarbeiterzentrale wurden diese transparenten Strukturen schließ1ich ab 1907 erreicht. Das auf beiden Seiten vielbeklagte, weil oft betrügerische <Agentenunwesen> aber wurde dabei nur im Interesse preußisch-deutscher Arbeitgeber, nicht hingegen im Interesse ausländischer Arbeitnehmer eingeschränkt. Bei ausländischen Arbeitsnachweisen und Regierungsstellen wuchs vielmehr die Beunruhigung über Vertrauensleute und Vertragsagenten der Arbeiterzentrale und deren An- bzw. Abwerbepraktiken. Das ließ den Konflikt um die Auslandsrekrutierung auf deutscher Seite in den Hintergrund, die internationale Auseinandersetzung um die gleiche Frage aber um so mehr in den Vordergrund treten. ...
Die Agenten profitierten gleich mehrfach vom Vermittlungsgeschäft: Sie kassierten Vermittlungsgebühren nicht nur von den Arbeitgebern, sondern nicht selten auch von den durch Vorschüsse in Abhängigkeit gehaltenen Arbeitswanderern. Sie verdienten, sofern sie zugleich als Kolonnenführer arbeiteten, zusätzlich an der <Lohnverwaltung> häufig gleich mehrerer Arbeiterkolonnen und behielten dabei mitunter bis zur Hälfte der Arbeitslöhne ein. Vor dem Weltkrieg kam in Galizien auch die Bewegung der <Selbststeller> mit festen Wanderungstraditionen stärker in Gang. Die ruthenischen und polnischen Arbeitskräfte bewegten sich dabei auf Routen, an die sie sich unter der Regie von Vermittlern, Schleppern und Agenten gewöhnt hatten, in der Absicht, der Ausbeutung durch die kommerziellen <Blutsauger> wenigstens bis zur Grenze zu entgehen. Im Gegensatz zur Lage im österreichischen Galizien war im russischen Zentralpolen die gewerbsmäßige Arbeitsvermittlung bei Strafe verboten. Ausländischen Agenten war offiziell der Weg über die Grenze versperrt. Deswegen standen hier von Anbeginn die <Selbststeller> im Vordergrund. Aber auch ihre Bewegung blieb, von den Grenzdistrikten mit ihren traditionell eingeschliffenen Formen der transnationalen Pendelwanderung im Nahbereich abgesehen, durchaus nicht sich selbst überlassen. Handzettel von Vertrauensleuten wiesen den Weg zu den Grenzämtern bzw. zu den an der Grenze wartenden Agenten. Die Bewegung dieser <Selbststeller> im russischen Grenzraum hatte lange eine schwer kalkulierbare, auf beiden Seiten mit Argwohn beobachtete Eigendynamik. Deswegen auch war, wie die Preußische Feldarbeiterzentrale berichtete, <<die ganze Grenze besetzt mit einer dichten Postenkette von Arbeitgebern, Agenten, Aufsehern, Vorarbeitern, die jeden ankommenden Arbeiter sofort beim Grenzübertritt in Empfang nehmen und ihn mit allen Mitteln der Überredung und Bestechung für sich zu gewinnen>> suchen>>. Dieser Tag und Nacht lauernden Postenkette entging, im Gegensatz zur Grenzgendarmerie, keine Bewegung. Das war oberstes Geschäftsprinzip; denn gerade die russisch-polnischen Arbeitskräfte passierten, wegen des teuren und oft willkürlich gehandhabten Paßzwanges auf russischer Seite, die Grenze häufig illegal, um nach Ablauf von Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung wiederum <<auf Schleichwegen und bei Nachtzeit>> zurückzukehren. Das wiederum bedeutete, daß die Posten ständig ihre Position zu wechseln hatten: Es war bekannt, <<daß je nach der Handhabung der Grenzpolizei durch die russische>> Beamten bald hier, bald dort, bei Tag und bei Nacht, durch Sumpf und Wasser, auf Straßen und ohne Weg und Steg die Arbeiter über die Grenze strömen. Orte, durch welche im Vorjahre noch Tausende zogen, liegen heute öde und verlassen da, und statt dessen tauchen dort, wo weit und breit kein Haus und kein Weg vorhanden ist, plötzlich immer neue Trupps von Arbeitern auf, von denen kein Mensch weiß, wie sie über die Grenze gekommen sind>>. Ein hohes Maß an Transparenz im transnationalen Wanderungsgeschehen war für beide Seiten von Interesse: für die preußischen sicherheitspolitischen Erwägungen und für das russische Interesse am Lohngeldtransfer. Auch durch den Legitimationszwang nicht zu dämpfen war das Mißtrauen russischer Regierungsstellen, daß die transnationale Arbeitswanderung nur der Vorbereitung überseeischer Auswanderung dienen oder gar jenseits der russischen Grenzen direkt in überseeische Auswanderung übergehen könnte. Das hätte zu einer dauerhaften Destabilisierung des Angebots an billiger landwirtschaftlicher Arbeitskraft in Zentralpolen führen können: Lange hatte das Überangebot an Arbeitskraft die Löhne auf dem landwirtschaftlichen Arbeitsmarkt in Zentralpolen niedrig gehalten. ...
Entsprechend niedrig lag die Lebenshaltung: Hauptnahrungsmittel waren Kartoffeln und Kohl, Fleischgenuß blieb Festtagen vorbehalten. Dieser Standard, den polnische Arbeitswanderer zunächst auch in Preußen hielten, entsprach durchaus demjenigen der von Weber beschriebenen armbäuerlichen preußisch-polnischen <<Kartoffeln konsumierenden Kleinstellenbesitzer>> in den preußischen-polnischen Grenzgebieten. Das war der Grund, weshalb Weber, wie erwähnt, davon ausging, daß durch die Konkurrenz der auf <<niedrigem Kulturniveau>> stehenden auslandspolnischen zwar die preußischen, nicht aber die preußisch-polnischen Arbeitskräfte <<verdrängt>> würden – mit dem Ergebnis einer fortschreitenden <<Polonisierung des Ostens>>. In den 1890er Jahren schlug die Auswanderung aus Zentralpolen zur sozialen Massenbewegung um: Bis 1900 waren allein rund 300000 Menschen definitiv ausgewandert, wobei neben der Amerika-Auswanderung auch das vor allem 1892/93 (40000 russische Polen) grassierende <Brasilienfieber> eine Rolle spielte. Erst das Anschwellen von überseeischer Auswanderung und kontinentaler Arbeitswanderung zu Massenbewegungen ließ in den 1890er Jahren die Tagegeldlöhne auf dem freien landwirtschaftlichen Arbeitsmarkt in Kongreßpolen deutlich steigen: 1904 wurden in grenznahen Gouvernements, in denen die in den 1890er Jahren stark wachsenden Wanderungsverluste den saisonalen Zusatzbedarf an freier landwirtschaftlicher Arbeitskraft gefährdeten, saisonale Spitzenlöhne bis zu 88 Kopeken (1,90 Mark) geboten. Auch saisonale Lohnsteigerungen indes vermochten transatlantische Auswanderung und kontinentale Arbeitswanderung nicht mehr zu bremsen, zumal beide Massenbewegungen bereits Wanderungstraditionen mit transatlantischen Netzwerken ausgebildet hatten. Vereinzelte Versuche der russischen Regierung, die Arbeitswanderung nach Deutschland zu erschweren und zu beschränken, dämpften die Bewegung, vom Kriseneinbruch 1907/08 abgesehen, nur geringfügig und kurzfristig. Nicht nur die immcr wieder anklingende, aber erst unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs zur akuten Gefahr geratende <russische Drohung>, sondern auch das stete, irritierende Tasten der russischen Seite nach dem Grad der Abhängigkeit der deutschen und vor allem der preußischen Agrarproduktion von ausländischer Arbeitskraft wurden in Berlin mit größter Besorgnis aufgenommen: Im Preußischen Landesökonomie-Kollegium wurde 1906 offen ausgesprochen, <<daß durch eine Verhinderung oder Beschränkung des Zugangs ausländischer Wanderarbeiter der Landwirtschaft fast das Todesurteil gesprochen werden würde>>. Eine eigens eingesetzte Studienkommission bestätigte: <<Ein Ausbleiben der ausländischen Wanderarbeiter stellt die Volksernährung in Frage.>> Über die Lage in der Montanindustrie im preußischen Osten meldete auch der Regierungspräsident im oberschlesischen Oppeln 1911, <<daß die oberschlesische Industrie tatsächlich ohne ausländische Arbeiter ihre Betriebe nicht aufrechterhalten kann>>. Es werde <<in den arbeiterimportierenden Staaten noch auf lange Zeit hinaus für die Arbeitgeber das brennende Bedürfnis bestehen, aus dem Ausland Arbeitskräfte heranzuziehen>>, umschrieb Frhr. von dem Bussche-Kessel, Direktor der Feldarbeiterzentrale, 1910vor der Budapester Konferenz der Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereine über die <Organisation des Arbeitsmarkts> allgemeinhin diesen Sachverhalt, um dann in eigener Sache klar zu bekennen: <<Für uns als importierenden Staat liegt ein absolutes Bedürfnis vor, Arbeiter aus dem Ausland zu bekommen – das kann ruhig ausgesprochen werden, denn die Tatsachen beweisen es.>> Die Budapester Konferenz von 1910 war nach vorausgegangenen, vergeblichen Bemühungen ein neuerlicher Versuch, zu einer internationalen Abstimmung über die konfliktreichen Fragen von Arbeitsmarkt und Arbeitswanderung zwischen Ausgangs- und Aufnahmeländern zu kommen. Auch dieser nur auf die Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereine eingeschränkte Verständigungsversuch scheiterte an unüberbrückbaren Interessengegensätzen. Erst in der Zwischenkriegszeit sollten die neuen internationalen Organisationen eine tragfähigere – wenn auch im Ergebnis ebenfalls nur bedingt ertragreiche – Grundlage für internationale und bald auch weltweite Verhandlungen über das internationale Wanderungsgeschehen bieten. Die Einschätzung, die antipolnischen preußischen Aufenthalts- und Beschäftigungsbeschränkungen der Vorkriegszeit seien direkte Vorläufer der <modernen> Migrationspolitik der Zwischenkriegszeit gewesen’, ist falsch und richtig zugleich. Falsch ist diese Einschätzung, wenn dabei an die konfliktreiche Verbindung zwischen Förderung von Arbeitgeberinteressen durch Ausländerzulassung und Schutz einheimischer Arbeitskräfte gegen ausländische Lohnkonkurrenz gedacht wird; denn das preußische System kannte – im Interesse an der Bewältigung des von Arbeitgebern allenthalben beklagten Arbeitskräftemangels – in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg weder Zuwanderungbeschränkungen an der Grenze noch Inländervorrang am Arbeitsmarkt. Es war außerdem in seiner ausschließlich antipolnischen Stoßrichtung sicherheitspolitisch, aber nicht protektionistisch oder arbeitsmarktpolitisch motiviert. Richtig ist der Gedanke an eine preußisch-deutsche Vorreiterrolle hingegen im Blick auf die organisatorische Erfahrung mit – wenn auch erst halbstaatlichen – Systemen von Ausländerkontrolle sowie von Aufenthalts- und Beschäftigungsbeschränkungen. Diese Erfahrung sollte später arbeitsmarktpolitisch nützlich werden. Die Voraussetzung dazu bildete die Fortentwicklung der regionalen <Arbeitsnachweisverbände>, die in Preußen-Deutschland schon seit den 1890er Jahren entstanden waren, zu der öffentlichen Arbeitsverwaltung, die im Ersten Weltkrieg ihren entscheidenden Modernisierungschub erhielt. Aber erst als nach dem Krieg das überkommene System der Ausländerkontrolle mit dem neuen System der modernen Arbeitsverwaltung unter dem Inländerprimat zusammengeschlossen wurde, war der Übergang zu der protektionistischen Arbeitmarkt- und Migrationspolitik der Zwischenkriegszeit vollzogen.
Klaus Bade



home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt |
[86][<<][>>][top]

last modified: 28.3.2007