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LeserInnenbrief:

zu Ralfs wachsender Überheblichkeit gegenüber alternativen Lebensweisen und antirassistischen Initiativen

Die Kritik der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, der Versuch ein diesbezügliches Problembewusstsein zu schaffen, die politische Praxis, mittels derer versucht wird, diese Verhältnisse, die geprägt sind durch Arbeitszwang, Unterdrückung, patriarchalische und rassistische Strukturen, zu überwinden, ... sind grob umrissen die vereinenden Momente einer diffusen (ernstzunehmenden) antikapitalistischen Linken. Mögen auch Art und Weise der Praxis, soweit Praxis überhaupt noch als Mittel akzeptiert wird, sehr verschieden und heftig diskutiert sein.
Ein Plädoyer für den Versuch des selbstbestimmten Lebens, auch unter dem bestimmenden Antlitz des Kapitalismus tut not. Besonders unter dem Gesichtspunkt Ralfs wachsender Überheblichkeit und Abwertung, der u.a. alternative Lebensweisen, antirassistische Initiativen, „Reclaim the streets“-Bewegungen und sonstige undogmatische Linke (und hier meine ich nicht irgendwelche Pseudo-linken Spinner wie Linksruck, Gewerkschaften, PDS-Teile) ausgeliefert sind.
Die haben alle nicht die Wahrheit erkannt, mh?! Ihr seid armselige „Linksradikale“, besonders „Wertkritiker“, „Theoretiker“!!!
Nicht abtrennbar von einer politischen Sphäre ist die private, ist der politische Anspruch im Umgang miteinander (sei es in politischen Gruppen oder zwischenmenschlichen Beziehungen anderer Art etc.).
Antipatriarchalische, -sexistische, -rassistische, konkurrenzlose und soweit wie möglich hierarchiefreie Elemente ins eigene Leben einzuflechten ist für mich beinahe Voraussetzung für politisches Agieren. Dass es keine „Insel der Seeligen“, nicht in der Linken und nicht anderswo geben kann, ist klar. Dass durch Ausrichten der eigenen Lebensweise nach emanzipatorischen Grundsätzen gesellschaftliche Verhältnisse (konkret benannt: kapitalistische, verwertungsorientierte, ausbeuterische, patriarchalische, ...) nicht umgestürzt werden können, dass wir alle durch dieses Herrschaftssystem geprägt sind und werden, ebenfalls. Ein „autonomes, richtiges Leben im falschen“ ist systemimmanent unmöglich, doch Visionen können wunderschön, motivierend sein und können – soweit wie möglich gelebt – Alternativen wenigstens ansatzweise anschaulich und erlebbar machen.
„...Wenn es kein richtiges Leben im falschen gibt, dann können wir uns auch in unser Gärtlein zurückziehen und Tomaten pflanzen. (...) Mit der Orientierung am Telos von Freiheit und Gleichheit selbst in dürftigen Zeiten, lässt sich das alltägliche gesellschaftliche Zusammenleben zwangloser und menschlicher gestalten. Es geht dabei aber nicht nur um das richtigere Leben unter den Zwängen des Kapitalismus. Dadurch wird zudem die Möglichkeit neuer Aufbrüche bewahrt, in denen der Mensch sein Leben in die eigenen Hände nimmt und für sein freies Glück kämpft.“ (Johannes Agnoli)
Ein emanzipatorischer Standpunkt wird zur Farce, wenn der Anspruch, ihn auf die eigene Lebensweise zu übertragen, verworfen wird. Genau diese Tendenzen erkenne ich in der sog. radikalen Linken.
Ich erlebe, und dies ist schmerzlich, eine verkommerzialisierte, entindividualisierte, uniformierte, rassistische und vor allem kleinbürgerliche!!! „linksradikale“/post-autonome Szene. Dies äußert sich in unreflektiertem, überheblichem Umgang miteinander, Sexismus, Körper/Kommerzkult, höhnische Abwertung aller linken Strömungen, die nicht der jeweiligen Linie entsprechen. Dies ist vollkommen unglaubwürdig (vor allem in bezug auf politische Äußerungen und Handlungen).
„Eine Organisation, die um die Emanzipation zu erzielen, sich eine hierarchische Struktur gibt, wird unmöglich dieses Ziel erreichen. Eine politische Organisation, die eine Gesellschaft der Freien und Gleichen will, in ihrer eigenen Organisation aber weder Freiheit noch Gleichheit kennt, sondern nur Hierarchie und Befehlsstrukturen, die wird dieses Ziel nie erreichen.“ (Johannes Agnoli)
Die Integration außerhalb der Szene stehender AktivistInnen scheint nur mehr möglich durch Durchlaufen einer Art Kaderschmiede. Nur wer im politischen Diskurs steht, hat eine Chance auf Beteiligung, neue oder abweichende Ideen haben keine Chance. Das ist klar und deutlich Elitenbildung.
Ich plädiere für die Reflektion und die Kritik der bestehenden Verhältnisse, plädiere dafür, sie zu formulieren und damit ins Gespräch mit möglichst vielen (anpolitisierten) Menschen zu kommen; mit den Menschen, die bei einer Umwälzung der kapitalistischen Verhältnisse die AkteurInnen sein können.
Unmöglich erscheinen mir in diesem Zusammenhang Floskeln wie „Kapitalismus abschaffen, es lebe der Kommunismus“. Diese Parolen implizieren in technokratischer Manier einen unreflektierten Dogmatismus. Unliebsames wird eben „abgeschafft“ und eine konstruierte Systemalternative, die sich eine Splittergruppe erdenkt und die emanzipatorischer Elemente scheinbar entbehrt, wird als Zukunftsvision dagegengestellt. Absurd!!! Es soll sich also wiederholen: eine Avantgarde konstruiert das, was für alle gut sein soll. Den Prozess der Emanzipation stelle ich mir anders vor. Er funktioniert eben nur mit und nicht gegen Menschen. Und dazu ist ein LEBEN der politischen Ansprüche, in meinen Augen, ein geeignetes Mittel.
„In einem kritischen Handeln muss man immer die Bruchsituation erkennen, in die man sich hineinbegeben kann. ... es geht darum, dass man sieht, jetzt entsteht eine Bruchsituation, die nicht nur Ideen und Prinzipien betrifft, sondern Lebensbedingungen von Millionen Menschen...“ (Johannes Agnoli)
luna


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last modified: 28.3.2007