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Das im folgenden dokumentierte Flugblatt wurde vom Bündnis gegen Rechts (BgR) anlässlich des Nazi-Aufmarsches am 03.11.2001 in Leipzig verteilt.

Times are changing...

Aus gegebenem Anlass und angesichts des Unverständnis’ vieler gegenüber der „Untätigkeit“ des BgR im Moment eines Naziaufmarschs in Leipzig eine kurze Klarstellung unserer Position zu Naziaufmärschen.

Am 3. November haben die freien Kameradschaften durch Christian Worch nach ihrem Debakel vom 1. September erneut eine Demonstration in Leipzig angemeldet. Im Gegensatz zu ihrem letzten Aufmarsch wird dieses Mal das BgR Leipzig nicht zu Gegenaktivitäten aufrufen. Dies soll allerdings nicht heißen, dass wir uns an Naziaufmärsche gewöhnt haben oder uns daran gewöhnen wollen. Wir sind aber der Auffassung, dass es eine falsche Strategie für linksradikale Politik darstellt, jedem x-beliebigen Naziaufmarsch hinterher zu rennen.

Die Nazis

Die organisierte Naziszene befindet sich zur Zeit in einer Regression. Es gelingt ihnen nicht mehr, bei bestimmten Themen Stichwortgeber und Vorreiter für gesellschaftliche Diskurse zu sein. Der Regierungswechsel 1998 von der damaligen konservativen Regierung Kohl zu rot-grün und deren „Berliner Republik“ hat dazu maßgeblich beigetragen. Mittlerweile werden rassistische Progrome nicht mehr dazu benutzt, eine rigidere Ausländerpolitik fahren zu können. Im Gegenteil: es war die neue rot-grüne Regierung, die die härtesten Spitzen rassistischen Verhaltens bekämpfte und den Antifaschismus zur offiziellen Politik erklärte. Über die Gründe, warum dies geschieht, darf zwar gestritten werden, doch ist es Fakt, dass mittlerweile ein harter Repressionskurs gegen Naziorganisationen und ihre Mitglieder gefahren wird. Dies hat dann auch seine Wirkung auf die Naziszene, angefangen bei der täglichen Meldepflicht für militante Nazikader über Repressionen auf Demos bis hin zu Verboten von Organisationen wie beispielsweise der Skinheads Sächsische Schweiz. Aus diesen Gründen erklärt sich auch, warum die Nazis auf gesamtgesellschaftlicher Ebene eine marginalisierte Rolle spielen (wie übrigens ähnlich die radikale Linke). Das gilt allerdings nur mit der Einschränkung auf den urbanen Raum; in ländlichen, provinziellen Gegenden ist nach wie vor zutreffend, dass die Nazis eine massive Bedrohung für MigrantInnen und Linke darstellen. In dieser Situation spielen die Nazis keine große gesellschaftliche Rolle (außer zur identitätsstiftenden Abgrenzung). Die innere Zerstrittenheit und die drohende Repression wirken dem auch nicht entgegen und so schätzen wir die derzeitige Situation eher als Abwehrkampf ein. Ein guter Indikator dafür sind die immer schlechter besuchten Aufmärsche der letzten zwei Jahre. Selbst bei einem so hochbrisanten Thema wie der Demonstration gegen das Holocaustmahnmal konnten sie lediglich 500 Leute mobilisieren – was selbstverständlich immer noch 500 zuviel sind.
Die gesellschaftliche Außenwirkung solcher Aktionen tendiert dementsprechend gegen Null.

Die gesellschaftliche Wirkung von Gegenaktivitäten

Der derzeitige Versuch von PolitikerInnen und JournalistInnen mittels der Kampagne gegen Rechts das Image Deutschlands aufzupolieren, ist dabei erfolgreicher als sich viele AntifaschistInnen vielleicht eingestehen mögen. Das Projekt Zivilgesellschaft ist dabei maßgeblich ein Kind der amtierenden Regierungskoalition. Sie will als eine gesellschaftliche Gruppe, die aus der 68er Bewegung kommt, für sich reklamieren, Deutschland nachträglich entnazifiziert zu haben. Deutschland soll fit gemacht werden für die Herausforderungen der Zukunft als „normalisierter“ Staat, der sich von seiner nationalsozialistischen Vergangenheit befreit hat. Um Deutschland an das westliche Wertemodell anzupassen, war eine grundlegende „Zivilisierung“ der Gesellschaft und des Staates vonnöten. In Leipziger Volkszeitung, 25.0kdiesem Sinne sind die Reformvorhaben der rot-grünen Regierung zu verstehen. Sei es die Novellierung des Staatsbürgerschaftsrechts oder das zivilgesellschaftliche Engagement gegen Nazis – Ziel ist es, Deutschland als moderne Großmacht zu etablieren. Ein wesentliches Element der Zivilgesellschaft ist ihr Engagement gegen Nazis. Einerseits ist es ehrliches Interesse – gelten doch Nazis als unmenschlich und damit gesellschaftlich nicht tragbar. Andererseits sind pöbelnde, brandschatzende und mordende Nazis dem Ansehen Deutschlands in der Welt schädlich. Zudem wird von diesen das Gewaltmonopol des Staates in Frage gestellt.
Die BürgerInnen des Landes sollen sich im staatlich erlaubten Rahmen gegen Nazis engagieren, wenn sie denn in größerer Zahl irgendwo auftauchen, und der Staat versucht, Naziparteien und -vereine zu verbieten. Anstatt Nationalismus zu verwerfen, wird ein alternatives nationales Projekt forciert. Der Versuch, einen sogenannten „Verfassungspatriotismus“, der sich aus einem Bekenntnis zu den universalistischen Werten des Westens speist, zu forcieren steht dem völkischen Begriff der Nation, wie in beispielsweise die Nazis propagieren, diametral entgegen. Die Gesellschaft kann gut und gerne auf die prügelnden faschistischen Horden verzichten, da sie viel subtilere Mittel in petto hat, um ihre rassistischen Interessen durchzusetzen. Genannt seien nur die technisch und personell hochgerüstete Absicherung der deutschen Ostgrenze durch den BGS, die Ausweitung polizeilicher Befugnisse in Richtung verdachtsunabhängiger Kontrollen, Abschiebehaft als staatliches full-time-Überwachungskonzept und die ökonomischen Verwertbarkeitskriterien für den Zuzug von MigrantInnen. Während „nützliche“ EinwanderInnen durch die Zwänge des Kapitalismus, der eben nicht mal an der deutschen Grenze halt macht, benötigt werden, fallen die „unnützen“ (Flüchtlinge) heraus und werden demokratisch legitimiert abgeschoben. Dieses innenpolitische Projekt hat sein Pendant in der Remilitarisierung deutscher Außenpolitik. Während die Regierung Kohl Einsätze der Bundeswehr gegen massiven innenpolitischen Widerstand durchsetzen musste, können unter der rot-grünen Regierung sogar out-of-area-Einsätze ohne nennenswerten Widerspruch diskutiert werden. So wurde Belgrad eben nicht trotz, sondern wegen Auschwitz bombardiert. In dieser Situation des zivilgesellschaftlichen Antifaschismus wäre eine unreflektierte Gegenmobilisierung nur einem dienlich, nämlich der Präsentation eines „anderen“ Deutschlands.

Fazit

Zu aufreibend erscheint uns das ständige Hinterherfahren gegen kleinste Naziaufmärsche, bei denen auch immer seltener Erfolge erzielt werden. Das Mobilisierungspotential hierfür hat auch auf antifaschistischer Seite erheblich abgenommen. Daher plädieren wir für eine sinnvolle Einteilung der Mobilisierungsfähigkeit. Sinnvolle Kriterien für Gegenmobilisierungen sind für uns zum einen die erwartete Größe einer Nazidemonstration (die mit etwas Recherche relativ genau geschätzt werden kann) und zum anderen die Wirkungsmächtigkeit auf gesellschaftliche Diskurse. Des weiteren muss erkannt werden, dass gerade das Engagement der radikalen Linken im Bereich Antifa bestehende Perspektiven verbaut. In der derzeitigen Situation einer existentiellen Schwäche bedarf es statt weitgehend sinnloser aktionistischer Praxis eines Diskussionsprozesses über Möglichkeiten antikapitalistischer Praxis. Die Strategie der meisten linksradikalen Antifagruppen, nämlich Naziaufmärsche zu verhindern, ist dem nicht dienlich. Im Kontext dieser Erwägungen halten wir es ebenfalls für sinnvoll, vom Konzept des „revolutionären Antifaschismus“ Abschied zu nehmen und zuzugehen auf den dringend fälligen Diskussionsprozess. Einer möglichen Neukonstituierung und damit einhergehenden Perspektiven radikaler Gesellschaftskritik stünde ein Antifakonzept, das gegen jeden Naziaufmarsch mobilisiert, massiv im Weg. Dies soll nicht die gesamte Praxis der Antifa in den 90ern diskreditieren oder der Nazibekämpfung in ländlicheren Gegenden die Legitimation absprechen. In vielen Gegenden ist es noch Notwendigkeit Bedingungen zu schaffen, unter denen sich eine Linke überhaupt konstituieren kann. In den urbanen Zentren aber eine massive Bedrohungssituation herbeizureden ist ein Verkennen der Tatsachen.

Aus Obengenanntem folgt für uns, nichts gegen den Aufmarsch am 3. November zu unternehmen, da wir nicht glauben, dass hieraus eine Wirkung auf gesellschaftliche Diskurse entwickelt wird, weder für die Nazis, noch für uns. Im Gegenteil, ist die geplante Demonstration ja eher als eine Art Trotzreaktion auf die „gescheiterte“ Demonstration vom 1. September zu sehen. Verstärkend kommt hinzu, dass im Moment keine nennenswerte Mobilisierung der Nazis stattfindet. Deshalb plädieren wir dafür, am 3.11. auszuschlafen und sämtliche Kräfte der ohnehin marginalisierten radikalen Linken darauf zu verwenden, eine Organisation zu schaffen, die als Plattform für die überfälligen Diskussionsprozesse über Strategien und Möglichkeiten antikapitalistischer Praxis dienen muss.

Für eine linksradikale Diskussion und Organisation!

BgR Leipzig, November 2001
www.nadir.org/bgr



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last modified: 28.3.2007